„Nicht alles, was Hund genannt wird, macht wau-wau“ – Erfahrung und Analyse als grundlegende Komponenten des Fremdsprachenunterrichts
„Nicht alles, was Hund genannt wird, macht wau-wau“ –
Erfahrung und Analyse als grundlegende Komponenten des Fremdsprachenunterrichts

Abstract

Am Beispiel einer typischen Situation im Fremdsprachen-unterricht soll gezeigt werden, wie die zu lernenden Wörter im Kontext ihre Bedeutung und ihren Gebrauchswert erhalten.

Es wird davon ausgegangen, dass jede Sprache ein eigener „Fluss des Lebens“ ist, wo jedes Wort seine eigene konkrete und symbolische Bedeutung hat und dadurch nicht ohne Verlust in eine andere Sprache übergeführt werden kann.

Eine analytische Untersuchung des Gebrauchs der Wörter in der Muttersprache und der Lernsprache soll es ermöglichen, deren Erfahrungswert für das Erlernen einer anderen Sprache nutzbar zu machen.

Analyse und Erfahrung können so zu wechselseitigen Bedingnissen im Unterrichtsgeschehen werden. Sie ermöglichen einen individuellen Direktzugang zur Lernsprache, weil die Erfahrungen aus der Muttersprache überlegt in den Lernprozess eingebaut werden können. Durch die Konfrontation mit den Inhalten und Wertigkeiten der Lernsprache im Vergleich mit der Muttersprache wird auch ein reflektierender Umgang mit den Erfahrungen aus der eigenen Sprache provoziert. So entsteht ein individuelles Bewusstsein für beide Sprachen, die den Lerner vor falschen Analogien und dem inadäquaten Umgang mit den Symbolgehalten der Lernsprache bewahren können.

Table of contents

    Eine innere Momentaufnahme aus dem Fremdsprachenunterricht: zwei sprachliche Erfahrungen – im Gegenständlichen eine russische und eine deutsche – stehen sich gegenüber.

    „Гав–гав, сабака лает ьо дворе!“ –
    „Wau-wau, der Hund bellt auf dem Hof!“

    Hier fällt zweierlei auf: nämlich erstens, dass die lautliche Äußerung des Hundes in unterschiedlicher Weise sprachlich realisiert wird – „гав–гав“ bzw. „wau-wau“ –, und zweitens, dass jenes Lebewesen, über welches gesprochen wird, im Deutschen mit einem männlichen, im Russischen aber mit einem weiblichen Substantiv bezeichnet wird.

    Es ist eine Alltagssituation im Fremdsprachenunterricht, dass Lernende und Lehrende einem Kontrast sprachlicher Erfahrungen gegenüberstehen. Diese Erfahrungen sind Gründe einer Alltagsgewissheit, innerhalb derer ein Irrtum nicht möglich ist. „Sich in der Muttersprache über die Bezeichnung gewisser Dinge nicht irren können ist einfach der gewöhnliche Fall.“ (Wittgenstein, Über Gewißheit, 630). Der Standard jener der Gewissheit zu Grunde liegenden Erfahrung ist auch außerhalb des zur Erfahrung Gelangten gut abgesichert, da es sich um eine solche aus der Vergangenheit handelt und von ihr auch gesagt werden kann: „es ist nicht etwa bloß meine Erfahrung, sondern die der Anderen von der ich Erkenntnis erhalte.“ (Wittgenstein, Über Gewißheit, 275).

    Es ist also eine zweifach untermauerte Qualität, auf Grund derer sich ein Sprechender in der Muttersprache sicher fühlen kann.

    Die Konfrontation dieser Sicherheit mit einer ebenso gesicherten, nämlich jener der Lernsprache, in welcher der Lehrende den Vorteil der Gewissheit genießt, ist eine vorrangige Herausforderung für die Beteiligten am Fremdsprachenunterricht, die in verschiedenen Gewissheiten verankerten Lernenden und Lehrende.

    Aus der Analyse eben dieser Unterschiedlichkeiten in der Erfahrung und deren Gewissheitsqualitäten kann und soll sich die Art und Weise ableiten, auf welche ein Lerner in die für ihn fremde Sprache eindringen kann, was auch soviel bedeutet, dass er Vertrauen in deren Erfahrungen gewinnt.

