Spuren Tolstois in Wittgensteins Tagebüchern von 1914-1916
Spuren Tolstois in Wittgensteins Tagebüchern von 1914-1916

Abstract

In diesem Referat soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Tolstois religiöse Schriften, insbesondere dessen Auseinandersetzung mit dem Evangelium, auf Wittgenstein gewirkt und seine Einstellung gegenüber Ethik und Religion geprägt haben könnten. Eine Untersuchung von Wittgensteins Tagebüchern von 1914¬1916 zeigt, daß im philosophischen Teil – möglicherweise unter dem Einfluß Schopenhauers und Spinozas – die Tendenz zu einer mystisch-pantheistischen Betrachtung der Welt vorherrscht, bereits aber eine Annäherung an eine christlich-religiöse Sichtweise im tolstojanischen Sinne zu beobachten ist, die vor allem den persönlichen, in Geheimschrift geführten Tagebuchteil bestimmt. Ein Vergleich mit Tolstoi enthüllt frappierende Ähnlichkeiten: Gott wird in erster Linie mit Vernunft bzw. dem Geist assoziiert, was zu einem Streben nach Spiritualität und einem Kampf gegen sinnliche Regungen führt. Die Rechtfertigung eines glücklichen Lebens ist durch ein Leben in der Erkenntnis gegeben sowie in einer gelassenen Haltung, die sich der Abhängigkeit von Gott bewußt ist. Gott bedeutet die Liebe, die auch im Zusammenhang mit dem Einheitsgedanken angesprochen wird, den Tolstoi offensichtlich von Schopenhauers Ethik übernommen hat.

Table of contents

    Bei Einsicht von Wittgensteins Nachlaß wird in seinen philosophischen Gedankengängen ein Streben nach "Licht" – nach Durchsichtigkeit bzw. "Transparenz" - deutlich – dies in inhaltlicher wie auch formaler Hinsicht. Die Wurzeln dafür können bereits in den während des Ersten Weltkrieges geführten Tagebüchern, und der damaligen Beschäftigung mit Tolstois Kurzer Darlegung des Evangelium gefunden werden. In den codierten Tagebucheintragungen persönlichen Inhalts wird eine Suche nach Gott deutlich, die sich in einem Streben nach Spiritualität, und als Folge, in einem Kampf gegen sinnliche Regungen ausdrückt.

    Wer Tolstois Interpretation der Evangelien liest, wird wiederholt auf ähnliche Stellen, insbesondere hinsichtlich der Suche nach dem Geist, der Wahrheit und dem "Licht" stoßen. So heißt es zu Beginn des Ersten Kapitels: "Der Mensch ist ein Sohn Gottes, ohnmächtig im Fleische und frei durch den Geist. (Vater unser!)"(KDE, 31) Im zweiten Kapitel: "Und darum muß der Mensch nicht dem Fleische, sondern dem Geiste dienen. (Der du bist im Himmel)"(KDE, 38)

    Zu Beginn des sechsten Kapitels über "Das falsche Leben" lesen wir:

    Und dazu, daß er das wahre Leben empfange, muß der Mensch auf Erden sich lossagen von dem falschen Leben des Fleisches und muß durch den Geist leben. (Wie im Himmel, also auch auf Erden.)1

    Nicht nur im Streben nach einem Leben im Geist lassen sich bei Wittgenstein Bezüge zu Tolstois Schrift herstellen, sondern in einer Reihe weiterer Gedanken der Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit, sowohl im philosophischen als auch im persönlichen Teil:

    1) Der Gedanke der Heiligkeit des Lebens und der Rechtfertigung eines guten und glücklichen Lebens: Gott wird von Wittgenstein mit dem Sinn des Lebens bzw. der Welt identifiziert, der außerhalb der Welt der Tatsachen liegt und folglich rational nicht faßbar ist. Doch der Glaube an Gott läßt die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen; er führt zur Einsicht, daß es außerhalb des Tatsachenraumes noch etwas anderes gibt. Die Problematik des Lebenssinns läßt sich jedoch nur lösen, wenn wir versuchen, ein glückliches Leben zu führen – der "Not der Welt zum Trotz" (TB, 176). Dieses ist jedoch ein Leben in der Erkenntnis, mit Verzicht auf die sogenannten "Annehmlichkeiten der Welt" (TB, 176) und mit Verzicht auf einen "Einfluss auf die Geschehnisse"(TB, 167) – eine gelassene Haltung gegenüber dem Weltgeschehen, die an Spinozas Forderung, durch Erkenntnis der Allnotwendigkeit diese zu akzeptieren, erinnert.

