„Was ist Zeit?“
Wittgensteins Kritik an Augustinus kritisch betrachtet
Andrea A. Reichenberger, Konstanz, Deutschland

Abstract

Wittgenstein’s remarks on the Philosophy of Time are aimed at Saint Augustine. In Book 11 of his Confessiones Augustine asks: “What is time?” He says when no one asks him, he knows; yet when someone asks him, he no longer knows. Wittgenstein rejects Augustine’s question and his answer, as well. In the following article I will concentrate on two aspects of Wittgenstein’s criticism. First, Wittgenstein’s criticism of Augustine’s Theory of Meaning. Second, Wittgenstein’s criticism of Augustine’s confusion of two different concepts of time, the (sequential) time of physics and the phenomenological time of experience. In order to show that both concepts must be distinguished, but can’t be separated, Wittgenstein compares the facts of physics with the pictures on a film tape and the immediate experience with the picture on the screen that is currently projected. It will be shown that this way of looking at the problem of the relationship of physical and phenomenological time entails its own problems. With Wittgenstein in mind, one might say: “We have just used a simile and now the simile tyrannizes us.”

Table of contents

1. Ein Blick zurück: Augustinus’ Frage „Was ist Zeit?“

Hintergrund der Auseinandersetzung Wittgensteins mit der Frage, was Zeit ist und heißt, und Zielscheibe seiner Kritik ist Augustinus. „Was ist Zeit?“ Diese Frage steht im Mittelpunkt des elften Buches der Confessiones. Die Frage wurde ebenso wie die Antwort unzählige Male zitiert: „Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht.“1 (Augustinus 2000, 25)

Trotz dieser Worte meint Augustinus, zumindest wissen und sagen zu können, „daß es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige Zeit, wenn nichts herankäme, und keine gegenwärtige Zeit, wenn es nichts gäbe, das da ist. Wie kommt also jenen zwei Zeiten, der vergangenen und der zukünftigen, Sein zu, da einerseits das Vergangene nicht mehr ist und andererseits das Zukünftige noch nicht ist?“ (Augustinus 2000, 25)

Wenn weder Zukünftiges noch Vergangenes ist, wäre es falsch zu sagen: „es gibt drei Zeiten, die vergangene, die gegenwärtige und die zukünftige. Zutreffend könnte man vielleicht sagen: es gibt drei Zeiten, nämlich Gegenwart von Vergangenem, Gegenwart von Gegenwärtigem und Gegenwart von Zukünftigem.“ (Augustinus 2000, 35) Bleibt also nur die Gegenwart „übrig“, der ein Existenzstatus zuzusprechen ist? Doch auch daran hat Augustinus seine Zweifel, weil sich die Gegenwart zwischen einem Nicht-mehr und Noch-nicht verflüchtige und sich daher nicht messen lasse.

Augustinus löst dieses „höchst verwickelte Rätsel“, indem er den Geist bzw. die Seele (anima) ins Spiel bringt: Die Vergangenheit existiert als Erinnerung (memoria), die Gegenwart als Anschauung bzw. Augenschein (contuitus) und die Zukunft als Erwartung (expectatio): „diese drei Zeiten sind gewissermaßen in der Seele da: anderswo aber sehe ich sie nicht.“2 (Augustinus 2000, 35) – Die Frage nach Zeit ist damit allerdings nicht beantwortet, sondern auf die Frage nach dem „Geist“ bzw. der „Seele“ abgewälzt.

2. Augustinus als Zielscheibe der Kritik Wittgensteins

„Bei meiner Methode geht es stets darum, auf Fehler in der Sprache hinzuweisen. Das Wort ‘Philosophie’ werde ich für die Tätigkeit verwenden, bei der solche Fehler bloßgestellt werden.“ (Wittgenstein 1989, 180) Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise liefert Wittgenstein mit seiner Behandlung der augustinischen Frage: „Was ist Zeit?“ Wittgenstein hält sowohl die Frage als auch die Antwort, eine Antwort darauf nur zu wissen, wenn man nicht danach gefragt wird, für irreführend.3