    Da die jeweilige Sprache ja auch ein Mittel ist „um sich selbst über die Sache klar zu werden“ (vgl. Wittgenstein, Zettel, 329), bringt ein in der Muttersprache erlerntes Wort den durch dieses besprochenen Fall in eindeutiger und unverwechselbarer Weise zur Evidenz. Das heißt, dass wir es hier mit zwei konkret in die Welt getretenen Möglichkeiten zu tun haben, eindeutig bestimmte Gegenstände „durch Zeichen vertreten zu lassen, welche die Möglichkeiten eröffnen, einen in einer bestimmten Sprache nur so zu bildenden Satz zu sprechen.“ (vgl. Wittgenstein: Tractatus 4.0312). Dieses „Nur so“ definiert gleichermaßen nach außen wie nach innen den „Fluss des Lebens“, in dem das Wort seine entsprechende Bedeutung erhält (vgl. Wittgenstein, Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, 913).

    Die Beteiligten am Fremdsprachenunterricht, also Lernende und Lehrende, haben es demnach mit zwei durchaus eigenständigen „Flüssen des Lebens“ zu tun, welche unterschiedliche Fließrichtungen und Fließgeschwindigkeiten aufweisen. Diese zeigen sich einerseits in der Bildung und damit in der Geschichte eines Wortes, aber andererseits ebenso in dessen akustischem „In die Welt treten“, aber nicht weniger in dessen Symbol- und Nebenbedeutungen.

    In einem russischen Märchen wird die Geschichte von einem alten Hund erzählt, welchen der Bauer nicht mehr ernähren will und daher in den einsamen Wald jagt. Der Hund trifft dort auf den Bären, dem er sein Leid klagt, worauf sich beide beraten und eine List entwerfen, welche dem Hund wieder sein Heimrecht bei der angestammten Bauernfamilie sichern soll: Der Bär wird das kleine Kind der Familie wegtragen, der Hund wird dieses wiederfinden und zu seinen Eltern zurücktragen und durch die Dankbarkeit der Eltern sein Gnadenbrot gewährleistet sehen.

    Der Inhalt dieser Geschichte, also das Aufgehen des listigen Planes der beiden Tiere, funktioniert nur dadurch, dass die beiden Protagonisten im Russischen von Haus aus unterschiedlich geschlechtlich spezifiziert sind: „Hund“ – „Сабака“ – wird weiblich gedacht, „Bär“ – „Медведь“ – wie im Deutschen männlich. Der Bär übernimmt in der Geschichte daher eine männliche Rolle – das gewaltsame Rauben des Kindes, wenn auch zu einem guten Zweck –, dem weiblichen Hund kommt mit dem Wiederauffinden und Nachhausebringen des Kindes eine weiblich-mütterliche Aufgabe zu. Die Vorstellungswelt deutschsprachiger Märchen bringt den männlich gedachten Hund demgegenüber vornehmlich mit der männlichen Tätigkeit der Jagd oder mit dem ebenfalls männlich gedachten Teufel in Verbindung – man denke hier an den als Pudel in die Studierstube Einlass findenden Mephisto in Goethes „Faust I“.

    Aus diesem Beispiel lässt es sich sinnvoll ableiten, dass beim Erlernen und Vermitteln einer Fremdsprache sinnvoller Weise auf die unterschiedlichen Bedingungen von Vorstellungen Rücksicht zu nehmen ist. Es geht ja darum, unterschiedliche Verbildlichungen eines Gegenstandes über den persönlich empfundenen Kontrast hinaus in eine verständnisfördernde Beziehung zu bringen, um sprachadäquate Anwendungen zu ermöglichen.