    2) Daß dieses gute und wahre Leben nur dann gewährleistet ist, wenn wir dem "Willen des Vaters des Lebens" dienen. (KDE; Kap. IV, V, VII). –Wittgenstein schreibt von der Übereinstimmung mit der Welt und "jenem fremden Willen, von dem ich abhängig erscheine. Das heißt: 'ich tue den Willen Gottes'." (TB, 169)

    Wittgenstein nimmt aber auch Gedanken von Schopenhauers Metaphysik des Willens bzw. der Natur mit auf - wie auch hinsichtlich des Lebens außerhalb von Raum und Zeit und hinsichtlich des Bewußtseins, daß wir alle im innersten Wesen miteinander verwandt sind. Diese Gedanken, wie auch die im folgenden unter Punkt 3 und 5 angeführten, scheint Tolstoi von Schopenhauer übernommen zu haben, dessen Werk "Die Welt als Wille und Vorstellung" auf ihn laut eigenen Aussagen von faszinierender Wirkung gewesen sei.2

    Im Gegensatz zu den "philosophischen" Tagebüchern 1914-1916 tritt in den verschlüsselten Aufzeichnungen der "fremde Wille" zurück, Wittgenstein spricht stattdessen vom Geist oder von einem persönlichen Gott: der ersehnte "innere Friede", im Verständnis den Mitmenschen gegenüber, scheint ihm nun durch ein "gottgefälliges" Leben gewährleistet. (6.5.16)

    3) Auch der Gedanke des harmonischen Zusammenlebens mit den Mitmenschen, die im Innersten alle eines Wesens sind, findet sich in Tolstois Darlegung des Evangelium: "Das wahre Leben liegt nicht allein außerhalb der Zeit, als ein Leben im Gegenwärtigen, sondern ist auch ein Leben außerhalb der Persönlichkeit, als ein allen Menschen gemeinsames Leben." 3

    4) Daß dieses Leben gemäß dem Willen des Vaters "vernünftig" ist. Wittgenstein schreibt wiederholt vom "vernünftigen" und rechten Leben.

    5) Daß dieses wahre und gute Leben außerhalb der Zeit, "im Gegenwärtigen" liegt. Im VIII. Kapitel schreibt Tolstoi: "Das Leben ist keines in der Zeit. Und darum lebt der Mensch wahrhaft, wann er sich nährt von der Erfüllung des Willens des Vaters im Gegenwärtigen und abläßt von allen Gedanken an das Vergangene und Zukünftige." (KDE, 126)

    Dazu Wittgenstein:"Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich." (TB, 169) Weiters betonte er, daß es für das Leben in der Gegenwart keinen Tod gebe und die Angst vor dem Tode Zeichen eines falschen bzw. schlechten Lebens sei. Unter dem Leben in der Gegenwart verstand er nicht Ewigkeit, sondern Unzeitlichkeit – durch die Führung einer Lebensweise, die ganz der Gegenwart gewidmet ist, im Sinne des Einklangs mit der Welt und mit Gott, in Übereinstimmung mit dem Gewissen, ein Leben in der Vernunft, im Geiste.

    Tolstoi schreibt, daß der Trug des zeitlichen Lebens den Menschen das "wahre Leben im Gegenwärtigen und in der Vereinigung mit dem Vater" verberge. (KDE, 139)

    Am 1.9.1914 begann Wittgenstein in Tolstois Schrift Kurze Darlegung des Evangelium zu lesen: "Ein herrliches werk", notierte er am 2.9. in sein Tagebuch. Diese Schrift wurde für ihn während des Krieges zum unentbehrlichen Begleiter, der ihn "geradezu am Leben" erhielt, wie er sich später in einem Brief an Ludwig von Ficker ausdrückte.(BLF, 28)

    "Immer wieder sage ich mir im geiste die worte Tolstois vor: 'Der mensch ist ohnmächtig im fleische aber frei durch den geist.' Möge der Geist in mir sein!" (12.9.14)

