Wie wir Kippfiguren sehen können
Andrea Anna Reichenberger, Konstanz, Deutschland

Abstract

At the beginning of the 20th century Gestalt psychology tried to clarify how objects like the “vase of Rubin” or the “duck-rabbit” are recognized in an image. In the course of the renaissance of Gestalt theory these pictures were rediscovered by cognitive and computer sciences. One example is Haken’s computer model for the simulation of the gestalt switch, i.e. how perception changes when we first see one object and then another. It is disputed whether this simulation actually corresponds to our perception process. With Wittgenstein in mind, one might ask: “Do you see the duck-rabbit like this?” And one could answer: “This is a question of the language-game you play!”

Table of contents

1. Kippfiguren als Gegenstand der Wahrnehmungsphysiologie

Wer kennt nicht die Kippfiguren wie den Hasen-Enten-Kopf oder die Vase von Rubin? Ein Kopf erscheint entweder als Hasen- oder als Entenkopf, je nachdem, wie man ihn sieht. Oder man sieht, wie im Falle der Rubinvase, entweder eine weiße Vase vor schwarzem Hintergrund oder zwei sich zugewandte schwarze Gesichter vor einem weißen Hintergrund. Kippfiguren heißen deshalb so, weil das, was man sieht, plötzlich in etwas anderes Gesehenes „umkippt“. (Abb. 1. u. 2.)

Abb. 1. Hasen-Enten-Kopf


Abb. 2. Vase von Rubin



Die Gestalttheorie war eine der ersten Richtungen der experimentellen Psychologie, die sich mit der Frage beschäftigte, wie Objekte in einem Bild erkannt werden. Bedingung für die Möglichkeit, ein Objekt in einem Bild erkennen zu können, ist die Unterscheidung von Figur und Hintergrund. Figur und Grund können nicht beide zusammen und zugleich wahrgenommen werden. Der gestalttheoretischen Auffassung zufolge wird eine Figur immer als eine vor dem Hintergrund liegende „Gestalt“, als „organisierte Ganzheit“ wahrgenommen.

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Mit dieser holistischen Grundthese hob sich die Gestalttheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen einen elementaristischen Strukturalismus und Reduktionismus ab. Mit den Neuro- und Kognitionswissenschaften, insbesondere mit konnektionistischen Netzwerkmodellen in der Hirnforschung und der Künstlichen Intelligenz, erfährt die Gestalttheorie heute eine Renaissance. In Rückbesinnung auf die Gestalttheorie wird Wahrnehmung als komplexer, selbstorganisierender, emergenter und holistischer Vorgang aufgefasst und „Gestalt“ als „Ganzheit“, die sich bei der Wahrnehmung spontan organisiert.

In der Tradition der Gestalttheorie steht auch die vom Physiker Hermann Haken begründete Synergetik, eine Theorie komplexer Systeme, die wörtlich so viel wie „die Lehre vom Zusammenwirken“ heißt (vgl. griech. synergein: zusammenwirken). Im Rahmen seiner Untersuchungen zu den neurophysiologischen Grundlagen der Wahrnehmung hat Haken ein Computermodell zur Simulation des Gestaltwechsels bei Kippfiguren entwickelt.

Seine Theorie folgt dem Paradigma einer naturalistisch-physikalistisch orientierten Neuroinformatik, die Wahrnehmungsprozesse als sensorische Informationsverarbeitungen interpretiert, in deren Verlauf durch Aktivitätsausbreitung in einem neuronalen Netz Muster entstehen, die eine dynamische Repräsentation des Rechenergebnisses darstellen. Im besagten Fall wird das Umkippen von Vase – Gesicht bzw. Gesicht – Vase als ein Phasensprung von einem stabilen Attraktor in einen anderen in einer Potentiallandschaft mathematisch beschrieben und interpretiert.

