Zeit und Gegenwart bei Wittgenstein
Zeit und Gegenwart bei Wittgenstein

Abstract

In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit der von Wittgenstein in den Tagebüchern 1914-1916 geäußerte Satz vom glücklichen Leben, das nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart erfolgt, auch in seinen späteren Schriften noch gültig ist. Das heißt, wie ist der Gedanke des Lebens in der Gegenwart auf das „Aspektsehen“ in den Philosophischen Untersuchungen anwendbar, ohne dass dabei über den Zeitbegriff diskutiert wird?

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„Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich“ – so vermerkte Wittgenstein am 8.7.1916 und verwies damit auf die Problematik von Zeit, die ihn wie viele andere Philosophen beschäftigte.

Die Art seiner Auseinandersetzung mit der Zeit und damit auch mit der Gegenwart änderte sich im Laufe seiner philosophischen Tätigkeit, d.h. es ist in dieser Hinsicht wie in manch anderer zwischen dem Verfasser des Tractatus und dessen Vorstufen und dem Autor der späteren Schriften zu unterscheiden. Anders ausgedrückt: Wittgensteins Aufzeichnungen über das Problem der Zeit sind auf zwei Ebenen zu untersuchen – im Hinblick auf die "Welt der Tatsachen" bzw. aus analytischer Sicht und im Hinblick auf die "Welt außerhalb der Tatsachen" bzw. im metaphysischen Sinn gesehen. Beide Ebenen sind hinsichtlich des Phänomens der Zeit im Grunde nicht zu trennen, sondern fließen ineinander über. Der Unterschied liegt nur in der Betrachtungsweise und den damit verbundenen Annahmen und Erklärungsversuchen.

Der "Welt der Tatsachen", unter der Wittgenstein bekanntlich den Bereich des klar Sagbaren und wissenschaftlich Erklärbaren verstand, begegnete er als rationaler Denker und versuchte, sich mit den Problemen auf analytische Weise auseinanderzusetzen. Dem Bereich außerhalb der Welt der Tatsachen – dem Bereich des Nicht-Faßbaren, nicht rational Erklärbaren – näherte er sich in einer teils mystischen, teils ethisch-religiösen Haltung, wobei er sich von detaillierten Erklärungsversuchen distanzierte.

Während er in früheren Jahren sich mit Zeit auf metaphysischer Ebene auseinandersetzt, kommt er in späteren Jahren zu einer kritischen Untersuchung des Zeitbegriffs, wie er im alltäglichen Leben verwendet wird. Dabei stellt er irreführende Metaphern fest, wie z.B. „die Gegenwart schwindet in die Vergangenheit“ oder das Gleichnis vom „Fließen der Zeit“ – Redewendungen, die uns im gewöhnlichen Sprachgebrauch geläufig und vom sogenannten „common sense“ als etwas Selbstverständliches angenommen, verstanden und im alltäglichen Leben verwendet werden, insofern korrekt sind, aus philosophischer Sicht jedoch angezweifelt und hinterfragt werden müssen. Denn Zeit „fließt“ nicht durch den Raum wie ein Fluß durch die Landschaft noch kann man von einem „Entschwinden“ oder „Vergehen“ der Zeit sprechen. Zeit erweist sich vielmehr als etwas letztlich nicht Fassbares, nicht Erklär- und Definierbares – als etwas, das Philosophen vor unlösbare Probleme stellt.

Was Wittgensteins innere Haltung gegenüber der Zeit, im genaueren gegenüber dem Leben in der Gegenwart – aus metaphysischer Sicht – betrifft, so geht aus seinen frühen und späteren Aufzeichnungen im wesentlichen eine Art Übereinstimmung hervor. Dies betrifft meines Erachtens das sogenannte „glückliche Leben“ in der Gegenwart, wie es Wittgenstein in den Tagebüchern 1914-1916 definiert und das „Aspektsehen“, womit er sich später in den Philosophischen Untersuchungen auseinandersetzt.

Meine Absicht ist es, das „Verbindende“ in Wittgensteins früheren und späteren Schriften hinsichtlich der Problematik von Zeit und Gegenwart zu untersuchen. D.h. der Frage nachzugehen, wie der Gedanke des „Lebens in der Gegenwart“ auf das Aspektsehen in den Philosophischen Untersuchungen anwendbar ist, wie er sich dort zeigt, ohne dass über den Zeitbegriff selbst diskutiert wird.

