Aber der Löwe spricht eben nicht! Anmerkungen zu einer Kontroverse
Aber der Löwe spricht eben nicht! Anmerkungen zu einer Kontroverse

Abstract

Im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen schreibt Wittgenstein “Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.” Dieses Zitat wird oftmals dazu herangezogen, die grundsätzliche Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen sehr verschiedenen Lebensformen zu behaupten. Im §242 der Philosophischen Untersuchungen hatte Wittgenstein nämlich behauptet, dass zur Verständigung durch die Sprache nicht nur eineÜbereinstimmung in den Definitionen, sondern zudem in den Urteilen erforderlich sei. Urteile lernt man innerhalb seiner Gemeinschaft von Sprachspielenden in den dort gespielten Sprachspielen. Weil Sprachspiele ihren Ursprung in der Verwobenheit des Sprechens mit der Praxis haben, folgt daraus, dass ein Sprachspiel versteht, wer eine Form der Praxis teilt. Können Menschen aber wirklich so verschiedene Praxisformen haben, dass sie sich nicht mehr verstehen können? Die Bestimmung des für diese Frage wichtigen Begriffes der Lebensform wird zeigen, dass wir sogar den Löwen verstehen könnten, wenn er nur wirklich spräche.

Table of contents

    1. Einleitung

    Liest man die Bemerkung “Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen” (Wittgenstein 121999: 568) im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen, stellt sich die Frage, wie diese Behauptung zu interpretieren ist. Besonders im Kontext mit dem kurz zuvor stehenden “Wir können uns nicht in sie finden.” (Wittgenstein 121999: 568) Wittgenstein behauptet dies von Menschen, die in ein Land mit völlig fremden Traditionen kommen und die dort lebenden Menschen nicht verstehen, obwohl sie deren Landessprache beherrschen. Nicht zuletzt diese beiden Bemerkungen haben eine Diskussion ausgelöst, inwieweit gegenseitiges Verstehen überhaupt möglich ist. Innerhalb der Wittgensteinschen Philosophie wird diese Diskussion im Zusammenhang mit den Termini Lebensform und gemeinsame menschliche Handlungsweise geführt. Es besteht Uneinigkeit darüber, wie viele Lebensformen und Handlungsweisen es gibt, und was das spezifisch menschliche daran ist. Beispielsweise ist Garver (Garver 1984) der Auffassung, dass es nur eine Lebensform gäbe, demgegenüber Haller (Haller 1984, später mit Einschränkungen: Haller 1999) die Existenz mehrerer Lebensformen behauptet.

    Klärungsbedürftig ist, ob sich bestimmte Lebensformen tatsächlich nicht verstehen können, und wie dieses können aufzufassen ist: logisch oder faktisch. Im ersten Fall wäre ein gegenseitiges Verstehen grundsätzlich ausgeschlossen; im letzteren dagegen unter bestimmten Bedingungen möglich. Eine Darstellung der Bedingungen gegenseitigen Verstehens im Rahmen der Wittgensteinschen Philosophie soll eine Antwort auf diese Frage ermöglichen und wird zugleich zeigen, dass die Frage nach der Anzahl der Lebensformen oder Handlungsweisen hierfür nicht entscheidend ist.

    Dazu ist zunächst zu klären, was eine Lebensform wesentlich ausmacht und wie ihr Verhältnis zu der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise ist.

    2. Sprachspiele

    Das Wesentliche des Sprachspiel-Begriffes ist, dass er auf die Verwobenheit von Handeln und Sprechen hinweist: “Das Wort Sprach»spiel« soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit […]” (Wittgenstein 121999: §23) Sprache könnte nicht verwendet werden – sie wäre bedeutungs-los – wenn ihr keine Handlungen zugrunde lägen. Das hinreichend bekannte Beispiel der Bauenden zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen illustriert diesen Zusammenhang. Kurz gefasst gehört zu einem Sprachspiel wesentlich, dass die Sprachspielenden durch und während des Vollzuges von Handlungen Regeln für die Verwendung der Wörter aufstellen und deren Einhaltung zugleich überwachen.