Der augustinischen Namenstheorie der Bedeutung liegt die These zugrunde, dass die Bedeutung eines Wortes der bezeichnete Gegenstand ist. So wird z.B. mit dem Wort „Stuhl“ der konkrete Gegenstand namens Stuhl bezeichnet. Im Falle des Wortes „Zeit“ versagt jedoch diese Theorie, wie Wittgenstein mit folgenden Worten klar macht:

Ist die Zeit erschaffen worden, oder wurde die Welt in der Zeit erschaffen? Hier fragt man so ähnlich, wie wenn man sich nach der Herstellung von Stühlen etwa erkundigt, und die Frage ist auch nicht unähnlich der, ob eine Ordnung (ein ‘Vorher’ und ein ‘Nachher’) erschaffen worden ist. ‘Zeit’ als Substantiv ist schrecklich irreführend. Wir müssen die Regeln des Spiels aufstellen, ehe wir es spielen. (Wittgenstein 1989, 162f.)

Das Wort „Zeit“ ist kein Name für einen Gegenstand. Dasselbe gilt für die Worte „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“. Augustinus’ Sprachgebrauch legt dies jedoch nahe, wenn er z.B. fragt: „Wohin geht die Gegenwart, wenn sie Vergangenheit wird, und wo ist die Vergangenheit?“ (zit. n. Wittgenstein 1984c, 156) – Dinge (wie ein Stuhl oder Baum) existieren in Zeit und Raum, aber nicht die Zeit im Raum.

In engem Zusammenhang mit dem Problem der Vergegenständlichung der Zeit steht deren Verbildlichung. Wittgenstein diskutiert diesbezüglich das Bild vom Zeitfluss. Es wäre Unsinn, die Rede vom Zeitfluss so zu verstehen, als bezeichnete das Wort „Zeitfluss“ einen Gegenstand unserer Wahrnehmungs- und Sinnenwelt (z.B. einen wirklichen Fluss) oder eine Eigenschaft (nämlich „gerichtet“) eines vorhandenen Gegenstandes namens Zeit.

Ausgehend von diesem „falschen Bild“4 des Zeitflusses und unter dem Einfluss der aristotelischen Kontinuumslehre kam Augustinus zu dem Resultat, dass sich die Gegenwart auf Grund fortgesetzter Teilung der Zeitstrecke zu einem ausdehnungslosen Zeitpunkt verflüchtige, woraus er die Unmöglichkeit der Zeitmessung folgern zu können glaubte. Wittgenstein hält dieser Argumentation entgegen, dass sich Augustinus in „einen Konflikt zwischen zwei Wortgebräuchen“ verstrickt. „Augustinus, könnten wir sagen, denkt an das Messen einer Länge: etwa an das Messen der Entfernung von zwei Strichen auf einem sich bewegenden Band, von dem nur ein winziger Abschnitt (die Gegenwart) für uns sichtbar ist.“ (Wittgenstein 1984c, 50) Er behandelt also die Gegenwart als „eine Art euklidischen Punkt“, als Schnittpunkt auf einer Geraden, der die Zukunft von der Vergangenheit trennt, zugleich aber auch so, als handelte es sich dabei um gegenwärtiges Zeiterleben. „Doch wenn wir vom gegenwärtigen Erleben sprechen, ist es unmöglich, die Gegenwart mit einem solchen Punkt gleichzusetzen.“ (Wittgenstein 1989, 177)

Es ist eine Sache, die Gegenwart mit der Vorstellung eines (geometrischen) Zeitpunktes in Verbindung zu bringen, eine andere, mit „Gegenwart“ das „Jetzt“ des unmittelbaren Erlebens zu assoziieren. „Jetzt“ bezeichnet keinen Zeitpunkt. Es ist kein Name eines Zeitmomentes“. (Wittgenstein 1984c, 157) Zwar kann man sagen, „es ist charakteristisch für einen Namen, daß wir ihn im Satz ‘Dies ist A’ gebrauchen können; es ist aber Unsinn zu sagen ‘Dies ist dies’, oder ‘Dies ist jetzt’.“ (Wittgenstein 1984c, 159) Wie „ich“, „dies“ oder „hier“ ist „jetzt“ ein indexical term. Es meint die Äußerungszeit, d.i. die Gegenwart des Sprechenden. Die Frage, wie lange sie dauert, ist irrelevant. Wenn wir von „gegenwärtig“ oder von „jetzt“ sprechen, wäre es unsinnig, das messen zu wollen.