    Die Anrufung des Geistes zum Kampf gegen körperliche Bedürfnisse bestimmt die folgenden Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit, in der er eine Chance sah, "ein anständiger Mensch zu sein", da er "Aug in Auge" mit dem Tode stand.(15.9.14) Am 5.10.1914 schreibt er in sein Tagebuch:

    "[...] In den zeiten des äußeren Wohlergehens denken wir nicht an die Ohnmacht des fleisches; denkt man aber an die zeit der not dann kommt sie einem zum bewusstsein. Und man wendet sich zum geist.---"

    In seiner Angst, sich angesichts der ihn umgebenden Roheit der Kriegskameraden und der Gewalttätigkeiten des Krieges zu verlieren, beschwört er gleichermaßen Gott und den Geist, ihn nicht zu verlassen. In dieser Zeit finden sich fortlaufend Eintragungen wie: "Möge der geist mich erleuchten!" (15.9.14), "Möge der geist mich nicht verlassen und in mir beständiger werden. ---"(7.11.14)

    "Der geist beschütze mich was immer geschehe! ---" (1.12.14), "Lebe nur der Geist! Er ist der sichere hafen geschützt abseits vom trostlosen unendlichen grauen meer des geschehens. --- "(13.12.14)

    Im Geist erblickt Wittgenstein nicht nur ein Mittel gegen die Ohnmacht des Fleisches und die ihn umgebende Roheit, sondern auch ein Mittel gegen seine Depressionen. Vor allem aber benötigt er den Geist für seine philosophische Arbeit - der Logisch-philosophischen Abhandlung, von der er ein - noch unvollständiges - Manuskript mit sich führt. Geistige Arbeit bedeutet ihm eine "Gnade" in seiner seelischen Not. Mehrmals trägt er den einen Satz ein: "Die Gnade der Arbeit!!!"(2.11.14, 1.5.14, 14.7.16)

    In der Arbeit sieht er die Möglichkeit zu einer frommen Lebensführung, die vonnöten ist, um in Anbetracht der Grauen des Krieges auszuharren:

    "[...] Und arbeite nicht zum zeitvertreib sondern fromm um zu leben!" (12.11.14)

    Seine philosophische Arbeit erfüllt sein Denken und Tun; die ihn gleichfalls stark beeindruckende Umwelt spiegelt sich in seinen Aufzeichnungen wider - Innenwelt und Außenwelt fließen ineinander über: Das philosophische Problem, für das er eine Lösung sucht, erscheint ihm wie eine "Belagerung":

    [...] Ziemlich viel gearbeitet aber ohne rechte klarheit des sehens! Ob ich noch weiter werde arbeiten können? (!) Ob der vorgang schon fällt?? Es wäre merkwürdig da ich in mitten eines problems stecke, in mitten einer belagerung. ---.---! (12.11.14)

    Am 31.10.1914:

    [...] Habe das Problem verzweifelt gestürmt! Aber ich will eher mein Blut vor dieser festung lassen ehe ich unverrichteter Dinge abziehe. Eine grösste schwierigkeit ist die einmal eroberten forts zu halten bis man ruhig in ihnen sitzen kann. Und bis nicht die stadt gefallen ist kann man nicht für immer ruhig in einem der forts sitzen. ---

    Wittgensteins Suche nach einer Lösung in philosophischen Problemen, für deren Erfassung durch präzise Formulierung und Erklärung, verläuft parallel zu seiner Suche nach Antwort auf religiöse Fragen, zu seiner Sehnsucht nach Erlösung von innerer Not: Der Terminus "erlösendes Wort", der später häufig in seinen philosophischen Schriften vorkommen sollte, taucht hier erstmals, und mehrere Male auf: "Ob mir der erlösende Gedanke kommen wird? ob er kommen wird??!! ---" (17.10.1914). Je näher er vor der Lösung der Probleme steht, um so qualvoller empfindet er die Erfahrung des Scheiterns. Am 21.11.14 heißt es:

    [...] Ziemlich gearbeitet. Aber noch immer kann ich das eine erlösende wort nicht aussprechen. Ich gehe rund um es herum & ganz nahe aber noch konnte ich es nicht selber erfassen!!