Anders ausgedrückt: wie ist der zu Beginn dieses Beitrags zitierte Satz aus Wittgensteins frühen Tagebüchern mit seinen späteren philosophischen Untersuchungen zu vergleichen? Hat dieser Satz später noch seine Gültigkeit in Wittgensteins Einstellung gegenüber der Zeit und der Gegenwart? Gibt es in dieser Hinsicht grundlegende Gemeinsamkeiten?

1. Wittgensteins Tagebücher 1914-1916 und der Tractatus

Das von Wittgenstein angesprochene „glückliche Leben in der Gegenwart“, das in Harmonie mit der Welt besteht, zeigt unverkennbare Parallelen zu Schopenhauer: in dessen Darstellung des „reinen Subjekts des Erkennens“, das sich durch Enthebung über Irdisches und damit durch die Transzendierung von Raum und Zeit dem Augenblick hingibt – sei es in der ästhetischen Kontemplation oder in der Askese.

Entscheidend für das Glücklichsein ist dabei nicht nur die Enthebung über Zeit und Raum, sondern die Hinwendung zum Geistigen: bei Schopenhauer das Vorherrschen des Intellekts über den triebbetonten, nach Erfüllung seiner Wünsche strebenden, blinden Willen, bei Wittgenstein das Leben im Geist, befreit vom „Fleisch“, wie er sich nach seiner Lektüre von Tolstois Schrift Kurze Darlegung des Evangelium immer wieder vorsagte und in seinem persönlichen, codierten Tagebuch notierte, gleichsam als Stärkung, um in den Grauen des Krieges auszuharren, sowie als anzustrebendes Ziel in moralischer Hinsicht im persönlichen Leben.

Es ist das Leben der Erkenntnis, das auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichten kann, die nur als „so viele Gnaden des Schicksals“ empfunden werden (vgl. TB, 13.8.16).

Derjenige, der nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, lebt in der Ewigkeit, so Wittgenstein – vorausgesetzt, dass man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht (TLP, 6.4311).

Der Glückliche hat demnach auch keine Angst vor dem Tode, da er anstatt in der Zeit im Ewigen lebt. Er kennt weder Furcht noch Hoffnung, da diese sich auf die Zukunft beziehen, der Glückliche aber nur im Gegenwärtigen lebt, konzentriert auf den Augenblick, offen für die vielfältigen Aspekte der ihn unmittelbar umgebenden Dinge – die „durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit“ verborgen sind, wie es später in den Philosophischen Untersuchungen heißt (PU, § 129). Er lebt in Übereinstimmung mit der Welt und jenem „fremden Willen“, von dem er abhängig scheint (TB, 8.7.16).

Das Merkmal des glücklichen Lebens könne kein physisches, sondern nur ein metaphysisches, ein transzendentes sein, schreibt Wittgenstein und unmittelbar danach, dass die Ethik transcendent sei (TB, 30.7.16). Das Gemeinsame zwischen Ethik und Ästhetik (TLP, 6.421: „Ethik und Ästhetik sind Eins“) findet zudem in dem Satz „Die Welt und das Leben sind Eins“ (TLP, 5.621) eine Entsprechung und verweist damit auf seine Notizen über das glückliche Leben, das in Harmonie bzw. Übereinstimmung mit der Welt besteht. Wittgensteins Reflexionen über das glückliche Leben werden in den Tagebüchern immer wieder in Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen thematisiert. Das glückliche Leben ist das gute Leben, ein ethisches Leben, ein Leben der Erkenntnis. Nicht nur an Schopenhauer, sondern auch an Spinoza sind Parallelen unübersehbar: im Hang zur Enthebung über Leid und Triebhaftigkeit durch Hinwendung zum Geistigen, in der Erkenntnis des wahren Seins durch Transzendierung von Raum und Zeit, in der Ausrichtung auf den Bereich „außerhalb der Welt der Tatsachen“, auf das Ewige.