Hakens Modellvorschlag für den Gestaltwechsel, d.i. ein Algorithmus für Mustererkennung, basiert auf der entscheidenden Präsupposition, dass die Ursache des Gestaltwechsels die Ermüdung bzw. das Sinken der Aufmerksamkeit ist. Ein Grund dafür, dass wir Objekte erkennen und identifizieren können, ist die bei der Wahrnehmung erfolgende Selektion von Umweltreizen, die ihrerseits von der Aufmerksamkeit abhängt. Ob man z.B. einen Hasen oder eine Ente sieht, hat damit zu tun, welche Bildbereiche fixiert bzw. auf welche Bildstellen „der Blick gerichtet“ wird. Schon der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler sah einen Zusammenhang zwischen Gestaltwechsel und Aufmerksamkeit. Erklärt ist damit aber nicht, was „Aufmerksamkeit“ heißt.

Dass im Rahmen des synergetischen Computermodells mathematische Größen als Aufmerksamkeitsparameter bezeichnet werden, denen von Programmiererhand Referenzmuster – entsprechend den möglichen Bildinterpretationen (z.B. Vase und Gesicht) – zugeordnet werden, bietet allenfalls eine Interpretationshilfe für das mathematische Modell. Doch auch Haken weiß den Begriff der Aufmerksamkeit nur mit einer sehr vagen Metapher zu umschreiben: „Die Aufmerksamkeit wirkt sozusagen wie ein innerer Suchscheinwerfer, der immer wieder neue Bewußtseinsinhalte beleuchtet.“ (Haken et al. 1992, 211)

Laut neuerer neurophysiologischer Untersuchungen ist Aufmerksamkeit ein äußerst komplexes „Phänomen“, dem eine Vielzahl von „Mechanismen“ des Zentralnervensystems zugrunde liegt. Bei aller Betonung von „Komplexität“ liegt dieser Sichtweise eine sehr spezielle Auffassung von „Aufmerksamkeit“ zugrunde: Aufmerksamkeit ist „mechanischer Natur“ und daher (nur) auf der Basis mechanischer Modelle (zur selektiven Reiz- und Informationsverarbeitung) bestimmbar.

Dieses Verständnis von Aufmerksamkeit stimmt nicht mit dem alltäglichen überein. In unserem Alltag wird der Begriff der Aufmerksamkeit in einem umfassenderen, vieldeutigen Sinne verwendet. „Ist das Auffallen Schauen + Denken? Nein. Viele unserer Begriffe kreuzen sich hier.“ (Wittgenstein 1984, 549) Man denke z.B. an Begriffe wie „Absicht“, „Intention“, „Interesse“, „Motivation“, „Konzentration“, „Wille“ u.v.m. Als eines wird der Begriff der Aufmerksamkeit aber – im doppelten Sinne des Wortes – nicht gebraucht: als mechanischer Begriff. „Nur“ ein Sprachproblem?

2. Kippfiguren als Gegenstand der philosophischen Untersuchungen Wittgensteins

Eine Kippfigur wie den Hasen-Enten-Kopf können wir „einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“ (Wittgenstein 1984, 519) Um dies zu verdeutlichen unterscheidet Wittgenstein zwei Begriffe des Sehens: „Und ich muß zwischen dem ‚stetigen Sehen’ eines Aspekts und dem ‚Aufleuchten’ eines Aspekts unterscheiden.“ (Wittgenstein 1984, 520)

Im ersten Fall fällt es dem Betrachtenden gar nicht auf, dass beim Sehen des Hasen-Enten-Bildes mehrere Sichtweisen möglich sind. Auf die Frage, was er sieht, würde der Betrachter des Bildes antworten: „Ich sehe einen Hasen.“ Oder: „Ich sehe eine Ente.“ Der Betrachter wäre sich nicht dessen bewusst, dass es sich bei dem Bild um ein Kippbild handelt.1 Das heißt: Für ihn wäre das Bild einfach nur ein Bild.

Anders im zweiten Fall, dem „Aufleuchten eines Aspekts“, d.i. der Moment des „Umschlagens“ des Gesehenen von einer Figur zur anderen. Nicht das ist das Problem, dass man einen Hasen-Enten-Kopf entweder als Hasen oder als Ente, aber nicht etwa als Schildkröte sehen, man also nicht alles Beliebige „in ein Bild hineinsehen“ kann, sondern das plötzliche Bemerken des Aspektwechsels. Es ist ein „Seherlebnis“.2