    Am 22.11.1914: "[...]. Das erlösende wort nicht ausgesprochen. Gestern lag es mir einmal ganz auf der zunge. Dann aber gleitet es wieder zurück. --- "

    Die enge Verknüpfung von Geist, Moral, Pflicht und Arbeit zeigt sich in den Tagebuch-Aufzeichnungen des weiteren insofern, als Wittgenstein gleichzeitig über seine geistige und seelische Verfassung und seine Fortschritte in der philosophischen Arbeit genauestens Protokoll führt: "Wieder gearbeitet" (17.1.15); "Fast nicht gearbeitet" (29.1.15), "Ein klein wenig gearbeitet"(2.2.15) usw.

    Die Angst, nie wieder arbeiten zu können, überfällt ihn häufig. Am 20.7.1916 ermahnt er sich: "Arbeite nur fort, damit du gut wirst!"

    Parallel verlaufend zu seinen Aufzeichnungen über seine Arbeit macht er sich Gedanken und Vorwürfe über seine Sinnlichkeit, so daß Geistigkeit und Sinnlichkeit einander gegenübergestellt und geradezu gegenseitig abgewogen werden: "Wieder etwas sinnlich. "(30.11.14); "Sinnlich." (21.2.15); "Sehr sinnlich"(23.3.15) usw.. Am 2.1.1915 notiert er, daß sein "moralischer Stand jetzt viel tiefer" als etwa zu Ostern sei, am 4.3.1915, er sei "moralisch matt". Vor allem fürchtet er, sich selbst zu verlieren und seiner Pflicht nicht nachzukommen. Diese Befürchtung ist stärker als die Angst, erschossen zu werden. (12.9.14) Seine Sinnlichkeit, wie auch sein Wunsch, zu überleben, erschrecken ihn derart, daß er sich ähnlich einem Tier fühlt und Gott um Hilfe im Kampf gegen seine "schlechte Natur" anfleht.

    In Sinnlichkeit und Sünde zu leben, bedeutet für ihn, unglücklich zu sein, "unvernünftig" - vom guten und rechten Leben entfernt, welches ein "vernünftiges" Leben, ein Leben im Geist wäre. Wittgenstein bittet demnach Gott und den Geist einmal abwechselnd, einmal in einem Atemzug, ihn zu erleuchten – der enge Zusammenhang zwischen philosophischer und religiöser Bedeutung wird augenscheinlich. "Gott mit mir! [...] Möge der Geist mich erleuchten."(15.9.14)

    Der Geist steht primär für Vernunft – in philosophischer Hinsicht für die zur Erkenntnis benötigte "ratio", in religiöser Hinsicht für die Vernunft, die zu einer tugendhaften Lebensweise führt, eng verwoben mit der Erkenntnis Gottes, der für Wittgenstein Symbol des Guten und Ethischen war.4

    Bei einem Vergleich mit Tolstoi findet sich in dessen Schrift "Gedanken über Gott" eine ähnliche Betonung der Vernunft. Gott wird als Urprinzip der Vernunft bezeichnet. Demnach wird Gott als Gott-Geist angesprochen, weniger als Gott-Vater. Der Begriff eines Gott-Schöpfers wird sogar abgelehnt. "Der Gott-Geist erlöst vom Leiden und vom Bösen und ist immer das vollständige Heil." (GüG, 24)

    Auch der Aspekt der Abhängigkeit von Gott kommt bei Tolstoi zum Ausdruck: "Du erkennst Gott nicht vermittelst der Vernunft, auch nicht des Herzens, sondern durch die empfundene vollständige Abhängigkeit von Ihm [...]" (GüG, 17). Wittgenstein, für den die Abhängigkeit von Gott eine entscheidende Rolle in seinem Verständnis von Religion spielte, und der sich in anderen Schriften dabei auf Kierkegaard bezieht, gibt sich in Augenblicken der Erschöpfung und Ratlosigkeit wiederholt in Gottes Hand: "Dein wille geschehe.---"(28.10.14).

    "Aber nicht mein sondern dein wille geschehe!"(30.3.16)

    In Anbetracht der wachsenden Gefahr des Todes wird Wittgensteins Verhältnis zu Gott inniger, sein Ton leidenschaftlicher. Im Gegensatz zu den beiden ersten Heften, in denen er häufig den "Geist" um Hilfe anfleht, spricht er im dritten Heft, 1916, vor allem von Gott, der ihm zum unentbehrlichen Du wird. Ähnlich der Heiligen Theresa von Avila erkennt er, daß Gott allein genügt: "Nur Gott braucht der Mensch." - vermerkt er am 30.4.16.