    Sprachspiele lassen sich in zwei Typen klassifizieren: primitive und elaborierte. Primitive Sprachspiele sind letztlich an (den Sprachspielenden bekannten oder unbekannten) Mittel-Zweck-Relationen orientiert, wie das etwa bei den Bauenden, die ein Haus bauen wollen, der Fall ist. Am Fuße ihres Sprachspiels liegt ein primitives, zunächst noch unreflektiertes Verhalten. “Was aber will hier das Wort »primitiv« sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise vorsprachlich ist: daß ein Sprachspiel auf ihr beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens.” (Wittgenstein 92002: Nr. 541) Diese Sprachspiele stehen üblicherweise direkt im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Lebensvollzug.

    Auf diesen primitiven Sprachspielen ruhen die so genannten elaborierten. Sie sind in dem Sinne des letzten Zitats nicht mehr Prototyp des Denkens, sondern dessen Ergebnis. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass elaborierte Sprachspiele aus einer Reflexion auf das den primitiven Sprachspielen zu Grunde liegende Verhalten hervorgehen. Die meisten unserer Sprachspiele sind elaboriert.

    Eine Konsequenz der Sprachspiel-Philosophie ist, dass die Bedeutung von Wörtern als ihr Gebrauch in der Sprache (Wittgenstein 121999: §43) und nicht etwa als Übereinstimmung mit der Welt definiert wird. Diese Tatsache ist dem Umstand geschuldet, dass Handeln und Sprechen sich wechselseitig bedingen. Durch das Verhalten, das als Reaktion auf die Gegebenheit der Welt geschieht, wird in den primitiven Sprachspielen die Bedeutung der Wörter festgelegt, mit denen später in den elaborierten Sprachspielen wiederum die Welt begrifflich geordnet wird. Deshalb kann die Sprache die Welt nicht letztgültig korrekt abbilden. Denn dazu müsste der Sprechende aus der Sprache heraus treten. Aber: “Gesprochenes kann man nur durch die Sprache erklären, darum kann man die Sprache (in diesem Sinne) nicht erklären.” (Wittgenstein 2000: 16) Die Sprache bleibt das Vorauszusetzende, das selber keine Rechenschaft gegenüber der Welt schuldig ist. Daraus folgt ein unauflösbarer Zirkel: Denn eine solche Rechtfertigung könnte nur in einer Beschreibung der Welt, wie sie tatsächlich ist, bestehen. So eine Beschreibung kann aber gerade nicht gegeben werden, weil sie nur vermittels einer Sprache gegeben werden könnte. Wittgenstein formuliert den Zirkel so: “Die Sprache, in der wir die Regeln der Grammatik unserer Sprache zu rechtfertigen versuchen könnten, müßte ihrerseits eine Grammatik haben. Keine Beschreibung der Welt kann die Regeln der Grammatik rechtfertigen.” (Wittgenstein 22000: 66)

    3. Gemeinsame menschliche Handlungsweise

    Die Bestimmung dessen, was Wittgenstein die gemeinsame menschliche Handlungsweise (Wittgenstein 121999: §206) nennt, kann aus den vorgenannten Gründen nicht empirisch geschehen. Jede empirische Bestimmung geschieht schließlich nur durch das Filter der vorhandenen Sprache. Dadurch bleibt ein solcher Bestimmungsversuch immer innerhalb der Möglichkeiten und Grenzen der Grammatik der Sprache. Wittgenstein sagt zwar, dass man die gemeinsame menschliche Handlungsweise so beschreiben könnte, dass man alle menschlichen Handlungen angebe, und dass “[…] das ganze Gewimmel der menschlichen Handlungen der Hintergrund [sei], worauf wir jede Handlung sehen […]” (Wittgenstein 92002: Nr. 567). Jedoch müsste diese Bestimmung notwendig ungenügend bleiben, weil es unmöglich ist, alle menschlichen Handlungen tatsächlich anzugeben, und außerdem die Abgrenzung etwa von nicht-menschlichen Handlungsweisen schwer fällt. Wir sähen auch nur die in der Welt manifestierten, für den definitorischen Zweck irrelevanten Folgen der gemeinsamen menschliche Handlungsweise, nicht aber ihren wesentlichen Kern. Dieser ist nur grammatisch-idealtypisch bestimmbar und tritt so an die Stelle einer klassischen anthropologische Konstante.

