Certain Beyond all Reasonable Doubt -Wittgensteins narratives Modell des Wissens
Certain Beyond all Reasonable Doubt -
Wittgensteins narratives Modell des Wissens

Abstract

Mit der Frage nach dem Wissen begann vor über zweitausend Jahren die Geschichte der abendländischen Philosophie. Nach Aristoteles paradigmatischer Formulierung im berühmten ersten Satz seiner Metaphysik streben alle Menschen von Natur aus nach Wissen. Mit ihrer Selbstbezeichnung als Wissensgesellschaft scheint die Gegenwart somit in gewisser Weise endlich beim Telos einer langen philosophischen Tradition angekommen zu sein. Doch bezieht sich die heutige Wissensgesellschaft in ihrem Selbstverständnis keineswegs primär auf ihre philosophische Tradition, sondern auf ihre technologische Kompetenz. Möglicherweise resultieren jedoch gerade aus dieser Marginalisierung der philosophischen Implikationen des Wissensbegriffs - so meine These - viele ihrer immensen ungelösten Probleme.

Table of contents

    Mit der Frage nach dem Wissen begann vor über zweitausend Jahren die Geschichte der abendländischen Philosophie. Nach Aristoteles paradigmatischer Formulierung im berühmten ersten Satz seiner Metaphysik streben alle Menschen von Natur aus nach Wissen. Mit ihrer Selbstbezeichnung als Wissensgesellschaft scheint die Gegenwart somit in gewisser Weise endlich beim Telos einer langen philosophischen Tradition angekommen zu sein. Doch bezieht sich die heutige Wissensgesellschaft in ihrem Selbstverständnis keineswegs primär auf ihre philosophische Tradition, sondern auf ihre technologische Kompetenz. Möglicherweise resultieren jedoch gerade aus dieser Marginalisierung der philosophischen Implikationen des Wissensbegriffs - so meine These - viele ihrer immensen ungelösten Probleme.

    1. Das wissenschaftliche Wissen

    Die heutige informationstechnische Globalisierung ist das Ergebnis einer theoretischwissenschaftlichen Erfassung der Welt seit dem Beginn der Neuzeit. An ihrem Anfang stand die Vision, Wissen objektivierbar und für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen. Mit dem Aufbau eines weltumspannenden Datennetzes scheint die Realisierung dieses Projekts ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Notwendige formale Bedingung für die Durchführung des Programms war die Festlegung auf ein exaktes, geschlossenes und reproduzierbaren Zeichensystem, wie es bereits Galilei in seinem Satz vom Buch der Natur, das in der Sprache der Mathematik geschrieben sei, für einen weiteren Erkenntnisfortschritt implizit vorausgesetzt hatte. Seither setzt die wissenschaftliche Methode auf ein Erklärungsmodell der Welt ohne Rest. Für das zwanzigste Jahrhundert kann Wittgensteins Tractatus als die sprachphilosophische Vollendung dieser neuzeitlichen Rationalisierungstendenz verstanden werden. Der Tractatus stellt den Versuch dar, die Welt logisch neu zu fassen und so auch sprachtheoretisch den Erkenntnisbedingungen der Moderne gerecht zu werden. Sein Wahrheitsbegriff orientiert sich dabei klar am wissenschaftlichen Paradigma: "Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft." (T 4.11) Die Welt reduziert sich damit auf ein System von Tatsachen. Die Philosophie nimmt Wittgenstein jedoch bereits hier explizit von der wissenschaftlichen Methodik aus: "Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft. Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare." (T 4.113-4.114) Diese Aussage enthält ein klares Bewußtsein für die Grenzen des wissenschaftlichen Wissens. Eine Einheit des Wissens ist nach Wittgenstein nicht länger aufrechtzuerhalten. Diese Einsicht formuliert auch das berühmte Schweigegebot am Ende der Schrift. Das Schweigen rettet die Welt vor dem Versuch einer vollständigen rationalen Erschließung.

