"Wer eine Frage stellt, auf die er die Antwort weiß, lügt doch!" Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Cato Wittusen1

Abstract

An interview with Hans-Georg Gadamer about the philosophy of Ludwig Wittgenstein.

"Wer eine Frage stellt, auf die er die Antwort weiß, lügt doch!" Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Cato Wittusen1

Table of contents

Wittusen: Herr Gadamer, Sie haben viele philosophische Interviews gegeben. Aber wenn ich mich nicht irre, haben Sie nicht so viel über das Verhältnis ihrer Position zu den sprachphilosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins gesprochen. An mehreren Stellen in Ihren Gesammelten Werken wird aber angedeutet, daß esÜbereinstimmungen zwischen der Sprachpragmatik Wittgensteins und der philosophischen Hermeneutik gibt.2 An solchen Übereinstimmungen bin ich besonders interessiert.

Gadamer: Übereinstimmungen gibt es sicherlich. Aber was ich damals von Wittgenstein gelesen habe, das kann ich heute gar nicht mehr reproduzieren. Das, was mir eingeleuchtet hat, habe ich mir vermutlich ganz einfach angeeignet, nicht wahr. Und das weiß ich jetzt nicht mehr. Manche Übereinstimmungen, die jetzt da sind, würde ich wohl gar nicht mehr merken.

Wittusen: Auf Ihre Auffassung von Wittgensteins philosophischer Position komme ich zurück. Ich habe einige Fragen vorbereitet.

Gadamer: Ja bitte. Das ist sehr gut.

Wittusen: Es geht mir vor allem um Ihre Dialektik von Frage und Antwort.3 Ihr Herausarbeiten jener Dialektik kann meines Erachtens unter anderem als eine Kritik des einseitigen Bevorzugens der reinen Aussage, sprich der Annahme der Möglichkeit eines gleichsam kontextlosen sprachlichen Verstehens, verstanden werden.

Gadamer: Ja, aber der Begriff von Dialektik ist nicht der seit Hegel übliche.

Wittusen: Auch andere Philosophen in diesem Jahrhundert haben unsere Aufmerksamkeit auf die Kontextualität der Sprache gelenkt. Diesbezüglich denke ich vor allem an Ihren Lehrmeister Heidegger und an Wittgenstein. Die beiden haben sich sehr auf die Tätigkeits-und Handlungsdimension der Sprache konzentriert. Sie haben demgegenüber das Phänomen des Gesprächs, das wiederum als eine Dialektik von Frage und Antwort beschrieben wird, in den Vordergrund gestellt. Wenn ich mich nicht irre, haben Sie einmal geschrieben, daß die Sprache letztendlich nur im Gespräch sei4.

Gadamer: Ja!

Wittusen: Warum, Herr Gadamer, ist das Phänomen des Gesprächs so wichtig für Sie?

Gadamer: Weil man niemals selber das letzte Wort hat, weil man immer durch die Antwort oder durch die Gegenfrage neu geöffnet wird. Wenn ich Ihnen jetzt antworte, nicht wahr, dann ist das auf alle Fälle für Sie schon wieder etwas Neues, das Sie nicht im Kopfe hatten, wenn Sie fragten. Denn sonst würden Sie nicht fragen.

Wittusen: Es handelt sich also um Richtungssinn?5 Durch die Frage werden neue Sinnrichtungen erschlossen?

Gadamer: So kann man sagen. Wenn ich zum Beispiel gefragt werde (was ich sehr oft von Nicht-Philosophen gefragt werde): "Ja, was haben Sie denn für ein Kriterium, daß Ihre Interpretation von einem Text richtig ist?" Dann sage ich: Ein Kriterium? Das gibt es doch nur, wenn man selber kein Urteil hat. Ein Kriterium ist ein Gewißheitspostulat - und das gibt's doch gar nicht. Es kann etwas falsch sein, selbstverständlich, aber das sieht man vielleicht aus der Antwort, aus dem Gegenargument. Das fängt in Deutschland jedenfalls mit Schleiermacher an, daß das Mißverständnis die eigentliche Herausforderung des Verstehens ist ...

Wittusen: Und zu vermeiden ist?