In seiner Anlehnung an Spinozas Betrachtung „sub species aeternitatis“ ist Wittgenstein vermutlich von Schopenhauer inspiriert worden, der sich in seiner Darstellung der ästhetischen Kontemplation ausdrücklich auf Spinoza beruft. Das dabei resultierende glückliche Leben birgt insofern noch den Aspekt der Freiheit: Freiheit zum einen durch Loslösung von Triebhaftigkeit bzw. von den Affekten (Spinoza), Freiheit aber auch dadurch, dass man das Schicksal wie alle Geschehnisse in der Natur als notwendig akzeptiert und dabei zu einer gelassenen Haltung dem persönlichen Leben wie dem Weltgeschehen an sich gegenüber gelangt. Dies schließt auch die Furchtlosigkeit vor dem Tode mit ein.

Die Aufforderung, dem Tode ohne Furcht ins Auge zu sehen, bedeutet jedoch nicht, Trost in der Unsterblichkeit der Seele zu finden. Im Gegenteil, Wittgenstein betont, dass die zeitliche Unsterblichkeit der Seele des Menschen nicht das Entscheidende ist. Entscheidend wäre, das „Rätsel zu lösen“, doch stelle sich die Frage, ob dieses ewige Leben nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige sei. Trotzdem beharrt Wittgenstein darauf, dass die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit außerhalb von Raum und Zeit, also im Ewigen, liege (TLP, 6.4312). Dieser scheinbare Widerspruch lässt vermuten, dass er die „Lösung des Rätsels“ nur durch den „Sinn der Welt“, der außerhalb der Welt liegt und den er mit Gott verband, gewährleistet sah, nicht durch die zeitliche Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Ein glückliches Leben in der Gegenwart, so scheint er jedoch anzudeuten, könne dem Rätsel des Lebens näher kommen, da es anstatt innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit in „Unzeitlichkeit“ erfolgt.

2. Philosophische Untersuchungen: der Aspektwechsel

In seinen Dialogen mit einem fiktiven Du versucht Wittgenstein, den Leser zum eigenen Denken anzuregen, dies durch aufmerksame Betrachtung der Phänomene bzw. Objekte seines Philosophierens. Diese Haltung kann als eine wache, staunende, ganz auf den Augenblick konzentrierte, gesehen werden und entspricht demnach dem „Leben in der Gegenwart“. Der philosophierende Mensch vergisst Zeit und Raum, indem er die vielfältigen Aspekte eines Gegenstandes wahrnimmt; er ist in seiner Betrachtungsweise dermaßen absorbiert, dass er subtile Nuancen erfasst, die er als ständige Veränderungen erfährt, so dass er das Objekt seiner Betrachtung sozusagen fortwährend in Variationen wahrnimmt. Er sieht den Aspektwechsel, der gleichsam „aufleuchtet“. Dieser Aspektwechsel bewirkt im Grunde jedoch nur eine scheinbare Veränderung am Objekt; die Änderung geht eigentlich nur im Betrachter vor sich, der durch die genaue Beobachtung aller Facetten des Gegenstandes – aus unterschiedlichen Perspektiven – die Dinge so oder so zu sehen lernt. Folglich ändert sich nur die Wahrnehmung des Betrachters durch die Genauigkeit seiner Betrachtung, durch seine Fähigkeit, derart auf den Gegenstand seiner Betrachtung und damit Objekt seines Philosophierens einzugehen.

Der Aspektwechsel wird als Folge des Staunens mit Ausrufen wie „So ist es hier“, „so ist es dort“ begleitet, oder „Dasselbe – und doch nicht dasselbe“ (LS, § 517). Insofern als der Aspektwechsel ein Staunen hervorruft, wird die Nähe zu einer ethischen Haltung deutlich: Staunen als Denken (LS, § 565), d.h. als ein nicht voneinander zu trennendes Denk- und Seherlebnis ist für Wittgensteins Philosophieren von unschätzbarer Bedeutung. Darüberhinaus nennt er in seinem Vortrag über Ethik das Staunen (obgleich ein Staunen anderer Art als das beim Erkennen des Aspektwechsels) als erstes der drei Schlüsselerlebnisse – als sein „Erlebnis par excellence“– für das Verständnis von dem, was Ethik bedeuten könne.

In der Erfahrung des Aspektwechsels durch die Wahrnehmung der Vielzahl an Aspekten aller Phänomene der sichtbaren Welt begegnet man der Schwierigkeit des „Alles fließt“, mit der laut Wittgenstein „vielleicht überhaupt erst anzufangen“ sei (VB, 33).