Ebenso wenig wie man den Übergang von einen Hasen- in einen Entenkopf selbst sehen kann, ist das unmittelbare „Aufleuchten“ eines Aspekts mitteilbar, aber bemerkbar und ausdrückbar. Der Ausdruck des Erlebnisses ist in solchen Fällen ein Ausruf: „Jetzt ist es ein H“! (Wittgenstein 1984, 522) Der Ausruf ist „ein Ausdruck der Wahrnehmung und des Seherlebnisses. […] Er verhält sich zum Erlebnis ähnlich wie der Schrei zum Schmerz.“ (Wittgenstein 1984, 524)

Für Wittgenstein ist die Frage des Aspektwechsels eine Frage der Fähigkeit, „etwas als etwas zu sehen“. Denjenigen, dem diese Fähigkeit abgeht, nennt Wittgenstein „aspektblind“. Aspektblindheit ist mit Farbenblindheit oder mit „dem Mangel des ‚musikalischen Gehörs’“ vergleichbar. (Wittgenstein 1984, 552) Der Aspektblinde vermag zwar in dem Sinne ein Bild „einmal so und einmal so zu sehen“, dass er auf die Frage, was er sieht, sagen könnte: „Das ist ein Hase.“ Oder: „Das ist eine Ente.“ Es würde für ihn aber nicht der eine „Aspekt in den anderen überspringen“, so dass er ausriefe: „Ah, jetzt sehe ich es als …!“ Der Aspektwechsel kann nur vom Sehenden erlebt werden. Er zeigt sich (uns) durch sein Staunen.

„In allen jenen Fällen kann man sagen, man erlebe einen Vergleich. Denn der Ausdruck des Erlebnisses ist, daß wir zu einem Vergleich geneigt sind, zu einer Paraphrase. Es ist ein Erlebnis, dessen Ausdruck ein Vergleich ist. Aber warum ein ‚Erlebnis’? Nun, unser Ausdruck ist ein Erlebnisausdruck. – Weil wir sagen ‚ich sehe es als …’, ‚ich höre es als …’? Nein; obwohl diese Ausdrucksweise damit zusammenhängt. Sie ist aber berechtigt, weil das Sprachspiel den Ausdruck zu dem eines Erlebnisses macht.“ (Wittgenstein 1989, 70)

3. Kippfiguren lassen sich auf verschiedene Art und Weise betrachten

Wittgenstein geht es nicht um die Frage, wie sich der Gestaltwechsel von einen in den anderen Gehirnzustand vollzieht. Wenn wir eine Kippfigur betrachten und das „Aufleuchten“ eines Aspekts durch einen Ausruf zum Ausdruck bringen, dann sind Fragen der Art „Was geht dabei in meinem Bewußtsein vor?“ irrelevant. „Darauf kommt’s gar nicht an. Was immer vorging, war nicht mit jener Äußerung gemeint. Interessanter ist, was dabei in meinem Benehmen vorging.“ (Wittgenstein 1984, 561)

Im Gegensatz zu Wittgenstein, der das Hasen-Enten-Bild als Beispiel gebraucht, um auf die elementare Rolle des „Bedeutungserlebens“ aufmerksam zu machen, wenn Menschen bemerken, dass es mehr als nur eine Sicht der Dinge gibt, kommt es Neurophysiologen wie Haken gerade auf eine Klärung der Frage an: „Was passiert aber bei der Mustererkennung?“ (Haken et al. 1996, 157) Das heißt, um herauszufinden, „wie Kognition ‚funktioniert’“, richtet Haken sein Interesse nicht wie Wittgenstein auf den alltäglichen Sprachgebrauch, sondern auf „Gehirnmodelle [insbesondere] für die Sehwahrnehmung von Menschen“. (Haken et al. 1996, 157) Und wenn Haken behauptet, dass „unser Gehirn diese Kippfiguren“ auf eine dem synergetischen Computeralgorithmus analoge Weise „behandelt“, folgt er einer Sprechweise, die sich inzwischen in Neuroinformatik und Neurobiologie fest etabliert hat: „Ein Gehirn erkennt …, ein visuelles System interpretiert …, ein Netz lernt … etc.“