Gadamer: Ja, zu überwinden ist. Und was ist eine Frage anderes, als daß man zwischen offenen Möglichkeiten nicht zu entscheiden weiß? Das ist doch der Anlaß für eine Frage. Also, es ist fast nur eine Selbstverständlichkeit, wenn ich sage, ich verlange nach der Antwort, weil mich die Frage gefangen hält. Es geht gar nicht anders, auch wenn ich mich selber frage. Und das, glaube ich, ist auch sehr klar, wenn man sich die antike, vor allem die aristotelische Logik ansieht. Da ist es ganz eindeutig. Es gibt die schöne Stelle in der Politik, wo es heißt, die Natur habe den Tieren Kommunikation möglich gemacht, aber bei den Menschen sei sie noch weitergegangen. Ihnen wurde der Logos gegeben. Und der Logos, das ist nicht nur die Sprache, sondern es ist das Gespräch, in dem man sich verständigt. Ohne das gäbe es kein Recht und keine Gerechtigkeit. Ohne Frage gibt es keine Antwort. Das ist ganz einfach. Das gehört zum Denken, daß man etwas nicht weiß. Muß man das erst erfinden? Heidegger stimmt mir da übrigens vollkommen zu - inzwischen. Ich erinnere mich, eines der letzten Gespräche mit Heidegger begann damit: "Sie sagen also, Sprache ist nur im Gespräch ...". - "Ja", sagte ich. - "Ja", sagte er, "das ist sehr richtig", und so weiter. In Wahrheit war das die von Heidegger unterentwickelt gebliebene Seite. Er war ein Monologist, ein Denker der Folgerichtigkeit. Mit Heidegger eine Diskussion zu führen, das gab's gar nicht. Man konnte nur brav die richtigen Antworten geben, und dann ging es gut. Wenn man nicht die richtigen Antworten gab, dann wurde er ganz verstimmt. - Ist das jetzt soweit klar?

Wittusen: Ja. Aber zu Ihrer Gesprächs-Konzeption habe ich noch eine Frage.

Gadamer: Ja bitte!

Wittusen: Ihrer Meinung nach kommt das Verstehen von Gesprochenem durch einen "dialektischen" Dialog von Frage und Antwort zustande. Näher betrachtet geht es darum, daß man im Prinzip an alles, was gesagt wird, die Frage richten kann: "Warum sagst du das?" Denn erst, wenn das Nicht-Gesagte zusammen mit dem Gesagten verstanden ist, ist die Aussage verständlich, nicht wahr? Jede Aussage hat ja Voraussetzungen, die sie nicht aussagt - und die zum Verstehen mitgedacht werden müssen. Würden Sie sogar sagen, daß das Verstehen als ein Denken oder als ein inneres Gespräch mit sich selber zu charakterisieren ist?

Gadamer: Gewiß. - Sie wissen ja wahrscheinlich, daß bei Plato Denken schon so genannt wird, ein graphein in der Seele. Das macht allerdings die naive Voraussetzung, die in der späteren Entwicklung der griechischen Philosophie korrigiert worden ist, als ob es nur eine Sprache und nicht viele gäbe, nicht wahr? Die fremden Sprachen in platonischer Zeit waren nichts als Barbarei - barbaroi. Aber dann, in der Stoa, kommt zum erstenmal ein klareres Bewußtsein für die Vielsprachigkeit. Und in dem Moment ist selbstverständlich das graphein nicht mehr eindeutig. Sondern da muß man sich nun wirklich fragen: Was heißt das denn eigentlich, daß man denkt? Heißt es, daß man mit sich selbst spricht? - Tut man das in einer Sprache?

Wittusen: Das ist schwer zu sagen, eigentlich.