Das Sehen in Aspekten kann man in Hinblick auf den Zeitbegriff aus sprachanalytischer Sicht, in Hinblick auf Wittgensteins Reflexionen über die Gegenwart, auch auf metaphysischer Ebene betrachten. D.h., dieser Vorgang erfolgt immer in Zeit, erkenntlich bereits durch die Veränderung bzw. auch „Bewegung“, die der Aspektwechsel bewirkt. Andererseits hat der Vorgang mit Zeit, d.h. hier mit Gegenwart im metaphysischen Sinn zu tun, wie es Wittgenstein in den frühen Schriften beschreibt: als ein Vorgang außerhalb von Zeit, gleich einem Stillestehen von Zeit, einem Vorgang gleichsam in Unzeitlichkeit.

Dieser konzentrierte Vorgang lässt keinen Raum und keine Zeit, über andere Dinge nachzudenken, die den Betrachter sonst bewegen; im Augenblick der aufmerksamen Haltung gegenüber einem bestimmten Objekt existiert nur mehr dieses für ihn: es kommt nahezu zu einer Art Verschmelzung, wie sie Schopenhauer in der ästhetischen Kontemplation beschrieben hat, in der der ästhetische Betrachter, wie oben erwähnt, zum „reinen zeitlosen Subjekt des Erkennens“ wird und sich mit dem Objekt seiner Betrachtung, jenseits des Satzes vom Grunde, auf einer Ebene befindet. Da er dabei dem eigenen Wollen sowie dem Weltgetriebe mit all seinen Negativitäten enthoben ist, verspürt er jene glücklichen Augenblicke, die nur selten im Leben zu erfahren sind. Es ist kaum anders als die von Wittgenstein in den frühen Tagebüchern beschriebene „künstlerische Betrachtungsweise“, die die „Welt mit glücklichem Auge betrachtet“ (20.10.16). Der von Wittgenstein angesprochene Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik besteht darin, dass das Kunstwerk der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen, das gute Leben die Welt sub specie aeternitatis gesehen ist. Daraus ergibt sich, dass die gewöhnliche Betrachtung die Gegenstände in Raum und Zeit, die Betrachtung sub specie aeternitatis die Gegenstände mit Raum und Zeit, die Dinge sozusagen von außerhalb sieht (TB, 7.10.16).

Obwohl das Aspektsehen auf einer anderen Ebene als die Betrachtung sub specie aeternitatis liegt, so kann man doch von Gemeinsamkeiten sprechen – insofern als der ästhetischen Erfahrung eine ethische Komponente innewohnt, und sofern das Aspektsehen als ein Sehen in der Gegenwart, nicht in der Zeit, zu begreifen ist.

Allerdings ist zu betonen, dass in den Tagebüchern der Schwerpunkt auf der ethischen Haltung liegt, in den Philosophischen Untersuchungen das ästhetische Element vorherrscht, im einen Fall es sich um eine kontemplative Schau, ein mystisches Sich-Versenken in der Anschauung des Objekts handelt, im anderen um ein bewegtes Eingehen auf die Gegenstände der Betrachtung.

Außerdem ist anzunehmen, dass beim Aspektsehen der einzelne, konkrete Gegenstand, dieser daher in Raum und Zeit wahrgenommen wird, nicht das allgemeingültige, zeitunabhängige des Gegenstandes.

Bei der Beschreibung der Wahrnehmung der verschiedenen Aspekte durch aufmerksame Betrachtung wird man jedoch an das Beispiel des kontemplierten Ofens erinnert, das Wittgenstein in den Tagebüchern bringt, des Ofens, der für den Betrachter zu seiner Welt wird. Der scheinbar unbedeutende Gegenstand wird zu etwas Besonderem: er steht dermaßen im Zentrum der Betrachtung, dass er zur Welt des Betrachters wird, während alle anderen Gegenstände in seinem Umfeld verblassen. In der „zeitlichen Welt“ wäre der Ofen nicht mehr als ein nichtiges momentanes Bild, in der Betrachtung sub specie aeternitatis wird er jedoch zur „wahren Welt unter Schatten“ (TB, 8.10.16).

Zieht man dazu eine Parallele zu den fiktiven Beispielen in den Philosophischen Untersuchungen, so kann man auch dort behaupten, dass die Art der Betrachtung eines Phänomens dieses je nach Betrachtungsweise formt, in unterschiedlichen Bedeutungen erscheinen läßt, gemäß der individuellen Sicht des Betrachters, seiner Art, die Dinge so oder so zu sehen – je nach Perspektive. So mag einem die Zeichnung eines Hasenkopfes einmal als Hasen-, ein anderes Mal als Entenkopf erscheinen, die Illustration eines Glaswürfels einmal als Drahtgestell, dann wieder als umgestülpte offene Kiste (PU II, xi, S. 519-529).

