Ist meine eigene Weltanschuung third-personal enough?
Ist meine eigene Weltanschuung third-personal enough?

Abstract

Bernard Willians hat Fälle diagnostiziert, in denen unser ethisches Nachdenken not first-personal enough ist. Wir fragen uns dagegen, ob es etwa bei der Interpretation anderer Kulturkreise Situationen gibt, in denen unsere eigenen Weltanschauungen not third-personal enough sind. Wir befassen uns mit dem Problem, wann, wie und mit welchem Recht wir von Elementen unserer Weltbilder Gebrauch machen, um andere Personen zu verstehen.

Table of contents

    Aber nun denk dir eine Schachpartie nach gewissen Regeln in eine Reihe von Handlungen übersetzt, die wir nicht gewöhnt sind, mit einem Spiel zu assoziieren, - etwa ein Ausstoßen von Schreien und Stampfen mit den Füßen. Und jene Beiden sollen nun, statt die uns geläufige Form des Schach zu spielen, schreien und stampfen; und zwar so, daß diese Vorgänge sich nach geeigneten Regeln in eine Schachpartie übersetzen ließen. Wären wir nun noch geneigt, zu sagen, sie spielten ein Spiel; und mit welchem Recht könnte man das sagen? (Wittgenstein, PU 1 200)

    Die Frage nach der Interpretierbarkeit von Handlungen, die zu einem anderem Kulturkreis gehören, d.h. in einer anderen Weltanschauung wurzelt, läßt sich mit der Frage nach der Ähnlichkeit von willkürlichen und systematischen Irrtümern, mit der sich Wittgenstein in einigen Passagen seiner Untersuchungen befasst (vgl. PU 1, §143), vergleichen. Der systematische, gleichbleibend Irrtum kann dort den Schüler zu einem Schritt führen, der sich nur schwer von einer zufälligen Abweichung unterscheiden läßt: zwischen den beiden Irrtümern besteht letztlich kein klarer Unterschied. In einer Situation radikaler Interpretation – wie etwa in der Konstellation, die sich Davidson (1973) ausgehend von Quine (1960) aneignet – muß der Interpret angesichts eines seltsamen Verhaltens des Einheimischen entscheiden, ob sein Interpretationsmodell (systematisch) irrig ist oder ob vielmehr das Verhalten des Einheimischen einem Irrtum seitens des Einheimischen selbst entspringt. Interpretieren könnte man hier dann als ein Gespräch von zwei normativen Sinn-systemen verstehen: Regeln, die der Interpret als richtig in Bezug auf das Verhalten des Einheimischen aufstellt und Regeln, die die Einheimischen für richtig halten, wenn sie sie miteinander korrigieren. Ganz ähnlich lassen sich dort, wo der Schüler dabei ist, zu lernen, Regeln zu befolgen, zwei Elemente konstatieren: einerseits die Lernschritte des Schülers, andererseits die Regeln, die ihm der Lehrer beizubringen versucht. Sowohl vom Schüler als auch vom Einheimischen wird der systematische Irrtum nicht bemerkt. Wenn sie aber einem Irrtum zufällig verfallen, können sie ihn problemlos erkennen. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: anders als beim Schüler läßt sich beim Einheimischen die Abweichung korrigieren, ohne daß der Einheimische sich selber korrigiert – das Normensystem des Einheimischen, an dem der Interpret eigentlich interessiert ist, wird von der Gemeinschaft des Einheimischen ebenso beachtet und die Abweichungen von den Normen werden von dieser Gemeinschaft korrigiert. Es ist nämlich diese Gemeinschaft, die uns hier erlaubt, von zwei Sinn-systemen zu sprechen. Interpretieren ist dann etwas anders als lehren, Regeln zu befolgen: wenn wir etwas lehren, prägen wir dem Schüler Regeln ein, und der Irrtum bezieht sich auf solche Regeln. Die Lernschritte des Schülers können in sich keine Normativität bergen, da es hier keine unabhängige Korrekturinstanz gibt (PU 1 §257-8).1