Gadamer: Eben! Vollständige Sätze sagt man sich gewiß nicht. Man denkt in einer anderen Weise. Ich habe das ja dann später als das innere Wort an Augustin entwickelt.6 Dort konnte man sehr schön sehen, warum der logos endiathetos, wie die Stoa gesagt hat, noch nicht eine bestimmte Sprache ist. Aber was das innere Wort nun ist, das ist das große Geheimnis. Daß man in Wahrheit etwas meint, für das man selber das Wort sucht, das ist das Geheimnisvolle. Von Heidegger wissen wir wohl auch genug, um zu wissen, daß Heidegger in seinem späteren Schaffen ständig in Begriffsnot war. Er suchte immer die richtigen Begriffe. Er war ja zweifellos ein Gottsucher, ich meine, ein Theologe, der es in der Erziehung seiner Kirche - Katholischen Kirche - mit seinem Verstand nicht hinbrachte. Und dann später hat er das bei Kierkegaard und in Arbeiten bei Bultmann in der protestantischen Theologie gesucht. Das war dann auch nicht ganz das Richtige. Und so hat er schließlich seine Privatreligion mit Hilfe von Hölderlin erfunden, womit er aber natürlich auch nicht zufrieden war. Wer kommt schon mit einem Dichter und seinen Worten zu eindeutigem Wissen? Das gibt es überhaupt nicht. Es ist in meinen Augen der Vorrang, den die Dichtung hat, daß sie immer neue Antworten gibt. Für mich ist jemand, wenn er ein Gedicht zu lesen beginnt und dann sagt "Das kenne ich schon", jemand, der überhaupt kein Verhältnis zur Dichtung hat.

Wittusen: Eine Ihrer Thesen besagt, daß jede Aussage als Antwort auf eine Frage verstanden werden muß. Inwiefern hat dies damit zu tun, daß wir die Frage, auf welche die Aussage des Gesprächspartners gleichsam antwortet, rekonstruieren müssen? Hat Ihre Dialektik überhaupt etwas damit zu tun? Wie ist das zu verstehen?

Gadamer: Da kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich saß in Amerika mal - in Boston war's wohl - neben Quine beim Essen. Und der hatte offenbar von mir das Gefühl "na ja, das sind diese komischen Deutschen, die bei allen möglichen Dingen mit historischer Gelehrsamkeit anrücken", und so weiter. Und dann gab es eine Situation, in der ich zu jemandem sagte: "Na ja, man kann doch nicht verstehen, wenn man nicht versteht, warum es gesagt wurde". - "Da haben Sie Recht!"

Wittusen: Hat Quine das gesagt?

Gadamer: Ja, es klang etwas überrascht. - Also, ich will damit nur sagen, so natürlich ist es eben im Grunde. Wenn man spricht, hat man immer etwas im Sinne.

Wittusen: Ein interessantes Moment ist, daß das sogenannte Rekonstruieren der Frage des Gesprächspartners immer in unser eigenes Fragen übergeht.

Gadamer: Richtig, und das ist, was ich Horizontverschmelzung nenne.

Wittusen: Aber damit wird gleichzeitig ein Nicht-Verstehen zugegeben? Ist es nicht so?

Gadamer: Nein, durchaus nicht. Verstehen ist nicht Zustimmen. Es kann ein Gegenargument geben, und vielleicht ein stärkeres. Die Abwehr eines möglichen Mißverständnisses muß auch möglich sein. Natürlich, das muß man alles prüfen, wenn man verstehen will, was der andere meint, die Intention. Ich will jetzt gar nicht die Terminologie der Phänomenologie hier einmogeln. Das liegt mir ganz fern. Das ist ein ganz normaler Ausdruck im Deutschen. Das, was ich sagen will, kann ich nie so sagen, daß ich sozusagen das Ganze gesagt habe. Und weil das so ist, kommt man sehr oft in die Lage, daß der Andere einem widerspricht oder auch zeigt, daß er falsch verstanden hat. Dann muß man mehr sagen. Dann kommt das Gespräch in Gang. Und das ist sogar gegenseitig. Auch darin wechselt es ja zwischen den beiden Partnern. Gespräch ist hier nicht etwa das Platonische Gespräch. Das ist ein sehr besonderes Gespräch. Das ist ein Lehrgespräch. Das ist bei Plato nun sehr genial, wie er sich hinter der Figur des Sokrates zurückhält. Man wird sich aber doch darüber im klaren sein, daß normalerweise der Mensch ... Ich habe den Faden verloren. Ich muß nochmal anfangen. Augenblick. Das ist jetzt das Alter.