    An dieser Bruchstelle des Erkenntnismodells wird deutlich, daß Wittgensteins Sprachanalyse über ein positiv(-istisch)es Wissensmodell hinauszielt. Jenseits der klar definierten Welt des Sagbaren eröffnet sich ein nicht zu definierender Raum des Unsagbaren, dessen Bedeutung für das menschliche Leben jedoch von existentieller Tragweite ist: "Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind." (T 6.52) Das definitive Scheitern des Versuchs, mit dem Tractatus noch einmal ein geschlossenes sprachliches System des Wissens zu formulieren, bringt in der Folge das "Luftgebäude" (PU §118) des modernen wissenschaftlichen Wissens in Wittgensteins Philosophie zum Einsturz. Bekanntlich zog er sich, als Konsequenz aus diesem Ergebnis, für Jahre aus der Philosophie zurück. Sein späteres Denken empfand er als zutiefst unzeitgemäß. In zunehmendem Maße kritisiert er offen die wissenschaftlichen Ideale der Moderne. In einem Entwurf für ein Vorwort zu den Vermischten Bemerkungen spricht er 1930 davon, daß der Geist dieses Buches ein anderer sei " als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation" (VB 458). Mit dem zunehmenden Verzicht seines Philosophierens auf Geschlossenheit, Eindeutigkeit oder Sinn distanziert er sich radikal von der engen neuzeitlichen Form der Rationalität und vollzieht einen erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsel hin zu Kategorien wie Pluralität, Offenheit und Differenz.

    Heute erscheint uns Wittgensteins Philosophieren gerade in seiner gebrochenen Reflexionskontinuität zeitgemäß wie kaum ein anderes und als eine intellektuelle Vorwegnahme jenes umfassenden technologisch-ökonomischen Wandels, den wir gegenwärtig durchleben (Meder 1987, 11). Es durchläuft und vereint auf geradezu exemplarische Weise die fundamentalen Gegensätze des zwanzigsten Jahrhunderts: Einerseits demonstriert Wittgenstein auf faszinierende Weise die Möglichkeiten eines klaren und konsequent zu Ende gedachten Rationalismus und entwickelt doch gleichzeitig ein Gefühl für die Grenzen dieser Denkform. Ein Shakespeare-Zitat aus dem King Lear sollte ursprünglich als Motto vor den Philosophischen Untersuchungen stehen: "I'll teach you differences!" (Rhees 1987, 217) Rückblickend wissen wir, daß mit dieser Aussage nicht nur eine Dezentrierung des eigenen Werkes gemeint war, sondern gleichzeitig der Beginn einer Dekonstruktion von grundlegenden philosophischen Prämissen des gesamteuropäischen erkenntnisoptimistischen mainstreams seit der Aufklärung. Ausgehend von diesen kulturkritischen Tendenzen in Wittgensteins Spätphilosophie möchte ich versuchen, einen bislang vernachlässigten Aspekt seines impliziten Wissensmodells zu skizzieren und mit dem Selbstverständnis der heutigen Wissensgesellschaft zu konfrontieren.