Halten wir fest: Für Wittgenstein ist die Bedeutung eines Wortes nicht der bezeichnete Gegenstand, sondern, wie er in seiner Spätphilosophie darlegt, „sein Gebrauch in der Sprache“. (Wittgenstein 1984a, 262) Dieser kann exemplarisch an Hand von Sprachspielen beschrieben werden. „Das Wort ‘Sprachspiel’ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (Wittgenstein 1984a, 250) Sprache ist Teil des kommunikativen zwischenmenschlichen Handelns. Deshalb richtet Wittgenstein sein Augenmerk immer wieder darauf, wie Kinder zeitliche Aussagen zu verstehen und zu verwenden lernen. Sie lernen zunächst, etwas unverzüglich auszuführen, später, was es heißt, etwas später zu tun. Sie lernen, sich den konventionellen Zeitrhythmen und Riten der Gemeinschaft anzupassen, zu bestimmten Zeiten zu essen, zu Bett zu gehen, Aufgaben zu erledigen. Man bringt ihnen das Erzählen vergangener Ereignisse bei, den Umgang mit Uhren in Bezug auf Tätigkeiten u.v.m. (Vgl. Wittgenstein 1984c, 151ff.)

Wer in philosophischer Manier einen „Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks“ vertritt und behauptet: „Wirklich ist nur das, was im gegenwärtigen Augenblick erlebt wird“ (Wittgenstein 1989, 176f.), verkennt nicht nur, dass man über das Sein der Zeit nicht ohne den Gebrauch der Sprache philosophieren kann und Sprechen über Zeit zweierlei, nämlich Zeit und Sprache, voraussetzt, sondern der verkennt vor allem, dass Sprache gemeinschaftlicher Natur ist.

Ebenso wie der Gebrauch des Wortes „ich“ nur Sinn macht auf Grund der Tatsache, dass es andere Mitmenschen gibt, mit denen man sich austauschen und von denen man sich abgrenzen kann, macht der Gebrauch des Wortes „gegenwärtig“ nur Sinn in Abgrenzung zu „vergangen“ und „zukünftig“. „Die alltägliche Verwendung des Wortes ‘gegenwärtig’ hat ihren funktionellen (d.h. im Alltagsgebrauch funktionierenden) Sinn gerade in und durch die Abgrenzung bzw. vor dem Hintergrund von Ausdrücken wie ‘vergangen’, ‘zukünftig’, ‘morgen’, ‘vergangene Woche’ etc., indem sie daraus einen Zeitpunkt hervorhebt, nämlich den augenblicklichen (in einer relativen, pragmatischen Bedeutung).“ (Kaspar/Schmidt 1992, 571) Unser im Leben erworbenes Zeitverständnis basiert weder auf exakten wissenschaftlichen Definitionen noch auf philosophischen Wesensdefinitionen der Zeit.

3. Wittgensteins Gleichnis von der „Laterna magica“

Eine typische Methode Wittgensteins, philosophische Probleme zu behandeln, ist die Konstruktion fiktiver, bisweilen „absurder“ Sprachspiele. Ein solches ist das Gleichnis von der „Laterna magica“. Als Laterna magica („Zauberlaterne“) wird der Vorläufer der Diaprojektion und der Filmkamera bezeichnet. Man stelle sich also eine Filmkamera vor, d.i. ein Apparat, der eine Sequenz fotografischer Bilder auf durchlaufende Filmstreifen belichtet. Mittels eines Filmprojektors werden diese auf eine Leinwand projiziert:

Wenn ich die Tatsachen der unmittelbaren Erfahrung mit den Bildern auf der Leinwand und die Tatsachen der Physik mit den Bildern auf dem Filmstreifen vergleiche, so gibt es auf dem Filmstreifen ein gegenwärtiges Bild, vergangene und zukünftige Bilder; auf der Leinwand aber ist nur die Gegenwart. (Wittgenstein 1984b, 83)

Wittgenstein gebraucht dieses Gleichnis, um zu zeigen, dass zwei verschiedene Zeitbegriffe zu unterscheiden sind:

Zu i): Unser Verständnis und Gebrauch der Zeitmodi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft koordiniert unsere Absichten, Handlungspläne und Lebensziele, Vorschriften, Ge- und Verbote, Pflichten u.v.m., kurz: das, was Menschen (tun, sein und haben) wollen und sollen. Jedes Handeln hat also „eine zeitlich modale Struktur insofern, als es in der Gegenwart stattfindet und auf Zukünftiges gerichtet ist.“ (Janich 1996, 142)

Zu ii): Im Diskussionskontext dieses Zeitbegriffes gelten die (ontologischen) Thesen einer Asymmetrie der Zeit und eines Zeitflusses (mit einer „ausgezeichneten Gegenwart“) als besonders umstritten. Es sei hier nur bemerkt, dass es erstens umstritten ist, ob die Entropiezunahme als Auszeichnung einer physikalischen Zeitrichtung zu interpretieren ist, zweitens, ob in der Quantenmechanik mit dem Messproblem das „Jetzt“/die „Gegenwart“ ins Spiel kommt.5

Diese durchaus gängige Differenzierung zweier Zeitbegriffe ließe sich auch treffen, ohne ein Gleichnis dafür anzuführen.6 Handelt es sich dabei um eine bloße Extravaganz der Sprachspielanalyse Wittgensteins? Fragen wir zunächst, was damit bezweckt werden soll: Die Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Zeitbegriffen ist schnell getroffen. Die entscheidende Frage ist jedoch, in welcher Beziehung die beiden zueinander stehen.

Ist der eine Zeitbegriff auf den anderen reduzierbar bzw. der eine aus dem anderen ableitbar? Falls „Ja“, welcher Zeitbegriff auf welchen? Die Geschichte dieser Streitfragen weist unzählige Beispiele für Versuche auf, den einen gegenüber den anderen Zeitbegriff als den primären zu bestimmen. Nach Wittgenstein ist dies ein falscher Ansatz. Es geht gerade nicht darum, den einen Zeitbegriff gegen den anderen auszuspielen. „Beide Ausdrucksweisen sind in Ordnung und gleichberechtigt, aber nicht miteinander vermischbar.“ (Wittgenstein 1984b, 81f.) Die Sprachkonflikte, in die sich Augustinus verstrickt, interpretiert Wittgenstein als das Resultat „der Übertragung des Zeitbegriffs der physikalischen Zeit auf den Verlauf der unmittelbaren Erlebnisse. Es ist die Verwechslung der Zeit des Filmstreifens mit der Zeit des projizierten Bildes.“ (Wittgenstein 1984b, 81)

Das Filmgleichnis stellt so gesehen eine Möglichkeit dar, um zu zeigen, dass (und inwiefern) beide Zeitbegriffe zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind. Man könnte auch sagen, es soll ein anderes, neues „Licht in die Verhältnisse unsrer Sprache werfen“. (Wittgenstein 1984a, 304) Es wirft jedoch – genau betrachtet – eine Reihe von eigenen Fragen auf. Diese betreffen u.a.:

Zu i): Wittgenstein bezeichnet es als „[d]as eine Charakteristische an diesem Gleichnis“, dass man „darin die Zukunft als präformiert“ ansehen kann. (Wittgenstein 1994, 23) „Wenn man sagt die Zukunft sei bereits präformiert so heißt das offenbar: die Bilder des Filmstreifens welche den zukünftigen Vorgängen auf der Leinwand entsprechen sind bereits vorhanden. Aber für das was ich in einer Stunde tun werde gibt es ja keine solchen Bilder“. (Wittgenstein 1995, 231)

Wittgenstein bemerkt zwar an einer (anderen) Stelle: „In der Sprache dieses Gleichnisses kann ich mich nicht außerhalb des Gleichnisses bewegen.“ (Wittgenstein 1984b, 82) Vergleicht man aber sein fiktives Sprachspiel, d.i. das Filmgleichnis, mit unseren gewöhnlichen Sprachspielen, die Zeit betreffen, lässt sich Folgendes feststellen: In der Sprache des Gleichnisses macht es Sinn, von zukünftigen Bildern auf dem Filmstreifenrelativ zu den bereits auf die Leinwand projizierten zu sprechen und diese als „bereits vorhanden“ zu interpretieren.