Wittusen: Das kann auch mir passieren!

Gadamer: Das kann jedem passieren. Mein erstes Buch, das ich in Philosophie gelesen habe, war die Denkpsychologie von RichardHönigswald. Und das erste Kapitel hatte die Überschrift "Über das Verlieren des Fadens". - Aber im Ganzen ist wohl klar, worum es sich handelt. Das Eingespielte im Gespräch miteinander kennt kein Problem des Verstehens. Wie das zustande kommt, dazu hat meiner Meinung nach Aristoteles sehr schön die Rolle des Gedächtnisses und der Verständigung beschrieben. Und dieses wunderbare Gleichnis von dem fliehenden Heer, das wieder zum Stehen kommt!7 - Also, ist das nun eine Antwort?

Wittusen: Es geht mir darum, ob in gewissem Sinne immer ein Nicht-Verstehen dabei ist, wenn wir einander verstehen. Zu dieser Sache habe ich eigentlich noch eine Frage. Sie sagen an einer Textstelle, und zwar in Ihrem "Was ist Wahrheit?", daß die Frage kein Erstes ist, in das wir uns problemlos versetzen können, denn jede Frage ist selber Antwort. Es wird geradezu behauptet, daß es sich hier um eine Dialektik handelt, in die wir uns immer verstricken. Mit anderen Worten frage ich: Handelt es sich beim Verstehen immer um einen Interpretationsregreß?

Gadamer: Das ist eine sehr sachfremde Beschreibung für das, was ein Gespräch ist, und wie es sich immer wieder einspielt. Wir sagen das ja auch in der Umgangssprache so. Zum Beispiel, wenn ich in einem Museum bin, sage ich etwa: "Das Bild spricht mich an." Das ist ganz normales Deutsch. Wir sagen dafür sogar: "Die Dinge sprechen mich an", "Es gefällt mir hier", oder so was. - Auch dies ist bei Heidegger nur die Folge seines Monologismus, daß er nicht von vornherein festgehalten hat, daß ein Gespräch ständig seine Kehren macht. Der andere fängt plötzlich an, Gegenfragen zu stellen und so weiter. Das wechselt. Das ist nicht so, daß da einer ist, der fragt, und ein anderer muß antworten. Aus diesen Gründen glaube ich, es wird unnötig zugespitzt, wenn man sagt, es ist immer auch Mißverständnis drin. Das ist nicht notwendig. Das Gespräch kann die Sache offen lassen. Das ist sogar das eigentliche Fragen, nicht wahr. Wer eine Frage stellt, auf die er die Antwort weiß, lügt doch! Ich weiß nicht, ob Sie es kennen, aber wenn nicht, sollten Sie es einmal lesen, Heinrich von Kleist, "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden". Der hat das wunderbar gezeigt. Und im Grunde sollten wir unter uns doch offen sein und sagen, jedes Examen, das nicht ein Gespräch wird, ist ein solcher Schwindel. Ich habe ja wenig geprüft. Ich hatte das große Glück, im Dritten Reich unwürdig zu sein, und im Vierten Reich dann schon zu würdig. Ich hatte nur meine eigenen Schüler und nur der Form nach zu prüfen. Und wenn ich nicht vorher schon merkte, ob sie was können und das durch die Dissertation bewiesen haben, hätte ich sie ja gar nicht zum Examen rigorosum zugelassen. Bei einem Schüler habe ich nie versucht, festzustellen, ob er eine richtige Antwort gab, sondern ich habe immer eine Gegenfrage gestellt. Und erst, wenn die Sache so war, daß wir schon im Gespräch waren, und das heißt, wenn wir miteinander im Gespräch waren, konnte ich merken, ob er denken kann oder nicht. Die sogenannte "pädagogische Frage", die man in der Pädagogik lernt, nicht wahr, da lernt man ja viele Dinge, die man nicht machen soll [Lachen]; die pädagogische Frage ist keine wirkliche Frage. Beim wirklichen Fragen wird in die Ungewißheit hinein gefragt. Und das ist das Großartige, daß man zwischen Möglichkeiten steht. Das ist das große Rätsel der Frage. Dadurch sind wir denkend. Deswegen ist es eben nicht so, daß die Vögel Sprache haben. Die Wortsprache ist etwas anderes. Denn hier ist immer schon zugestanden, daß ich mich selber nicht voll ausdrücken kann und daß man mit anderen Möglichkeiten rechnen muß. Dasselbe wird in der Antwort liegen, und muß sich ständig in dem Gespräch zeigen. - Also, eine meiner Thesen ist daher: Ein Gespräch ist im Prinzip nie zu Ende.