    Wenn wir einen Interpretationsakt betrachten, stehen wir normalerweise vor dem Phänomen des Irrtums, der entweder auf der Seite des Interpreten oder auf der Seite des Interpretierten liegt. Verschiedene Interpreten finden verschiedene Irrtümer vor. Möglicherweise stehen wir vor einem Problem des Maßstabs: wo ist der Irrturm? Diese Frage verweist uns aber keineswegs auf eine Tatsache, besser gesagt, auf einen bestimmten Platz, auf dem der Irrturm vorzufinden wäre. Es geht vielmehr um eine souvärene Entscheidung von uns, die allein durch die Möglichkeit eingegrenzt wird, daß unsere Interpretationshypothesen das Verhalten der Einheimischen verständlich machen. Das lehrt uns Davidson (vgl. z. B. 1991): es kann verschiedene annehmbare Interpretationen geben, wie es verschiedene Modi (Skalen) der Temperaturmessungen gibt. Nicht der Irrturm ist es, was bei einer Interpretation den festen Platz hat. Die Begegnung mit den Handlungen anderer Menschen wird allerdings im allgemeinen von der Gefahr begeleitet, die Quelle des Irrtums so zu verstehen, als befände sie sich bereits auf einen festen Platz". Entweder steht sie auf der Seite des Interpreten, der sich zurückhaltend weigert, die Einheimischen zu korrigieren, und lieber das Risiko eingeht, sie niemals verständlich zu machen; oder sie steht auf der anderen Seite, nämlich der Seite des Einheimischen, dem alle Abnormität zugeschrieben wird, damit die Möglichkeit des systematischen Irrturms endgültig beseitigt wird. Diese letzte Attitüde scheint im Einklang zu stehen mit der kolonialistischen Mentalität, die nicht zögert, über Gruppen von Einheimischen, die auf unkorrigierbare Weisen primitiv oder lässig oder einfach untergeordnet sind, epistemische Gewalt jeglicher Art auszuüben. Hier gibt es keine Unsicherheit. Die verwendete Interpretationshypothese wird nicht in Frage gestellt: der Irrtum ist bereits festgesetzt. Spivak (1988) hat andererseits bemerkt, wie die Anstrengungen der Untergeordneten, um Widerstandskräfte – gegen die Überlegenheit der größten Städten oder gegen die Überlegenheit der Weißen oder der Männer – zu vereinen, das Risiko in sich birgt, daß die Interpreten ihre eigene Interpretationshypothese als irrturmsfrei zu empfinden. In der Absicht, ein Gedankengut zu finden, das ihrer (als heroisch und richtig verstanden) Weltanschauung entspricht, kann sich den Untergeordneten ein Vernünftigkeitssystem aufdrängen, das sie statt zu interpretieren, eher zum Schweigen bringen.

    Interpretationshypothesen sind Teil der Weltanschauung des Interpreten. Auf eine Weltanschauung kann man sich aber sowohl als erste als auch als dritte Person berufen. Diese beiden Modi der Berufung2 impliziert jedoch nicht, daß die Gegenstände verschieden sind. Die Überzeugungen, die jegliche Weltanschauung ausmachen, sind nicht nur Denkweisen, sondern werden uns zugeschrieben, um unser Verhalten zu erklären (vgl. Moran, 2001, v. a. 3.Kapitel). Vom Standpunkt der dritten Person kann man sich auf eine bestimmte Weltanschauung berufen, um Handlungen zu interpretieren. Vom Standpunkt der ersten Person zeigt sich die Weltanschauung in jenen Transparenz-Beziehungen (relations of transparency), in denen ich durch eine bloße Untersuchung eines Gegenstands oder eines Geschehens schon weiß, was ich darüber denke. Es genügt aber nicht, daß ich den Gegenstand oder das Geschehen betrachte, um zu wissen, was eine andere Person darüber denkt. Freilich kann ich mich auf meine eigenen Überzeugungen und meine eigene Weltanschauung als dritte Person berufen, indem ich etwa mein eigenes Verhalten untersuche. Richard Moran (2001) versucht zu zeigen, daß, falls ich über meine Gedanken keine letzte Autorität habe, es hier ein Konflikt entstehen kann – ein Konflikt, das von keinem allgemeinen Prinzip gelöst werden kann – zwischen den Überzeugungen, die ich mir zuschreibe, und jenen, die mir durch eine Transparenz-Beziehung in den Sinn kommen (avow). Auch hier hat der Irrtum keinen festen Platz: ich kann mich irren sowohl wenn ich mir eines Gedankens bewußt werde, als auch wenn ich mir einen Inhalt zuschreibe. Auch meine eigenen Überzeugungen und meine eigene Weltanschauung entspringen einer Inerpretation, die all das umfaßt, worauf ich mich auf eine transparente Weise berufe und was ich mir als einer dritten Person zuschreibe.