    Man darf durchaus davon ausgehen, dass im zitierten Märchen ein lang und gut begründeter Schatz von Erfahrungen vorbildhaft Ausdruck gewinnt, und so sollte sich diese Erkenntnis durch analytische Überlegungen auch im Fremdsprachenunterricht zielführend niederschlagen. Ohne hier darüber Auskunft geben zu wollen, in welcher Weise die grammatikalische Beschaffenheit des russischen Wortes „Сабака“ mit der konkreten Erfahrung von einer vorrangig weiblich betonten Eigenschaft dieses Tieres zusammenhängt kann man doch davon ausgehen, dass die Vorstellungswelt der russischen Sprachgemeinschaft und die geschlechtliche Zuordnung dieses Wortes gegenseitig bedingt sind. Aus dieser gegenseitigen Bedingtheit entsteht erst die Möglichkeit der Pointe in dem zitierten Märchen von dem Hund und dem Bären.

    Unter Berücksichtigung dieser sinngebenden Besonderheiten der russischen Sprache könnte eine Empfehlung der Deutsch-Lehrenden an russische Studierende etwa folgende sein, diese Geschichte in die Lernsprache Deutsch zu übertragen und dabei dezidiert das Wort „Hündin“ für „Сабака“ zu verwenden, oder diese mit einem auch im Deutschen weiblich definierten Tier zu erzählen, etwa mit einer Katze, wobei es zumindest im Hinblick auf das Genus zu keinen Übertragungsproblemen käme, weil das russische Wort für dieses Tier, „Кошка“, auch in dieser Sprache weiblich ist, sich aber möglicherweise das Problem einer charakterlichen Unterschiedenheit zwischen Katze und Hündin und somit die Nichterfüllung des Symbolgehaltes als Übertragungshindernis herausstellen könnte.

    Bedingt dadurch, dass „Сабака“ weiblich ist und ihr mütterliche Eigenschaften zugestanden werden können, wird eben dieses weibliche russische Wort durch den Gebrauch im Kontext der Handlung erklärt. Das heißt: die durch den Gebrauch des femininen Substantivs zur Evidenz gebrachte Vorstellung von der Mütterlichkeit des handelnden Wesens ist „die Erklärung, welche die Bedeutung erklärt.“ (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 560)

    Im Falle des Wortes „Сабака“ wird mit dem Wort demnach die Bezeichnung für ein bestimmtes Tier gebraucht, andererseits aber auch die im Wort enthaltene Symbolik. Der Gebrauch des Symbols ist für die Erzählung sinngebend.

    Wird von den Lernenden experimentell überprüft, ob die Symbolik des Märchens auch in der fremden Sprache mit deren Wortschatz erhalten werden kann so bedeutet dies, dass zur Erfahrung aus der Muttersprache nun auch eine solche aus der Zielsprache hinzukommt, weil die Lernenden selbst, nämlich im eigenen Denken mit dem Gelingen oder Nichtgelingen der Symbolübertragung konfrontiert werden. Dadurch haben sie eine ihnen direkt zugängliche, die Lernenden unmittelbar berührende Möglichkeit erhalten, sich in die Lernsprache einzufühlen und hineinzudenken und auszuprobieren, inwieweit sie mit ihren ursprünglich erlernten Schwimmbewegungen im nun andersgearteten „Fluss des Lebens“ zurecht kommen. Die Auseinandersetzung mit den alltäglichen Gegebenheiten zweier Sprachen und deren konkreten und symbolischen Möglichkeiten soll dann nichts weniger sein als eine gedankliche Durchdringung dieser Gegebenheiten vom eigenen Standpunkt aus. Denn das Erlernen einer anderen Sprache bedeutet auch, den Standpunkt gegenüber der Muttersprache zu hinterfragen. Der Alltagsgebrauch soll nach Rechtfertigung verlangen, das heißt, nach überlegender Analyse des Ist-Zustandes der eigenen Sprache und ihrer ursprünglichen konkreten und symbolischen Möglichkeiten. Diese gewinnen umgehend einen anderen Wert, wenn sie sich den Möglichkeiten der Lernsprache gegenübergestellt sehen. Und darin besteht nun die Herausforderung, dass nämlich die über die eigene Sprache und deren Möglichkeiten gewonnenen Kenntnisse und Erkenntnisse und das Wissen über das eigne ursprüngliche Sprachvermögen mit den Gegebenheiten der Zielsprache in Konkurrenz treten. Fruchtbar kann diese werden, wenn Lernende und Lehrende als Ziel jene Erfahrung vor Augen haben, durch welche vermittelt wird, dass durch die rechtfertigende Analyse eine Qualitätssteigerung im Hinblick auf das Verhalten in den Lebensflüssen, aber auch in der Substanz dieser selbst festgestellt werden kann. Auch diese Erfahrung wird in die Kategorien jener gehören, welche ihre Bewährung aus der Vergangenheit herleiten und auch eine „Erfahrung der anderen“ ist. Auf ihr fußend finden sich die beiden Flüsse des Lebens im besten Fall durch einen Kanal verbunden, welcher es den Lernenden ermöglicht, beim Überwechseln seine Schwimmbewegungen sukzessive zu koordinieren – um beim Wittgenstein’schen Bilde zu bleiben. Damit ist eine ganz unverwechselbare und eigenständig erarbeitete Zugangsmöglichkeit zur neuen Sprache eröffnet, welche insofern besonders erfolgversprechend ist, da sie auf der persönlichen analytisch-rechtfertigenden Möglichkeit, welche Lernende und Lehrende für einen konkreten Fall erarbeitet haben, aufbaut.