Wittusen: Ihre These, daß ein Gespräch im Prinzip nie beendet ist, ist für das Verhältnis zu Wittgenstein interessant. Ich habe ja noch eine Frage ...

Gadamer: Ja, bitte.

Wittusen: ... die mit Wittgenstein zu tun hat. Wittgenstein hat versucht - vielleicht im Gegensatz zu Ihnen - das unmittelbare Verstehen darzulegen, das keiner Vermittlung im Sinne einer Interpretation bedarf.

Gadamer: Wonach hat er denn eigentlich gefragt?

Wittusen: Das ist selbstverständlich schwer zu sagen. Aber Reaktionen, Handlungen, sprich die Praxis, sind ihm wichtig gewesen.

Gadamer: Denkt man sich gar nichts dabei? Gehorchen? - Das war auch nichts für ihn. Er war ja ein wirklich genialer Mann.

Wittusen: Ja bestimmt, aber ...

Gadamer: Da ist gar kein Zweifel. Also, diese Metaphern und diese Sachen, die so vorkommen dabei, eben das ist ja alles wirklich von einem Genie. Ich bin also der Letzte, der das verkennt. Ich habe immer gesagt, die beiden Namen des Jahrhunderts sind "Heidegger" und "Wittgenstein".

Wittusen: Was ich meine, ist, daß es für Wittgenstein in erster Linie darauf ankam, die Möglichkeitsbedingungen der intersubjektiven Dimension der Sprache zu erörtern. Ich würde sogar sagen, daß es sich bei Wittgenstein um die Erörterung einer sogenannten Urform des Verstehens handelt. Bei Ihnen dagegen wird das Verstehen viel mehr auf den Menschen hin betrachtet, mit dem man redet. Was sagen Sie dazu? Wittgenstein denkt mehr sprachphilosophisch?

Gadamer: Das habe ich nie verstanden, was das heißen soll.

Wittusen: Es ist schwer, aber man muß es versuchen.

Gadamer: Ja, jawohl, ja natürlich. Und ich versuche jetzt, es zu klären. Ja, ich versuche zu klären, wieso wird durch Worte überhaupt etwas Bestimmtes kommunizierbar. Daß es also von einem zum andern hinübergeht. Sie erinnern sich an den berühmten siebten Brief von Plato; wie selten das passiert, daß einem etwas wirklich Neues aufgeht im Gespräch. Wo Verstehen kein Problem ist, wo es gar kein Drittes dazu braucht. Da braucht man gar nicht zu reden. Das muß doch vollkommen genügen, daß man dann selber, meinetwegen, liest. Das, was uns heute so verfolgt, nicht? Zum Beispiel hatten wir früher im Fernsehen so schöne Tierfilme, wo die Biologen selber redeten. Jetzt werden immer gelernte Sprecher eingesetzt. Das ist ja zum Davonlaufen. Nicht wahr, die gucken nicht mal mehr hin, die haben's vielleicht nie gesehen. Sie haben einen Text, den sie vorlesen. Und dabei passiert dann das wirklich Herrliche, das Fernsehen den Menschen geschenkt hat, daß wir Tiere aus aller Welt beobachten können, wie ich das in meiner Kindheit einfach nicht konnte, so sehr ich auch den zoologischen Garten in Breslau liebte. - Ja, selbstverständlich sehe ich die Andersartigkeit, und wenn Sie jetzt "sprachphilosophisch" sagen, dann meinen Sie, wieso können Worte überhaupt etwas meinen?

Wittusen: Genau, genau.