Heißt das aber, dass es keinen Unterschied macht, ob es das Gehirn ist, das denkt, oder wir Menschen mit dem Gehirn, ob wir von einem Netz oder von einem Kind sagen, es lernt? „Nicht das Auge sieht, sondern der Mensch mit seinen Augen.“ „Nicht das Gehirn denkt, sondern der Mensch mit seinem Gehirn.“ „Nicht der Computer rechnet, sondern der Mensch mit dem Computer.“ Man könnte meinen, dass wir zumindest so reden müssten, um zum Ausdruck zu bringen, dass Menschen und nicht dem Gehirn, einem einzelnen Sinnesorgan oder einem Artefakt wie dem Computer die Rolle eines Handelnden und entsprechend Fähigkeiten wie Sehen und Denken, Lernen und Verstehen zuzuschreiben sind. Kinder sind ja keine Netze, die mit entsprechenden Lernalgorithmen trainiert werden könnten. Sie lernen durch Nachahmung, indem sie mit der Umwelt, zu der auch die anderen Menschen gehören, in Beziehung treten, sich an Vorbildern und Leitbildern orientieren. Deshalb meint wohl auch Wittgenstein, dass wir keine Antwort darauf geben können müssen, wie (diese oder jene) Wahrnehmung zustande kommt.

Die Fähigkeit, von seinen Sinnen Gebrauch zu machen und etwas als etwas zu sehen, ist eine Vorbedingung dafür, überhaupt ein Sprachspiel spielen zu können. Doch: „Was heißt es: wissen, was ein Spiel ist? Was heißt es, es wissen und es nicht sagen können?“ (Wittgenstein 1984, 282) Im Spiel wird wie in Wahrnehmung und Sprache ein Wissen vorausgesetzt. Es ist nicht ein Wissen um die Funktionsweise des Spiels, der Wahrnehmung oder der Sprache, sondern ein „Know-how“, d.i. ein Können, welches im Kontext einer Lebensform zu erwerben ist.

In der Praxis hat es sich längst eingebürgert, etwa vom Computer zu sagen, er rechnet, oder von einem Netz, es lernt. Alltagsbegriffe werden in die Wissenschaftssprache importiert und neu (und meist exakter) definiert. Umgekehrt wandern Begriffe (zurück) in die Alltagssprache und verlieren dabei in der Regel (wieder) ihre Bedeutungsgenauigkeit. Trotz des Wandels der Sprachen betrachten und behandeln wir aber nach wie vor Artefakte, d.h. vom Menschen geschaffene Gegenstände, oder einzelne Organe wie das Gehirn nicht als Menschen oder als dem Menschen ähnliche Gegenstände. „Wir sagen nur vom Menschen, und was ihm ähnlich ist, es denke.“ (Wittgenstein 1984, 394)

Das Problem, um das es hier geht, ist zum einen die Frage, nach welchen Kriterien wir welche Eigenschaften und Fähigkeiten welchen Gegenständen zuschreiben (wollen und sollen), zum anderen die Frage, welche Bedeutung(en) welche Begriffe in welchen Kontexten haben. Im Sinne Wittgensteins könnte man sagen, dass sich diese Fragen nur im Hinblick auf das jeweilige Sprachspiel beantworten lassen, welches jeweils gespielt wird.

Wenn wir eine Kippfigur betrachten und das „Aufleuchten des Aspekts“ durch einen Ausruf zum Ausdruck bringen, dann spielen wir ein anderes Spiel (mit anderen Regeln und Figuren, Worten und Bildern), als wenn wir neurophysiologisch zu erklären versuchen, was während des Betrachtens einer Kippfigur „im Gehirn passiert“. Aber stimmt das auch? Spielen wir zwei völlig verschiedene Spiele? – Im ersten Fall ist die Kippfigur selbst der Gegenstand der Betrachtung. Ist sie es nicht auch im zweiten Fall? Ja, aber einer anderen Betrachtungsweise?