    2. Das ästhetische Wissen

    Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde Wittgenstein hauptsächlich als ein positivistischer Denker rezipiert. Erst in jüngster Zeit setzte sich zunehmend - sicher auch begünstigt durch eine Veränderung des gesamtkulturellen Kontextes - die Einsicht durch, daß Wittgenstein im Prinzip lange vor den französischen Poststrukturalisten "eine Art sinnkritischen Anti-Diskurs" (Mersch 1991) begonnen hat. An die Stelle unendlicher Reflexion treten in seinem Spätwerk zunehmend Reflexionen der Endlichkeit. Dem neuzeitlich-modernen Wissensideal wird eine unmißverständliche Absage erteilt: "Mein Ziel ist also ein anderes als das der Wissenschaftler, und meine Denkbewegung von der ihrigen verschieden." (VB 459) Im Grunde stellt Wittgensteins gesamtes späteres Philosophieren eine Auseinandersetzung mit dem wissenschaftlichen Denkmodell dar. So schreibt er 1947: "Es ist z.B. nicht unsinnig, zu glauben, daß das wissenschaftliche und technische Zeitalter der Anfang vom Ende der Menschheit ist; daß die Idee vom großen Fortschritt eine Verblendung ist, wie auch von der endlichen Erkenntnis der Wahrheit; daß an der wissenschaftlichen Erkenntnis nichts Gutes oder Wünschenswertes ist und daß die Menschheit, die nach ihr strebt, in eine Falle läuft. Es ist durchaus nicht klar, daß dies nicht so ist." (VB, 529) Diese totale Absage an das neuzeitliche Wissensmodell ist eindeutig und kompromißlos. Für Wittgenstein erfassen wissenschaftliche Fragestellungen die Wirklichkeit unter einem reduzierten Blickwinkel: "Die Wissenschaft: Bereicherung und Verarmung. Die eine Methode drängt alle anderen beiseite. Mit dieser verglichen scheinen sie alle ärmlich, höchstens Vorstufen. Du mußt zu den Quellen niedersteigen, um sie alle nebeneinander zu sehen, die vernachläßigten und die bevorzugten." (VB, 536)

    Sein philosophisches Modell des Wissens öffnet sich dagegen zunehmend von der Logik zur Ästhetik hin und entdeckt dabei "die seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung mit einer ästhetischen." (VB 485) Die ästhetische Betrachtungsweise gibt den Dingen ihre ursprüngliche Rätselhaftigkeit und Bedeutungsvielfalt zurück: "Die Wahrheit ist, daß die wissenschaftliche Betrachtungsweise einer Tatsache nicht die gleiche ist, in der man sie als Wunder ansieht." (VE, 17) Unter solchen veränderten Erkenntnisperspektiven verändern sich auch die Bewertungskriterien von Erkenntnis: "Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen." (VB, 501) Auf diese Weise holt Wittgenstein explizit das Erkenntnispotential der Kunst in den Diskurs des Wissens zurück.

    Die in seinen letzten Lebensjahren entstandenen und bis wenige Tage vor seinem Tod durchgeführten Aufzeichnungen Über Gewißheit enthalten noch einmal Wittgensteins radikale Reflexionen über die Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis. Das theoretisch-abstrakte Wissensideal der Moderne wird definitiv überführt in die eher situativ-konkret begründete Gewißheit der jeweils augenblicklich praktizierten Sprachspiele. Jedes Wissenskonzept erweist sich damit im Grunde als partikular und fiktiv:

    "Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide."
    (ÜG 94)

    Jeder Glaube an eine Objektivität des Wissens ist ein Irrtum: "Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung." (ÜG 378) Auch unser wissenschaftliches Weltbild ist keineswegs rein rational begründet, sondern beruht in letzter Konsequenz auch auf rhetorischer Übereinkunft: "Am Ende der Gründe steht die Überredung." (ÜG 612) Solche Einsichten führen zu einer paradigmatischen Verschiebung des Wissensmodells: "Hier ist wieder ein Schritt nötig ähnlich dem der Relativitätstheorie." (ÜG 305) Das Wissen verliert seinen feudalen Herrschaftsanspruch und seine lineare Perspektive: Wissen wird zu einer Konstruktion, abhängig von Raum, Zeit und Kultur.