Gadamer: Und davon brauche ich allerdings keine Ahnung zu haben. Das liegt im Wort. Und insofern würde ich das immer schon voraussetzen, was Wittgenstein sagt. Selbstverständlich muß man die Sprache "können". Es muß soweit sein. Bei Kindern hat man oft diese höchst interessanten Beobachtungen, wie glücklich ein Kind ist, wenn es plötzlich ein Wort richtig gebraucht hat. Früher haben die Eltern alle gelacht, und auf einmal ist es richtig. Das ist doch ein Triumph. Selbstverständlich weiß ich, was Regelbefolgung ist. Aber dafür habe ich ein anderes Modell, das ist nämlich das Sprechenlernen. Da braucht man sich doch nur ein Kind anzusehen, wie die das machen. Obendrein hab ich dafür eine sehr gute aristotelische Analyse. Aristoteles hat in den Analytika Posteriora in einem Anhang die Epagogie behandelt, die Hinführung: Wie kommt man zu dem Anfang, zu dem Prinzip, zur arché? Wie macht man denn das? Das wird da ganz genau beschrieben. Und diese Beschreibung ist dann später von Themistius, einem der späteren Interpreten des Aristoteles, angewandt worden, um zu zeigen, wie Kinder sprechen lernen.

Wittusen: In Ihrem Artikel "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache" von 1992 haben Sie eine interessante Gegenüberstellung von den Begriffen ’Mitsamt’ und ’Miteinander’ herausgearbeitet. Das Mitsamt hat mit unseren Triebkräften zu tun. Zwar handelt es sich um ein Ineinander von Mitsamt und Miteinander. Was aber hier zu bemerken ist, ist, daß das Miteinander sich erst im Gespräch herausbildet, denn Sprechen kann auch den Charakter des Rituals haben. Der Gebrauch von Worten - sagen Sie - wird sehr oft in ein Handlungsgefüge eingesenkt, in dem sie ihre Funktion ausüben ...

Gadamer: Jawohl.

Wittusen: ... und solche Wortgebräuche liegen ja dem gesellschaftlichen Leben zugrunde, haben aber nichts mit wirklichem Verstehen zwischen Menschen zu tun. Wo es rituell zugeht, wird das Sprechen zu einem Handeln, haben Sie geschrieben. Das finde ich sehr interessant. Und hier wird vielleicht ein wichtiger Unterschied zwischen Wittgensteins Position und Ihrer Position angedeutet?

Gadamer: Ja! Ich glaube aber nicht einmal, daß wir da abweichen. Denn das ist ja das, was Wittgenstein erst recht behauptet, daß es eben Handeln ist, nicht wahr. Darin erfüllt es sich. Ich gebe es vollkommen zu, daß das so ist. Nur sehe ich absolut nicht, warum er die interessanten Probleme, die das Verstehen bietet, etwa die Frage, nicht beachtet ... Hat er über die Fragen einmal was gesagt?

Wittusen: Nein, glaube ich nicht.

Gadamer: Eben! Ich erinnere mich auch nicht. Ich habe nun lange, beileibe nicht alles von ihm gelesen. Aber das kann ja kein Mensch mehr in den Mauern von Gesamtausgaben.

Wittusen: Jetzt gibt es auch eine elektronische Ausgabe, die am Wittgenstein-Archiv in Bergen hergestellt wird. Sein Nachlaß ist ja riesig.

Gadamer: Sicherlich unwahrscheinlich.

Wittusen: In der Tat handelt es sich um ungefähr 20 000 Seiten. Aber, was ich meine, ist, daß Wittgenstein sich in erster Linie um die "rituelle" Dimension der Sprache gekümmert hat.

Gadamer: Das habe ich ziemlich gut beschrieben.

Wittusen: Ja, das denke ich auch. Und in jenem Artikel wird es klar, daß Sie - im Gegensatz zu Wittgenstein - das Phänomen des Verstehens vor allem aus einer ethischen Perspektive erörtern wollen.