    Meine Weltanschauung kann gelegentlich nicht genug von erster oder von dritter Person sein. Bernard Williams (1985) weist darauf hin, wie manchmal ein Diskurs über Tugenden, den ich auf die Art und Weise, wie ich mich beim Handeln entscheide, verwende, das Ergebnis einer in die falsche Richtung gehenden ethischen Blickes, da er nicht genug von erster Person bestimmt ist (not first-personal enough). Wir können uns zwar mutig verhalten, auch ohne von Mut getrieben zu werden. Solche Gefahr besteht in Bezug auf viele unserer Überzeugungen (Bensusan & Pinedo, 2006). Wir können uns Überzeugungen und sogar einer ganzen Weltanschauung aneignen, weil sie von den meisten akzeptiert, nützlich, populär, oder sogar weil sie kohärent, erklärungsfähig und tugendhaft sind. Es besteht immer das Risiko, daß unsere Weltanschauungen nicht wirklich unsere sind.

    Eine Auseinandersetzung mit dem Irrtum und der Interpretation kann uns aber zu einer anderen Ansicht führen. Es ist immer noch möglich, daß unsere Weltanschauung nicht genug von dritter Person ist. Das heißt: wir sind nicht imstande unsere Weltanschauung als eine oder als Teil einer Weltanschauung zu verstehen. Es ist hier nun letztendlich nicht mehr möglich, die Frage nach dem Irrtum zu stellen. Aber das ist nicht alles. In Bezug auf die anderen, etwa die Einheimischen, kann solche Attitüde uns zu einer Kommunikationslosigkeit, bestenfalls zu einem Monolog führen. Die Irrtümer befinden sich hier immer auf der Seite des Einheimischen. Da wir uns in diesem Fall unserer Interpretationshypothese und unserer Weltanschauung nicht bewußt sind, können sie nicht thematisiert werden und zur Diskussion stehen. Der Einheimische wird zum Schweigen gezwungen.

    Ähnliche Fragen scheinen auch Hans-Georg Gadamer (1960, S. 272f) in seiner Hermeneutik zu beschäftigen. Nach Gadamer werden wir die Meinung des anderen niemals verstehen, wenn wir uns auf unseren „Vormeinungen“ beharren, sie „nicht ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist, auf Herkunft und Geltung“ prüfen. Aber die „Offenheit“, auf die uns Gadamer hier insistierend verweist und die als Basis des Miteinanderverstehens fungieren soll, scheint mit der „Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteilen“ Hand in Hand zu gehen. Wir können hier von einer anderen, vielleicht sogar ursprünglicheren Offenheit sprechen – einer Offenheit für uns selbst, für die erste Person, d.h., einer Art Erfahrung mit dem Faktum, daß wir uns stets in einer Weltanschauung befinden.

    Auf Ähnliches hat uns bereits Karl Jaspers in seiner Psychologie der Weltanschauungen (1919) hinzuweisen versucht, vor allem dort, wo es um die Frage nach den Weltbildern geht: „Wir leben in einer Welt des Verstandenen und Verstehbaren, ohne es zu wissen, unkritisch, uns nicht kontrollierend, begrenzt [...] Wie selbstverständlich, ohne zu fragen, wird die Gegenwart, das gewohnte und sich immer gleichbleibende soziale Milieu, das eigene Seelenleben, Fühlen und Wünschen für das einzige gehalten“. (S. 171)3 Die Selbstverständlichkeit, auf die uns in dieser Passage verwiesen werden, macht den Modus aus, in dem wir uns meistens die Dinge und die Ereignisse erfahren. Das heißt freilich nicht, daß wir für alles Verständnis haben oder alles ohne Bedenken akzeptieren. Fraglosigkeit bedeutet also nicht, daß sich man keine anderen Möglichkeiten ausdenkt, wobei dann die Dinge und Lebenserfahrungen relativiert werden könnten. Das alles spielt aber bereits in einem „Spielraum“ (Heidegger, 1927, S. 368), oder wie es Jaspers ausdrückt, in einem „Weltbild“, dessen Grenzen wir uns gar nicht bewußt sind. „Unser Weltbild ist uns immer irgendwo und irgendwie letzthin selbstverständlich. Und mögen wir auch noch soviel Einzelnes als relativ erkennen, wir leben doch mit dieser Selbstverständlichkeit schließlich irgendwie in einem Gehäuse, aus dem wir nicht hinausspringen können“ (S. 141). Wenn aber noch eine Chance besteht, daß wir aus unserem „Gehäuse“ herauskommen – d.h. in einer Weltanschauung leben, die third-personal enough ist –, dann liegt diese Chance vielleicht gerade darin, zu wissen, daß alle Anschauungen der Welt einem Gehäuse entspringen.

    Ein ausdrücklicher Dank gilt FINATEC - Fundação de Empreendimentos Científicos Tecnológicos, die unsere Teilnahme an diesem Symposium ermöglicht hat.