    Selbst wenn wir alle menschlichen Handlungen beschreiben könnten und das auch täten, stießen wir dadurch nicht zu einer eigentlichen Bestimmung der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise vor, weil wir eben die Grenzen der Grammatik unserer Sprache nicht verlassen können. Die Bestimmung der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise kann also nur grammatisch geschehen. Die meines Erachtens einzige Möglichkeit einer Bestimmung kann als nicht weiter begründbare Gleichheit in Bezug auf bestimmte Handlungsweisen erfolgen. Eine fundamentale gemeinsame Handlungsweise ermöglicht erst die Sprachspielpraxis. Dass tatsächlich eine gleiche Handlungsweise besteht, zeigt die Tatsache der Erfahrung, dass sich Sprecher verstehen.

    Im Anschluss an diese Bestimmung ist es nicht mehr nötig, von einer gemeinsamen menschlichen Handlungsweise zu sprechen, sondern vielmehr von einer gemeinsamen Handlungsweise. Um die Existenz einer gemeinsamen Handlungsweise erklären zu können, ist zwar die Annahme einer gemeinsamen Naturgeschichte notwendig, diese kann aber ihrerseits nicht letztgültig empirisch, sondern nur grammatisch bestimmt werden. (Vgl. dazu: Schulte 2000)

    4. Lebensform

    Der in den Philosophischen Untersuchungen eingeführte Begriff der Lebensform ist notorisch schwer zu bestimmen, wie unzählige diesbezügliche Aufsätze zeigen. Er steht in einem bestimmten Verhältnis zur gemeinsamen Handlungsweise, das jedoch nicht darin besteht, dass ein Schluss von dieser auf das Wesen der Lebensform möglich wäre.

    Stattdessen lässt sich aus der Sprachpraxis – dem tatsächlichen Sprechen einer Sprache – ein Licht auf die Lebensform des Menschen werfen: “[…] in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform.” (Wittgenstein 121999: §241) An anderer Stelle: “Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.” (Wittgenstein 121999: §19) Die obigen Ausführungen zur Sprachabhängigkeit unseres Weltbezugs und der Verwobenheit von Sprechen und Handeln verdeutlichen, warum Sprachpraxis notwendig ist, um verschiedene Handlungsweisen überhaupt erkennen, vielleicht sogar überhaupt erst ausprägen zu können (beispielsweise lügen, versprechen). Bestimmte gemeinsame Handlugnsweisen hängen in dieser Weise von der Lebensform der Sprachpraxis ab, aus der ja darüber hinaus folgt, dass es Regelhaftigkeit und mehrere Sprecher geben muss. Zwar behauptet von Savigny in diesem Zusammenhang: “[d]ie Lesart »die Lebensform des Sprachverwendens« ist ausgeschlossen” (von Savigny 1996: 76), weist stattdessen aber kurz darauf Regelhaftigkeit zwischen Lauten und Handlungen (also eine Sprache zu haben) als eine gemeinsame Handlungsweise aus (von Savigny 1996: 88f). Eine Sprache zu haben ist aber laut §207 (Wittgenstein 121999) gerade kein Teil der gemeinsamen Handlungsweise. Dort erwähnt Wittgenstein Menschen, die “gewöhnlichen menschlichen [In diesem Kontext: mit uns gemeinsamen, T.W.] Tätigkeiten” nachgehen, die aber keine Sprache besitzen. Er betont sogar an anderer Stelle: “Und doch könnte es ja solche, im übrigen menschliche, Wesen geben.” (Wittgenstein 92002: Nr. 390). Folglich kann eine Sprache tatsächlich zu sprechen nicht notwendig eine gemeinsame menschliche Handlungsweise sein, sondern erst eine Folge der Lebensform der Sprachspielpraxis.

    5. Verstehen

    Ausgehend von diesen Vorbemerkungen, kann nun der Versuch einer Charakterisierung der Besonderheiten des Verstehens unternommen werden. Zunächst ist zwischen zwei Arten des Verstehens zu unterscheiden:

    (a) Sprachverstehen

    Man versteht eine Sprache, wenn man die Regeln der anderen Sprache erlernen und deren Wörter richtig gebrauchen kann. Für dieses Verstehen ist an erster Stelle eine gemeinsame Lebensform der Sprachpraxis Voraussetzung. Diese teilt, wer jeweils eine Sprache spricht. Sprache ist in diesem Sinne zuallererst als regelgeleitete Kommunikation (Wittgenstein 121999: §207) zu verstehen, durch Reflexion auf deren Regeln die Möglichkeit besteht, zu elaborierten Sprachspielen zu gelangen. Eine solche Sprache ist für uns aufgrund ihrer Regelmäßigkeit erlernbar. Wer immer eine Sprachpraxis hat, kann die Sprache von anderen (weil sie ebenfalls eine Sprachpraxis haben) prinzipiell verstehen. Es ist in gewissem Maße ein “gemeinsamer Geist” (Schulte 2000: 60ff.) vorhanden. Für diese grundsätzliche Verständigungsmöglichkeit ist noch keine darüber hinaus gehende gemeinsame Handlungsweise erforderlich.