Gadamer: Ja das kann sein, aber das ist sekundär. Denn selbstverständlich muß man bereit sein, den anderen so verstehen zu wollen, wie er es wohl gemeint hat. Wir kennen natürlich auch das Gegenteil. Es gibt Situationen, in denen das nicht so ist, in denen man sozusagen Streit sucht. Dann hört man absichtlich vorbei. Aber im Ganzen würde ich auch sagen - ja, diese Einbettung in ein wohlwollendes oder übelwollendes Verhalten spielt hinein, aber doch ist es nichts weiter als "offen lassen". Und ich meine, wenn wir etwas an der Sprache verstehen müssen, ist es doch dieses, daß sie so vieles, wie wir im Deutschen sagen, dahingestellt läßt. Das habe ich wohl auch gelegentlich irgendwo gesagt. Sie haben offenbar meine Sachen besser im Kopf als ich. Das Dahingestellt-Sein-Lassen. Wenn man das zum Gegenstand macht, dann sind wir schon nicht mehr im wirklichen Gespräch, sondern es geht da um "knowledge is power", schon eine Beherrschung.

Wittusen: Oder eine Technik?

Gadamer: Ja, alles. Ich sage seit sehr langem schon, "Demokratie", das ist ein leider etwas falscher Ausdruck für Oligarchie, nicht wahr? Wenn wir norwegische Fjorde haben und Schweizer Alpentäler - die letzten kenne ich ein bißchen - da gibt's noch Demokratie. Das ist nicht mal repräsentative Demokratie, sondern sie kennen einander. Und ich habe in der Schweiz eine Zeitlang mal ein kleines Häuschen gehabt, bevor wir das hier gebaut haben. Da hatten wir ein gemeinsames Wasserwerk mit den Nachbarn. Da war so eine Wassergesellschaft. In den Ferien waren wir da, und so wurden wir alle eingeladen. Denn die Hausbesitzer mußten zu all diesen Wassergesprächen. Und da habe ich gesehen, wie diese Bauern in den Alpen sich unterhalten, wie sie diszipliniert sind und jeder Redner zum Schluß sagt: "Vielen Dank, ich bin fertig." Und dann kam der nächste dran. Das war Demokratie in Praxis. Sie kannten einander. Sie wußten, was der andere sagen will. Und es wird gewogen. So, wie Sie jetzt Wittgenstein darstellen, und sicherlich mit Recht, bedeutet das, daß in der praktischen Lebensverständigung nicht interpretiert wird. Aber im allgemeinen ist dann nicht von Verstehen die Rede. Wir sagen sehr oft "Ja, ja, ich hab's kapiert, ist schon recht", oder "Ja, ja, ich hab's verstanden". Das heißt doch: "Ich hatte keine Mühe, es zu verstehen". Nicht wahr? Und im allgemeinen ist das doch gerade immer das Problem, daß es Mühe macht, sich zu verstehen, und daß der Andere anders denkt. Na ja, ich werde heute noch mehr Gelegenheit dazu kriegen.

Wittusen: Herr Gadamer, ich möchte gern noch einmal auf die Wittgensteinsche Thematisierung des Phänomens des Verstehens zurückgehen. Wenn es um die Frage nach den Bedingungen der Konstitution von Sinn geht, stellt Wittgenstein die Praxis, sprich das Regelfolgen, in den Vordergrund.

Gadamer: Warum nicht auch die Regelverletzungen?

Wittusen: In diesem Zusammenhang werden Phänomene wie unsere Reaktionen und nicht-sprachliche Tätigkeiten hervorgehoben. Beim Lesen der Arbeiten von Wittgenstein hat man ja manchmal das Gefühl, daß das Ausüben einer Praxis gleichsam automatisch geschieht.

Gadamer: Wenn man schon von Handeln redet, dann ist man sich doch auch eigentlich bewußt, daß man dafür verantwortlich ist.

Wittusen: In Wittgensteins sprachphilosophischen Erörterungen wird diese Dimension nicht betont, denke ich. Er versucht gerade, das unvermittelte ...

Gadamer: Reaktionen? Reaktionen sind kein Handeln!

Wittusen: Nein, das kann man selbstverständlich sagen. Es kommt mir

jedenfalls darauf an, daß Sie das Phänomen des Verstehens als ein wichtigeres Phänomen im Leben des Menschen behandeln. Denn bei Wittgenstein geht es soviel um Reaktionen und dergleichen.