Aber vergessen wir nicht […] in der Grammatik der Zukunft tritt der Begriff des ‘Gedächtnisses’ nicht auf, auch nicht mit ‘umgekehrtem Vorzeichen’. – Vielleicht wird man sagen: ‘Was hat das mit der Grammatik zu tun? Wir erinnern uns eben nicht an die Zukunft!’ Nun das kommt darauf an, wie man das Wort erinnern gebraucht. In unserer gewöhnlichen Sprache hat es keinen Sinn zu sagen: ‘Ich erinnere mich deutlich an das, was morgen geschehen wird’, – auch dann nicht, wenn ich ein Prophet bin. (Wittgenstein 1984c, 159)

Die Zukunft selbst kann man nicht filmen oder in Bildern festhalten. Der Film zeigt nur das (nochmals), was schon geschehen und damit vergangen ist. Ein Film hat Anfang und Ende. Er stellt nur einen begrenzten Ausschnitt aus unserer raumzeitlichen Wirklichkeit dar. Man kann im Film den Zeitablauf durch Zeitlupe und Zeitraffer relativieren. Man kann einen Film sogar rückwärts laufen lassen (was das Auge verwirrt und gewöhnungsbedürftig ist). Der Betrachter des Films ist kein Teil des Films, selbst wenn er es sein sollte, der sich selbst filmt, sondern er steht zum Zeitpunkt der Betrachtung des Films vor der Leinwand. Im Leben hingegen befindet sich der Mensch in seiner phänomenologischen Welt- und Leibverbundenheit immer schon inmitten von Raum und Zeit.

Zu ii): Wittgenstein vergleicht die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Tatsachen bzw. Vorgänge mit den Bildern auf dem Filmstreifen und die Gegenwart mit dem jeweiligen Bild auf der Leinwand. Aber entsprechen Bilder Tatsachen und ist das jeweilige Bild auf der Leinwand Abbild der Gegenwart des Betrachters, d.h. seines Zeitempfindens und Zeitbewusstseins im gegenwärtigen Augenblick? – Es drängt sich hier ein Verdacht gegen Wittgenstein auf: Zumindest im Kontext des Gleichnisses von der Laterna magica und zu diesem Zeitpunkt seiner Philosophie wurde Wittgenstein selbst „von einem Bild gefangen“ genommen. Gemeint ist damit nicht das Bild vom Fluss der Zeit, das Augustinus vorschwebte, sondern das Bild und die Technik der Filmprojektion.