Der Betrachter bzw. das philosophierende Subjekt formt sich also aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Objekte, die ein Anderer auf andere Weise wahrnehmen würde. Doch wie beim Beispiel des kontemplierten Ofens wird das jeweilige Objekt des Philosophierens dabei zur spezifischen „Welt“ des Betrachters, einer ganz in der Gegenwart erlebten Welt, denn jeder neue Perspektivenwechsel bringt eine Änderung in der Betrachtungsweise mit sich, hervorgerufen durch das „Aufleuchten“ des „Aspektwechsels“. Der Prozeß der Wahrnehmung der wechselnden Aspekte erfordert eine Befindlichkeit, die gewissermaßen dem Zustand eines „Lebens in der Gegenwart“ entspricht.

Indem der Betrachter in der Entdeckung und Beobachtung der verschiedenen Facetten eines Gegenstandes völlig absorbiert ist, vergisst er ähnlich dem von Schopenhauer beschriebenen „reinen Subjekt des Erkennens“ Zeit und Raum; im Sinne Wittgensteins ist er der glückliche Mensch, der in der Gegenwart lebt.

Mit der Äußerung, dass die „Welt des Glücklichen eine andere als die des Unglücklichen“ (TLP, 6.43) sei, verweist Wittgenstein vermutlich u.a. auf den Unterschied zwischen dem, im Geistigen lebenden bzw. philosophierenden wie auch künstlerischen Menschen und dem, in Zeit und Raum lebenden und dabei auf persönliche Probleme konzentrierten Menschen, der sich von seinem persönlichen Ich mit seinen Wünschen und Nöten nicht lösen kann, daher auch unfähig bleibt, um so im Gegenwärtigen zu leben, dass er in der Betrachtung eines vor ihm unmittelbar befindlichen Phänomens sich zu vergessen vermag.

Konklusion

Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen an das Problem von Zeit und Gegenwart – einer anfangs zu einer mystischen Haltung tendierenden, später einer sprachanalytischen Auseinandersetzung – hat der hier zur Diskussion stehende Satz vom „Leben in der Gegenwart“ auch in späteren Jahren seine Gültigkeit nicht verloren: im Gegenteil, gerade durch den in seinen philosophischen Untersuchungen stillschweigend enthaltenen Appell an den Leser bzw. philosophierenden Menschen, den Erscheinungen der sichtbaren Welt mit Achtung und Aufmerksamkeit zu begegnen, zeigt sich durchgehend, welche Bedeutung Wittgenstein einer wachen, offenen, ganz in der Gegenwart befindlichen Haltung zumaß, ja, dass er dies als wesentliche Voraussetzung für die Wahrnehmung der subtilen Facetten jedweder Phänomene und damit Entwicklung eigener Gedankengänge betrachtete, ohne die ein Philosophieren nicht möglich ist. Zugleich geht daraus hervor, dass dieses sich ganz in der Gegenwart und im Geistigen Befinden einen Zustand gewährt, der die Grenzen von Zeit und Raum überschritten hat.

Literatur

  1. Schopenhauer, Arthur 1977 Die Welt als Wille und Vorstellung I, II, Zürich: Diogenes.
  2. Schulte, Joachim (ed.) 1989 Ludwig Wittgenstein. Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt: Suhrkamp.
  3. Spinoza, Baruch de 1955 Die Ethik. Schriften und Briefe, Stuttgart: Kröner Verlag.
  4. Wittgenstein, Ludwig 2000Nachlass. The Bergen Electronic Edition, Bergen, Oxford: Oxford University Press.
  5. Wittgenstein, Ludwig 1991 Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, Frankfurt: Suhrkamp.
  6. Wittgenstein, Ludwig 1990 Philosophische Untersuchungen, Frankfurt: Suhrkamp.
  7. Wittgenstein, Ludwig 1990 Tagebücher 1914-1916, Frankfurt: Suhrkamp.
  8. Wittgenstein, Ludwig 1990 Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt: Suhrkamp.
Ilse Somavilla. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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