    Literatur

    1. Bensusan, Hilan & Pinedo, Manuel (2006), “When my own beliefs are not first-personal enough”, in Theoria (Es wird demnächst erscheinen).
    2. Brea, Gerson (2004). Wahrheit in Kommunikation. Zum Ursprung der Existenzphilosophie bei Karl Jaspers, Würburg: Ergon Verlag
    3. Davidson, Donald (1991). Three Varieties of Knowledge, in Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford: Oxford UP 2001, S. 205-220.
    4. Davidson, Donald (1973). Radical Interpretation, Dialectica, 27, S. 313-328.
    5. Gadamer, Hans-Georg (1960). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen,J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1990.
    6. Heidegger, Martin (1927). Sein und Zeit (= GA 2), hg. v. F.-W. Herrmann, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1977.
    7. Jaspers, Karl (1919). Psychologie der Weltanschauungen, München, Zürich: Piper Verlag 1994.
    8. Moran, Richard (2001) Authority and Estrangement – An Essay on Self-Knowledge, Princeton: Princeton UP.
    9. Quine, Willard. (1960) World and Object, Cambridge, Massachussets: The MIT Press.
    10. Spivak, Gayatri .(1988) "Can the Subaltern Speak?"in Marxism and the Interpretation of Culture, edited by Cary Nelson and Lawrence Grossberg, Chicago: University of Illinois Press.
    11. Williams, Bernard (1985) Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge: Harvard UP.
    12. Wittgenstein, Ludwig (PU) Philosophische Untersuchungen, hg. v. Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Wissenchaftliche Buchgesellchaft 2001.
    Notes
    1.
    Den Schüler durch seine Schritte in den Wörtern, die er dabei denkt, zu korrigieren, ist unmöglich, wenn man diese Wörter nicht versteht. Gott würde angesichts eines abnormalen Gebrauches eines privaten Wortes nicht entscheiden können, ob der Schüler sich geirrt hat, oder ob Er die Bedeutung des Wortes nicht richtig erfasst hat. Es gibt nichts, was Ihm erlauben würde, hierin eine Entscheidung zu treffen. In analoger Weise gibt es nichts, was Ihm erlaubt, zu bestimmen, ob wir uns geirrt haben oder ob Seine Interpretation irrig ist – nichts, es sei denn, daß Er mit uns einige unserer Annahmen über unsere Wörter teilt. Von daher folgen einige wichtige Bemerkungen von Davidson, die sich auf die Unmöglichkeit, Gedanken von außen her zu identifizieren.
    2.
    Bei Karl Jaspers (1919), der sich sehr früh für die Weltanschuungsproblematik interessiert hat, stoßen wir auf zwei Grundbedeutungen von Weltanschauung: die „echten“ und die „unechten“. Im ersten Fall wird Weltanschauung praktisch als Synonym für „die faktische Existenz der Seele in ihrer Totalität“ aufgefaßt. Es handelt sich um eine „konkrete“, „faktische“ Weltanschauung, die zwar „in das gesamte Leben des Individuums verwebt“ ist und die Handlungen und Verhalten bestimmen, die aber dem in ihr Lebenden „anonym“ bleibt. Zugleich hat bei Jaspers auch das übliche Verständnis von Weltanschauung Geltung, worunter nicht nur bestimmte „Lehren“ subsumiert werden, sondern Gebote, auf die man sich beruft, um seine Handlungen zu rechtfertigen. Die „unechten“ Weltanschauungen besitzen eher ein apologetischen Character und fungieren als festes und manchmal die faktische Situation ignoriendes Orientierungsmitell im Handeln. (vgl. Brea, 2004).
    3.
    Eindringlich sind diesbezüglich auch jene Passage am Anfang des Buches, in der Jaspers sich mit der Möglichkeit, eine religiös-mystische Erfahrung eines Mitmenschen zu verstehen, befaßt (S. 22). Ständig stoßen wir nach Jaspers auf Grenzen des Verstehens, die sich nicht überwinden lassen. Ich will den anderen verstehen, aber verstehe ihn eigentlich nicht. Man kann versuchen, das Phänomen etwa psychologisch oder soziologisch zu erklären oder gar existentiell zu explizieren. Aber jegliche Explikation enthält nur bestimmte, nicht die entscheidenden, die wesentlichen Elemente, die uns „nur sofern wir selbst leben, selbst Mystiker sind, selbst ganz außerhalb aller Betrachtung stehen“, zugänglich sind.
    Gerson Brea and Hilan Bensusan. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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