Literatur

  1. Augustinus, Aurelius 2000 Was ist Zeit?: Confessiones XI/Bekenntnisse 11, lateinisch-deutsch, Hamburg: Meiner.
  2. Callender, Craig 2001 “Thermodynamic Asymmetry in Time”, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, URL: http:// plato.stanford.edu/entries/time-thermo/.
  3. Craig, William L. 2000 The Tenseless Theory of Time. A Critical Examination, Dordrecht/ Boston/London: Kluwer.
  4. Dobbs, H.A.C. 1969 “The ‘Present’ in Physics”, The British Journal for the Philosophy of Science 19, 317-324.
  5. Grünbaum, Adolf 1969 “The Meaning of Time”, in: Nicholas Rescher (ed.), Essays in Honor of Carl G. Hempel, Dordrecht: Kluwer, 147-177.
  6. Janich, Peter 1996 “Die Konstitution der Zeit durch Handeln und Reden”, Kodikas/Code: Ars Semeiotica 19, 133-147.
  7. Kaspar, Rudolf F., Schmidt, Alfred 1992 “Wittgenstein über Zeit”, Zeitschrift für philosophische Forschung 46, 569-583.
  8. McTaggart, John Ellis 1908 “The Unreality of Time”, Mind 17, 457-474.
  9. Mittelstraß, Jürgen 1993 “From Time to Time. Remarks on the Difference between the Time of Nature and the Time of Man”, in: John Earman, Allan I. Janis, Gerald J. Massey, and Nicholas Rescher (eds.), Philosophical Problems of the Internal and External Worlds. Essays on the Philosophy of Adolf Grünbaum, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press/ Universitätsverlag Konstanz, 83-101.
  10. Palge, Veiko 2002 “The Concept of Becoming in Quantum Mechanics”, in: Wolfram Hogrebe (ed.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie vom 23.-27. September 2002 in Bonn. Sektionsbeiträge, Bonn: Sinclair Press, 626-631.
  11. Suter, Ronald 1989 Interpreting Wittgenstein. A Cloud of Philosophy, a Drop of Grammar, Philadelphia: Temple University Press.
  12. Wittgenstein, Ludwig 1984a Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen (>Suhrkamp-Werkausgabe 1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  13. Wittgenstein, Ludwig 1984b Philosophische Bemerkungen (Suhrkamp-Werkausgabe 2), Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  14. Wittgenstein, Ludwig 1984c Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (>Suhrkamp-Werkausgabe 5), Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  15. Wittgenstein, Ludwig 1989 Wittgensteins Vorlesungen 1930-1935, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  16. Wittgenstein, Ludwig 1994 Philosophische Bemerkungen (Wiener Ausgabe 1), Wien/New York: Springer.
  17. Wittgenstein, Ludwig 1995 Bemerkungen zur Philosophie. Bemerkungen zur philosophischen Grammatik (Wiener Ausgabe 4), Wien/New York: Springer.
Notes
1.
Weniger bekannt ist, dass das elfte Buch weder mit besagter Frage beginnt noch mit zitierter Antwort endet. An seinem Anfang steht der Zweifel Augustinus’, auf dem rechten Weg der Suche nach Gott zu sein. Veranlasst wird Augustinus zu solchem durch die ersten Worte der Genesis, in der es heißt, dass Gott am Anfang Himmel und Erde erschaffen habe. Augustinus stellt die Annahmen einer creatio ex nihilo und eines Gottes als ersten unbewegten Beweger in Frage und gelangt auf diese Weise zur Frage nach der Zeit.
2.
Augustinus’ Verwendung der Begriffe „Seele“ und „Sehen“ (als „geistige Schau“) ist natürlich dem Kontext seiner Gotteslehre und seiner von der neuplatonischen Lichtmetaphysik beeinflussten Illuminationstheorie zuzuordnen.
3.
Ausführlich zu Wittgensteins Kritik an Augustinus: Suter 1989, 157-170.
4.
Wittgenstein wirft Augustinus, genau gesagt, „eine falsche Verwendung unserer Sprache“ und den „Mißbrauch“ des Bildes vom Zeitfluss vor. Vgl. Wittgenstein 1984b, 83.
5.
Für eine kurze Darlegung der Problematik mit weiterführenden Literaturangaben bzgl. Punkt 1 siehe u.a. Mittelstraß (1993) und Callender (2001); bzgl. Punkt 2: Dobbs (1969), kritisiert von Grünbaum (1969, 169), seinerseits kritisiert u.a. von Craig (2000, 167-177) und Palge (2002).
6.
Zu verweisen wäre diesbezüglich auf McTaggart (1908). Ausgehend von der Unterscheidung zwischen der sog. A-Reihe (mit der modalen Zeitordnung „vergangen“, „gegenwärtig“, „zukünftig“) und der B-Reihe (mit den zueinander konversen Prädikatoren „früher als”, „später als”) glaubte McTaggart, die Irrealität der Zeit beweisen zu können – ein Versuch, der bis heute Gegenstand eines heftig geführten Diskurses ist.
Andrea A. Reichenberger. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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