    Zudem liegt eine gemeinsame Handlungsweise in dem oben skizzierten Sinne einer Gleichheit vor, wenn man dieselbe Sprache spricht. Sie besteht in gemeinsamen, grundsätzlichen Urteilen, denn: “Zur Verständigung durch die Sprache gehört […] eine Übereinstimmung in den Urteilen.” (Wittgenstein 121999: §242) Wer die gleiche Sprache spricht, verständigt sich zumindest auf rudimentäre Weise, was zumindest Gleichheit in grundsätzlichen Urteilen voraussetzt.

    (b) Handlungsverstehen

    Um Handlungen anderer verstehen zu können, muss es gemeinsame Handlungsweisen geben. Die Handlungen der anderen müssen meinen in einer Weise gleichen. Das Verstehen erfolgt sprachlich dann so, dass wir den von uns beobachteten Handlungen Sätze unserer Sprache zuordnen, mit denen wir solche Handlungen, wenn wir sie tun, üblicherweise beschreiben würden. In einem zweiten Schritt deuten wir die Sätze der fremden Sprache, die dieselben Handlungen beschreiben, indem wir ihre Sätze mit unseren korrelieren, also beide Sprachen ineinander übersetzen (So beschrieben in: Wittgenstein 121999: §206) Unsere Handlungen bilden so unser Bezugssystem für die Interpretation (Vgl. Raatzsch 1993: 59f.). Handlungsverstehen ist folglich zugleich eine Hilfe zum Sprachverstehen.

    Aus dem Verhältnis von Sprachverstehen und Handlungsverstehen ergeben sich vier mögliche Fälle des Verstehens anderer, die es in einem nächsten Schritt genauer zu betrachten gilt:

    (1)
    Man beherrscht die Sprache der anderen und versteht die Handlungen der anderen auch.
    (2)
    Man beherrscht die Sprache der anderen nicht, versteht die Handlungen der anderen aber trotzdem.
    (3)
    Man beherrscht die Sprache der anderen nicht und versteht die Handlungen der anderen auch nicht.
    (4)
    Man beherrscht die Sprache der anderen und versteht die Handlungen der anderen nicht.

    6. Ergebnis

    Von diesen vier Fällen sind die ersten drei möglich, der letzte jedoch nicht.

    (1)
    ist der alltägliche Fall und bedarf keiner weiteren Behandlung.
    (2)
    Ein Beispiel hierfür ist etwa der Besuch eines nicht Englisch sprechenden Deutschen in den USA, der eine Hochzeit sieht. Er wird die den seinen ähnlichen Handlungen aufgrund der Ähnlichkeit verstehen. In einem zweiten Schritt kann er die fremde und seine Sprache ineinander übersetzen.
    (3)
    Der dritte Fall könnte etwa eintreten, wenn Lebewesen, die unsere Sprache nicht sprechen und keine weitere Handlungsweise mit uns teilen (Außerirdische etwa) mit uns in Kontakt treten. Der Zustand des Nichtverstehens ist aber nur vorübergehend, weil keine prinzipielle Unmöglichkeit des Verstehens vorliegt. Wenn die anderen die Lebensform einer Sprachpraxis teilen, müssen sie eine Form von Regelmäßigkeit kennen und zur Reflexion fähig sein. Es besteht hier die Möglichkeit, darüber hinaus gemeinsame Handlungsweisen auszubilden.
    (4)
    Dieser Fall ist schließlich der von Wittgensteins Löwen. Unsere Unfähigkeit, diesen zu verstehen, ist eine faktische und keine prinzipielle. Weil er eben keine Sprache spricht, deswegen können wir ihn nicht verstehen. Oder mit Wittgenstein: “sie [die Tiere, T. W.] sprechen eben nicht. Oder besser: sie verwenden die Sprache nicht – wenn wir von den primitivsten Sprachformen absehen.” (Wittgenstein 121999: §25) Wenn der Löwe jedoch eine Sprache spräche, dann würde er mit uns zumindest in der Lebensform der Sprachpraxis übereinstimmen. Eine grundsätzliche Möglichkeit des Sprachverstehens bestünde.