    3. Das narrative Wissen

    Am Anfang der abendländischen Geschichte der Rationalität entdeckten die griechischen Philosophen, "daß Wissen ohne Erzählung auskommen kann" (Schlaffer 1990, 58). In seiner Kritik am wissenschaftlichen Wissensmodell kehrt Wittgenstein an diese Anfänge des europäischen Denkens zurück. In Analogie zur ästhetischen Perspektive entwickelt er einen neuen, kontemplativen Blick auf die Welt: "Nun scheint mir aber, gibt es außer der Arbeit des Künstlers noch eine andere, die Welt sub specie aeterni einzufangen. Es ist - glaube ich - der Weg des Gedankens, der gleichsam über die Welt hinfliege und sie so läßt, wie sie ist - sie von oben im Fluge betrachtend." (VB 456) Eine solche Betrachtungsweise verändert den Zugriff auf die Wirklichkeit und entwirft auch ein anderes Modell des Wissens. Spätestens seit Bacons Verknüpfung von Wissen und Macht am Beginn der Neuzeit war die kontemplative Form von Erkenntnis in Vergessenheit geraten. Das Programm der neuzeitlichen Rationalität formulierte einen ausschließlichen Herrschaftsanspruch über die Welt. Angesichts der unvorstellbar großen Menge an Daten und Wissen, die sich mittlerweile angesammelt hat und die in keinen sinnvollen individuellen Erfahrungszusammenhang mehr integriert werden kann, erfahren wir heute unmittelbar in unserem alltäglichen Handeln diese von Wittgenstein lange vor ihrer technischen Realisierung thematisierte Problematik von der Irrationalität unseres Wissensmodells.

    In Wittgensteins Spätphilosophie führt die ästhetische Verschiebung seiner Erkenntnisprämissen letztlich zu einer Absage an jedes einseitige, wissenschaftlichrationalistische Modell des Wissens und zur Wiederentdeckung einer anderen und sehr alten Form des Wissens: "Es gibt Probleme, an die ich nie herankomme, die nicht in meiner Linie oder in meiner Welt liegen. Probleme der abendländischen Gedankenwelt, an die Beethoven (und vielleicht teilweise Goethe) herangekommen ist, und mit denen er gerungen hat, die aber kein Philosoph je angegangen hat (vielleicht ist Nietzsche an ihnen vorbeigekommen). Und vielleicht sind sie für die abendländische Philosophie verloren, d.h., es wird niemand da sein, der den Fortgang dieser Kultur als Epos empfindet, also beschreiben kann." (VB 462) Mit dieser Wendung von einer logischen zu einer anthropologischen Perspektive lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des narrativen Wissens als zentralen Ort der Selbsterkennnis einer Gesellschaft zurück. Das narrative Wissen provoziert geradezu einen permanenten fiktiven Deutungswechsel und die spielerische Erprobung von immer neuen (Sinn-)Alternativen. Diese Wiederentdeckung des aufklärerischen Gestus von Erzählungen zeichnet sich an den Grenzen eines rein wissenschaftlichen Weltentwurfs ab und eröffnet so eine Möglichkeit, kulturgeschichtlich tradierte Semantiken aufzubrechen. Wenn jeder Weltentwurf an Sprache gebunden ist, kann es kein Wahrheitsmonopol des Wissens geben.

    Die offene und vieldeutige Signatur des narrativen Wissens rehabilitiert auch die oftmals paradoxen Wissensstrukturen unserer Alltagspraxis: -, Certain beyond all reasonable doubt'- (ÜG 416). Eine solche Aussage jenseits der wissenschaftlichen Vernunft rückt uns unserem Leben wieder ein Stückchen näher. Wittgensteins narratives Modell des Wissens eröffnet somit in einer kulturkritischen Vorwegnahme den philosophischen Dialog mit der Wissensgesellschaft.

    Zitierte Arbeiten:

    1. Meder, N. (1987), Der Sprachspieler. Köln: Janus Presse.
    2. Mersch, D. (Hg.) (1991), Gespräche über Wittgenstein. Wien: Edition Passagen.
    3. Rhees, R. (Hg.) (1987), Ludwig Wittgenstein. Porträts und Gespräche. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    4. Schlaffer, H. (1990), Poesie und Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    5. Wittgenstein, L. (1984), Tractatus logico-philosophicus (T), Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    6. Wittgenstein, L. (1984), Philosophische Untersuchungen (PU), Werkausgabe Bd.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    7. Wittgenstein, L. (1984), Vermischte Bermerkungen (VB), Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    8. Wittgenstein, L. (1984), Über Gewißheit (ÜG), Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    9. Wittgenstein, L. (1989), Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Hg. v. J Schulte, Frankfurt a.M. : Suhrkamp.
    Claudia Fahrenwald. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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