    In einem speziellen Fall mag das dann heißen, dass ein bevorzugtes Interessensgebiet den Ausgangspunkt des Sprachunterrichts bildet. Da man beispielsweise davon ausgehen kann, dass ein Arzt in seiner Muttersprache kompetent über Medizin etwas aussagen kann, ist es sinnvoll, von diesem Themenkomplex ausgehend den Fremdsprachenunterricht auszubauen. Das vorhandene Wissen gibt dem Lernenden wie dem Lehrenden, der sich auf diese gegebene Wissenssituation eingestellt hat, die Möglichkeit, in ihren jeweiligen Flussbetten nach jenen Stellen zu suchen, von denen aus die Verbindung der beiden Bette ohne gefährliche Einbrüche ergraben werden kann. Dadurch erhält das Lernen auch eine sinnvolle Zielrichtung, weil der Lernende zur Überzeugung gelangen kann, dass sein bereits vorhandenes Wissen bzw. die ihm eigene Form der Lebenskompetenz auch im anderen Lebensfluss, d.h. der Zielsprache, keineswegs an Bedeutung verliert.

    Diese Untermauerung der eigenen Seinsqualität durch Hinzugewinnung von etwas Neuem macht es möglich, die durch zwei Sprachen aufgebauten und bewährten Erfahrungswelten so zu nutzen, dass man sie gegebenenfalls verbindet, ohne dadurch die jeweilige Individualität zu verletzen.

    Durch das Lernen und Lehren auf der beiderseitigen Grundlage analytischer Rechtfertigung wird bei den Beteiligten jene Fähigkeit gesteigert, welche gegen falsche Analogien gefeit macht und die es, wie Wittgenstein in seinem Tagbuch schreibt, möglich macht, „auf die leisen Stimmen zu horchen, die uns sagen, dass es sich hier doch nicht so verhält wie dort.“ (Wittgenstein, Tagebücher 1930-1932/1936-1837, S. 48)

    Literaturverzeichnis

    1. Wittgenstein, Ludwig 1989 Tractatus logico-philosophicus; Philosophische Untersuchungen, beide in Werkausgabe Band 1, neu durchgesehen von Joachim Schulte, 5. Auflage, Frankfurt/Main.
    2. Wittgenstein, Ludwig 1989 Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, in: Werkausgabe Band 7, neu durchgesehen von Joachim Schulte, 4. Auflage, Frankfurt/Main.
    3. Wittgenstein, Ludwig 1989 Über Gewißheit; Zettel, beide in: Werkausgabe Band 8, neu durchgesehen von Joachim Schulte, 3. Auflage, Frankfurt/Main.
    4. Wittgenstein, Ludwig 1999 Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932/1936-1937, herausgegeben von Ilse Somavilla. 2. Auflage, Frankfurt/Main.
    Annelore Mayer. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
    This page is made available under the Creative Commons General Public License "Attribution, Non-Commercial, Share-Alike", version 3.0 (CCPL BY-NC-SA)

    Refbacks

    • There are currently no refbacks.