    Allgemein gilt: Wird von Sprechern die gleiche Sprache gesprochen, besteht kein Problem des Sprachverstehens. Es werden bereits Urteile geteilt und mindestens eine gemeinsame Handlungsweise liegt vor. Handlungsverstehen ist darauf aufbauend nun eine Folge des Sprachverstehens.

    Wird nicht die gleiche Sprache gesprochen, aber liegt mindestens eine gemeinsame Handlungsweise vor, dann besteht ebenfalls kein Problem des Sprachverstehens, das hier aus dem Handlungsverstehen folgt.

    Wird nicht die gleiche Sprache gesprochen und liegt über die aus dem Sprechen einer Sprache folgenden gemeinsame Handlungsweisen hinaus keine weitere gemeinsame Handlungsweise vor, besteht immerhin die durch die Sprachpraxis geteilte gemeinsame Lebensform, die ein Verständnis des anderen grundsätzlich ermöglicht.

    Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Frage nach Anzahl und Art der gemeinsame Handlungsweisen und Lebensformen völlig unerheblich und allenfalls für eine Binnendifferenzierung des Begriffes interessant ist. Das gleiche gilt für die Frage, ob sich verschiedene Lebensformen prinzipiell oder faktisch nicht verstehen können, weil eine Betrachtung des Begriffs Lebensform zeigt, dass dessen wesentliches Merkmal in der tatsächlichen Sprachpraxis liegt. Somit liegt immer nur eine faktische, aber keine logische Unmöglichkeit des Verstehens anderer vor. Denn wer immer spricht, teilt diese Lebensform, die grundsätzlich Verständnis ermöglicht. Mag diese Lebensformen in Abhängigkeit von anderen zu Grunde liegenden Verhaltensweisen unterschiedlich ausgeprägt sein, in der Sprachpraxis haben sie doch etwas gemein.

    Es ist folglich eine zu starke These, eine Unmöglichkeit des Verstehens ausreichend fremder Lebensformen zu behaupten, weil Lebensformen gar nicht ausreichend fremd sein können. Sie bauen auf der fundmentalen gemeinsamen Handlungsweise der Sprachspielpraxis auf und bilden davon ausgehend “Modifikationen dieser komplizierten Lebensform” (Wittgenstein 121999: S. 489) Die Lebensform der Sprachpraxis ist deshalb allein Garant der grundsätzlichen Möglichkeit des Sprachverstehens aus dem Handlungsverstehen folgen kann.1

    Literatur

    1. Garver, Newton 1984 “Die Lebensform in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen”, Grazer Philosophische Studien 21, 33-54.
    2. Haller, Rudolf 1984 “Lebensform oder Lebensformen”, Grazer Philosophische Studien 21, 55-63.
    3. Haller, Rudolf 1999 “Variationen und Bruchlinien einer Lebensform”, in: Wilhelm Lütterfelds und Andreas Roser (Hg.) Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 53-71.
    4. Raatzsch, Richard 1993 “Wie viele ,gemeinsame menschliche Handlungsweisen’ (PU 206)?”, Grazer Philosophische Studien 45, 41-64.
    5. Savigny, Eike von 1996 Der Mensch als Mitmensch, München: dtv.
    6. Schulte, Joachim 2000 “Naturgeschichte und Verstehen des Fremden”, in: Katalin Neumer (Hg.), Das Verstehen des Anderen, Frankfurt/M.: Peter Lang 2000, S. 49-62.
    7. Wittgenstein, Ludwig 2000 Big Typescript, Wien: Springer.
    8. Wittgenstein, Ludwig 121999 Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    9. Wittgenstein, Ludwig 22000 Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    10. Wittgenstein, Ludwig 92002 “Zettel”, in: Über Gewißheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    Notes
    1.
    Für unzählige erhellende Gespräche bin ich Henrike Pracht zu Dank verpflichtet.
    Thomas Wachtendorf. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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