Literatur

  1. Haken, Hermann 1996 Principles of Brain Functioning. A Synergetic Approach to Brain Activity, Behaviour and Cognition, Berlin: Springer.
  2. Haken, Hermann 1991 Synergetic Computers and Cognition. A Top-Down Approach to Neural Nets, Berlin: Springer.
  3. Haken, Hermann 1990 “Synergetics as a Tool for the Conceptualization and Mathematization of Cognition and Behaviour – How Far Can We Go?”, in: Hermann Haken and Michael Stadler (eds.), Synergetics of Cognition (Proceedings of the International Symposium, Elmau 1989). Berlin: Springer, 2-31.
  4. Haken, Hermann, Haken-Krell, Maria 1997 Gehirn und Verhalten: unser Kopf arbeitet anders, als wir denken. Stuttgart: Dt. Verlags-Anstalt.
  5. Haken, Hermann, Haken-Krell, Maria 1992 Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung. Synergetik als Schlüssel zum Gehirn. Stuttgart: Dt. Verlags-Anstalt.
  6. Haken, Hermann, Wunderlin, Arne 1990 “Die Anwendung der Synergetik auf Musterbildung und Mustererkennung“, in: Karl W. Kratky and Friedrich Wallner (eds.), Grundprinzipien der Selbstorganisation, Darmstadt: Wiss. Buchgesell., 18-30.
  7. Hülsken, Christian 2000 “Warum die Wahrnehmung von Kippfiguren bei jungen Kindern nicht kippt“, in: Sprache und Kognition – Zeitschrift für Sprach- & Kognitionspsychologie und ihre Grenzgebiete 19, 71-80.
  8. Köhler, Wolfgang 1969 The Task of Gestalt Psychology. Princeton, N.J.: Princeton Univ. Pr.
  9. Köhler, Wolfgang 1947 Gestalt Psychology. An Introduction to New Concepts in Modern Psychology. New York: Liveright.
  10. Köhler, Wolfgang 1920 Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand: eine naturphilosophische Untersuchung. Braunschweig: Vieweg.
  11. Wittgenstein, Ludwig 1989 Werkausgabe, Bd. 7: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  12. Wittgenstein, Ludwig 1984 Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Notes
1.
Vgl. Wittgenstein (1989, 305): „Es läßt sich ja natürlich vorstellen, daß Einer nie einen Wechsel des Aspekts sieht“. Wittgenstein hat immer wieder die Rolle des Vorwissens für das Wahrnehmen(-können) des „Kipp-Phänomens“ betont und die Frage nach der „Verwobenheit“ von Wahrnehmungs- und Sprachfähigkeit thematisiert. Vgl. z.B. Wittgenstein (1989, 22): „Wäre es denkbar, daß jemand, der einen Hasen, aber keine Ente kennt, sagte: ‚Ich kann die Zeichnung […] als Hasen sehen und auch noch anders, obwohl ich für den zweiten Aspekt kein Wort habe? […] Ich würde den nicht verstehen, der sagte: er hätte das Bild als das eines Hasen gesehen, dies aber nicht sagen können“. Um den Hasen-Enten-Kopf einmal als das eine, einmal als das andere sehen zu können, muss man wissen, wie ein Hase bzw. eine Ente aussieht. „Bedarf es dazu nicht dieser Begriffe?“ (Wittgenstein 1989, 160) Bedarf es immer eines Wissens um die entsprechenden Begriffe, um eine Figur als Kippfigur sehen zu können? Etwa das Doppelkreuz einmal als weißes Kreuz vor schwarzem Hintergrund und einmal als schwarzes Kreuz vor weißem Hintergrund? „Muß man unter den Aspekten nicht rein optische von andern unterscheiden?“ (Wittgenstein 1989, 182)
2.
Empirische Studien belegen, dass zu den Voraussetzungen für das „Erleben des Kippbildwechsels“ ein Vorwissen und eine gewisse Voreingenommenheit zählen. So präsentierte man z.B. Probanden Kippfiguren, ohne sie von den Wahrnehmungsalternativen zu unterrichten. Das Ergebnis: Im Gegensatz zu den Erwachsenen bemerkte nur ein sehr geringer Prozentsatz der 4- bis 5-jährigen Kinder den Gestaltwechsel (92 % der Erwachsenen im Vergleich zu 8 % der Kinder). Erst nach entsprechenden Hinweisen gelang es einigen Kindern, die Doppeldeutigkeit von Kippfiguren zu entdecken, und selbst dazu benötigten sie ungewöhnlich viel Zeit (ca. 5 Minuten). Siehe Hülsken 2000.
Andrea Anna Reichenberger. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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