    Dem Tode täglich gegenüber, ahnt Wittgenstein neue Dimensionen hinsichtlich der Bedeutung des Lebens.

    [...] Dann wird für mich erst der krieg anfangen. Und kann sein - auch das leben! Vielleicht bringt mir die Nähe des todes das licht des lebens! Möchte Gott mich erleuchten. Ich bin ein Wurm, aber durch Gott werde ich zum menschen. Gott stehe mir bei. Amen. (4.5.16)

    Selbst die philosophische Arbeit wird angesichts der Todesnähe unwesentlich: "Hätte jetzt reichlich zeit und ruhe zum Arbeiten. Aber es rührt sich nichts. Mein Stoff ist weit von mir entfernt. Der Tod gibt dem Leben erst seine bedeutung." (9.5.16)

    Als er sich wieder mit philosophischen Problemen befaßt, kommt er zu ersten Einsichten seiner später bestimmenden Auffassung über die Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbaren: "Was sich nicht sagen lässt, lässt sich nicht sagen!" (7.7.16)

    Dies gilt insbesondere für den metaphysischen Bereich: für Gott, der sich weder begreifen noch bezeichnen läßt, wie auch Tolstoi betonte: "Würde ich Ihn begreifen, so würde ich Ihn erreichen und würde nichts mehr erstreben können und das Leben würde nicht mehr sein. Was aber als ein Widerspruch erscheint, ist, daß ich Ihn zwar weder begreifen noch bezeichnen kann, Ihn aber doch ahne, den Weg zu Ihm weiß und dies meine sicherste Erkenntnis ist. [...] Ich kann und will mich Ihm nähern, und darin besteht mein Leben, doch vergrößert dies nicht meine Erkenntnis von Ihm [...]. Jeder Versuch meiner Einbildung, Ihn zu erkennen [..] entfernt mich von Ihm und setzt meiner Annäherung an Ihn eine Grenze." (GüG, 15f.)5

    Die Suche nach Gott ist auch bei Wittgenstein als lebensbestimmende Komponente spürbar und verlief parallel, und in ähnlicher Intensität, zu seinem Streben nach Lösung philosophischer Probleme. Diese Klarheits- und Wahrheitssuche war ihm "Lebenselixier", gab ihm den Impuls zu nimmermüden Gedankengängen, da die Spannung zwischen Wissen und Glauben, zwischen rationaler Erkenntnis und bloßer Ahnung nicht zu lösen war.

    Wilhelm Baum, der bereits 1977 auf Wittgensteins "tolstojanisches Christentum" hingewiesen hat, sieht ihn als einen negativen Theologen, mit Ockham, Kierkegaard, Nikolaus von Kues und Kant in eine Reihe gestellt. Was Wittgensteins Weigerung eines philosophischen Disputes über Gott, und sein eher mystischer Zugang betrifft, hat Baum recht; der Terminus "negativer Theologe" scheint mir hingegen zu eng. Wittgenstein irgendeiner religiösen Haltung zuzuordnen ist problematisch – nicht nur, da Widersprüche und Wandlungen festzustellen sind, sondern auch, weil wir mit dem an schriftlich Überlieferten noch lange nicht von einer umfassenden Kenntnis von Wittgensteins Religiosität sprechen können.

    Die in den codierten Tagebucheintragungen feststellbare Suche nach Gott äußert sich als eine, aus einem Zustand existentieller Not und Einsamkeit entsprungene Suche. Als eine Art "Notschrei", der sich allerdings auch 30 Jahre später findet, zumindest die gedankliche Auseinandersetzung damit:

    Ein Notschrei kann nicht größer sein, als der eines Menschen.

    Oder auch keine Not kann größer sein, als die, in der ein einzelner Mensch sein kann.
        Ein Mensch kann daher in unendlicher Not sein & also unendliche Hilfe brauchen.
        Die christliche Religion ist nur für den, der unendliche Hilfe braucht, also nur für den der unendliche Not fühlt.[...] (VB, 93f.)

    Das Christentum, so Tolstoi, ist eine Lehre, die dem Leben Sinn gibt – ob es auf göttlicher Offenbarung oder historischer Erscheinung beruhe, sei dabei gleichgültig (KDE, 13) – eine Einstellung, die Wittgenstein mit ihm uneingeschränkt teilte.