Gadamer: Ja, ja. Nun war er ja halb am Wahnsinn, nicht wahr? Also das ist ja gar kein Zweifel. Ich kannte Findlay8 ganz gut, und der hat mir sehr viel von ihm erzählt. Er war ja offenbar ein sehr gefährdeter Mensch, und auch eine bewundernswerte Begabung. Natürlich in unendlich vielen Hinsichten, als Architekt, als Maler und Schriftsteller, und so weiter, und so weiter. Eine ganz unglaubliche Begabung. Eben dann wird alles sehr, sehr schwer. Das habe ich bei Heidegger auf eine andere Weise auch erfahren, nicht wahr. Das vergessen die Leute immer, wenn ein Mensch so klug ist wie Heidegger, hat er natürlich auch mit besonders großem Erfolg sich selber betrogen. - Auch ich versuche, wirklich bis in die Praxis hinein zu sehen. Aber ich habe so das Gefühl, Wittgenstein hat hier, ungewollt natürlich, das Schicksal unserer Zeit vorweggenommen, das darin besteht, daß die Menschen im allgemeinen überhaupt nicht mehr miteinander reden. Sie tauschen Informationen aus.

Wittusen: Wenn sie von Praxis reden, dann muß freilich Ihre Beschäftigung mit der praktischen Philosophie Aristoteles' berücksichtigt werden?

Gadamer: Eben! - Das ist etwas ganz anderes.

Wittusen: Wittgenstein hat, denke ich, sich nicht am Vorbild der aristotelischen Reflexionen orientiert.

Gadamer: Leider nicht. Da fehlt es ihm - bei allem Genie - ein bißchen an dem, was Praxis ist. Es ist nicht bloß Handeln!

Wittusen: Ich glaube aber dennoch, daß ein Vergleich Ihrer philosophischen Hermeneutik mit der Position Wittgensteins auf jeden Fall aufschlußreich sein kann.

Gadamer: Ich finde eine solche Gegenüberstellung nicht unnütz. Um genauer noch zu werden, das, worin man übereinstimmt, oder was man dabei vermißt, ist selber eine Aufgabe des Denkens. Und ich möchte noch etwas zur Interpretation sagen: Es ist ja klar, wenn Mißverständnis im Blick ist, dann gehört das dazu. Da muß man dazwischenreden; das heißt nämlich "interpretari".

Wittusen: Haben Sie vielen Dank, Herr Gadamer, für Ihre Gesprächsbereitschaft!

Notes
1.
Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um Auszüge aus einem Gespräch mit Hans-Georg Gadamer, das am 29. Juli 1997 an seinem Wohnsitz in Ziegelhausen (in der Nähe von Heidelberg) geführt wurde. Die schriftliche Fassung der Tonaufnahme wurde von Gadamer ausführlich kommentiert, wofür ich ihm herzlich danken möchte. Den Herausgebern danke ich für ihre Unterstützung bei der Transkription.
2.
Siehe z. B. "Die philosophischen Grundlagen des Zwanzigsten Jahrhunderts" (1965) in Gesammelte Werke, Band 4.
3.
Siehe z. B. "Was ist Wahrheit" (1957), "Mensch und Sprache" (1966) und "Die Universalität des hermeneutischen Problems" (1966) in Gesammelte Werke, Band 2. Siehe auch "Grenzen der Sprache" (1985) und "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache" (1992) in Gesammelte Werke, Band 8.
4.
Vgl. "Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz" (1965) in Gesammelte Werke, Band 2.
5.
Siehe z. B. "Destruktion und Dekonstruktion" (1985) in Gesammelte Werke, Band 2.
6.
Siehe das Kapitel "Sprache und Verbum" in Wahrheit und Methode (1960).
7.
Aristoteles, Analytika Posteriora B 19, 100 a 3ff.
8.
Professor John Findlay, ein aus Südafrika kommender englischsprachiger Gelehrter, war ein langjähriger Schüler von Russell und zeitweise auch mit Wittgenstein befreundet, ging aber dann nach Amerika und war Professor in Harvard. [Gadamers Kommentar]
Cato Wittusen. Date: XML TEI markup by WAB (Alois Pichler) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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