    Die Suche nach Sinn äußert sich in den frühen Tagebüchern in einem Streben nach geistiger Erleuchtung - auf einer Ebene mit einem Streben nach Klarheit über sich selbst und seine philosophischen Gedankengänge, nach "Transparenz" – die seine Philosophie durchdringen sollte.

    Die Betonung des Geistigen im Zusammenhang mit Religiosität wird hier besonders deutlich, doch noch Jahre später bleibt Wittgensteins Ringen mit persönlichen und philosophischen Problemen eng mit seinem Ringen um religiöse Fragen verbunden:

        "Die Leiden des Geistes los werden, das heißt die Religion los werden", notierte er am 21.2. [1937] in sein Tagebuch. (DB, 191)

    Literatur

    1. Baum, W. 1977 "Wittgensteins tolstojanisches Christentum", Österreichische Philosophen und ihr Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart. Bd. I (= Conceptus, Bd. 28/30). Innsbruck, 339-349.
    2. Birukoff, P. (Hg.) 1909 Leo N. Tolstois Biographie und Memoiren, Wien und Leipzig.
    3. Pichler, A./ von Wright, G.H. (eds.) 1994 Vermischte Bemerkungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    4. Schopenhauer, A. Sämtliche Werke. Zürcher Ausgabe. Zürich: Diogenes.
    5. Schulte, J. (ed.) 1989 Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt: Suhrkamp.
    6. Somavilla, I. (ed.) 1997 Ludwig Wittgenstein. Denkbewegungen. Tagebücher 1930-32/1936-37, Innsbruck: Haymon. ( = DB)
    7. Tolstoi, L. 1892 Kurze Darlegung des Evangelium. Aus dem Russischen von Paul Lauterbach. Leipzig: Reclam. = KDE
    8. Tolstoi, L. 1901 "Gedanken über Gott". Über Gott und Christentum. Deutsch von Dr. M. Syrkin. Berlin, Steinitz Verlag. = GüG
    9. Von Wright, G.H./ Methlagl, W. (eds.) 1969 Wittgenstein. Briefe an Ludwig von Ficker, Salzburg: Otto Müller Verlag.
    10. Wittgenstein, L. 1999 The Bergen Electronic Edition, Bergen, Oxford: Oxford University Press.
    11. Wittgenstein, L. 1990 Tagebücher 1914-1916. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp.
    12. - Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp.
    13. - Wittgenstein und der Wiener Kreis. Werkausgabe Bd. 3, Frankfurt: Suhrkamp.
    Notes
    1.
    KDE, 90. Die jeweiligen Kapitel sind den einzelnen Zeilen des „Vater unser“ zugeordnet und enthalten entsprechende Erläuterungen dazu.
    2.
    Vgl. einen Brief Tolstois an Fet in Tolstois Biographie, 92.
    3.
    KDE, 7. Tolstoi hatte den damals beliebten Gedanken der "All-Einheit" auf das Christentum übertragen und auf spezifische Art interpretiert, was zu ungelösten Konflikten führte. Auch bei Wittgenstein ist eine klare Trennung zwischen pantheistischem und christlichem Gedankengut nicht feststellbar: es läßt sich zwar im philosophischen Teil eine Tendenz zum Pantheismus, im codierten Teil zum Christentum beobachten, doch dieses Problem wurde für ihn nicht wirklich gelöst.
    4.
    Vgl.: "Wenn etwas Gut ist so ist es auch Göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt". (VB, 24). Vgl. auch Wittgensteins Bemerkung gegenüber Schlick über das Wesen des Guten, das Wittgenstein folgenderweise – im Sinne der laut Schlick flacheren Deutung der theologischen Ethik – zusammenfaßte: "Gut ist, was Gott befiehlt", denn das schneide den Weg einer jeder Erklärung ab. (WWK, 115).Vgl. dazu Tolstoi: "Die Liebe zu Gott heißt, das wollen, was Gott will." (GüG, 44).
    5.
    Vgl. dazu Wittgensteins spätere Ausführungen über das "Anrennen gegen die Grenzen der Sprache", als Ausdruck der menschlichen Suche nach Antwort auf letzte Fragen – die aber zum Scheitern verurteilt ist. Jedes Reden über Religion und Ethik münde in Unsinn, entferne vom eigentlichen Sinn dieser Bereiche. (VüE, TLP)
    Ilse Somavilla. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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