Franz Brentanos philosophisches Werk im digitalen Zeitalter
Franz Brentanos philosophisches Werk im digitalen Zeitalter

Abstract

Bei Franz Brentano (1838-1917) handelt es sich unbestritten um einen der wirkungsmächtigsten Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ganz im Gegensatz zu dieser Bedeutung ist es um die Zugänglichkeit seines originalen Werkes, vor allem seines Nachlasses, schlecht bestellt. Um diese unbefriedigende Situation zu beseitigen, sind seit einiger Zeit Bemühungen im Gange, Brentanos Nachlaß nach dem Vorbild der Bergen Electronic Edition des Nachlasses Ludwig Wittgensteins in einer digitalen Edition zu publizieren. Der vorliegende Beitrag versucht, die Vorteile einer digitalen Brentano-Edition darzustellen, und den aktuellen Stand der Editionsarbeiten zusammenzufassen.

Table of contents

    I.

    Im März 2007 erschien in der New York Times unter dem Titel „Knowledge Lost in a Digital Age“1 ein Artikel, in dem die Schwierigkeiten beschrieben werden, die die Bewahrung des kollektiven kulturellen Gedächtnisses in einer Welt bereiten, in der einerseits Informationen zunehmend über digitale Netzwerke bereitgestellt werden, in der aber andererseits auch die Nutzer – und hierher gehören natürlich auch die Wissenschaftler – bei der Informationssuche sich immer mehr auf die bequeme und schnelle online-Recherche beschränken. Die Folge davon ist, daß Kulturgüter, die in nicht-digitaler Form existieren, immer mehr in Gefahr geraten, aus dem kollektiven Bewußtsein zu verschwinden. Als Haupthindernisse, die einer Digitalisierung dabei im Wege stehen, werden meist nicht verfügbare finanzielle Mittel, Unsicherheit in bezug auf technologische Standards und Copyright-Fragen genannt. Diese Gefahr des „Verschwindens“ ist natürlich auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften genauso – aufgrund der erwähnten finanziellen Engpässe eher noch mehr – gegeben, als in den Naturwissenschaften oder im Unterhaltungsbereich. Man hat also auch auf dem Gebiet der Philosophie damit begonnen, zumindest die Klassiker in „digitaler Form“ bereitzustellen. Häufig handelt es sich bei dieser „digitalen Form“ aber lediglich um digitalisierte Druckausgaben, die zwar um bescheidene Suchfunktionen angereichert wurden, aber die Möglichkeiten des elektronischen Mediums bei weitem nicht ausschöpfen.

    Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier die digitale Ausgabe des philosophischen Nachlasses von Ludwig Wittgenstein, die Bergen Electronic Edition2 [BEE]. Werfen wir, bevor wir näher auf sie eingehen, einen kurzen Blick auf die editorische Vorgeschichte.

    Ludwig Wittgensteins philosophischer Nachlaß war zunächst nur einem engeren Kreis von Interessierten bekannt. In der breiteren Öffentlichkeit dagegen wurde man sich immer schmerzlicher bewußt, wie sehr es an zuverlässigen Quellen mangelte. Lange Zeit mußten die 1953 von Rush Rhees und G.E.M. Anscombe edierten Philosophischen Untersuchungen die Hauptlast der Forschung tragen. An dieser Situation änderten auch die 8 Bände der deutschsprachigen Werkausgabe, welche seit 1984 vollständig vorliegt, nicht wirklich etwas, da diese kaum die Kriterien einer historisch-kritischen Edition erfüllen konnten: sie spiegeln vielmehr die Praxis der ursprünglichen Herausgeber wider, jene gewaltige Ansammlung von philosophischen Bemerkungen, die Wittgenstein hinterlassen hat, auf eine Weise zu „Werken“ zusammenzustellen, die ohne die Kenntnis ihres Zusammenhanges mit dem Gesamtwerk kaum nachzuvollziehen ist. Aufgrund dieser unbefriedigenden Situation wurde bereits 1967 an der Cornell University das Unternehmen einer Faksimile-Edition ins Auge gefasst: das Ergebnis war der sog. Cornell-Film, der auch von zahlreichen Institutionen erworben wurde. Allerdings muß dieser Versuch als wenig gelungen qualifiziert werden, da er Wittgensteins Nachlaß nur unvollständig und editorisch kaum aufbereitet reproduziert. Auch wurden Textstellen unleserlich gemacht, um private Notizen zu verbergen. Als ersten ernsthaften Versuch einer traditionellen historisch-kritischen Edition kann daher erst Michael Nedos Wiener Ausgabe bezeichnet werden, die sich allerdings auf das zum sog. Big Typescript hinführende Nachlaßmaterial von 1929 bis 1933 konzentriert. Von den rund 70 geplanten Bänden sind zwischen 1993 und 2003 aber nur 9 Bände erschienen, die Finanzierung des Projektes durch den österreichischen Forschungsfond FWF wurde mittlerweile eingestellt.3 Neben der Wiener Ausgabe wurde aber am Wittgenstein Archiv der norwegischen Universität Bergen ein zweiter, wesentlich radikalerer Versuch unternommen, Wittgensteins Nachlaß der philosophischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nämlich die schon erwähnte BEE.

    Nach rund zehnjähriger Entwicklungs- und Transkriptionsarbeit eines mehrköpfigen Teams unter der Leitung von Claus Huitfeldt wurde sie schließlich auf nicht weniger als 6 CD-Roms publiziert. Eine Web-Version der BEE ist über die online-Plattform INTELEX zugänglich. Der Wert dieser elektronischen Edition besteht für den Benutzer vor allem aus zwei Dingen: Zum einen werden alle Manuskripte Wittgensteins – in der Anordnung dem Nachlaßkatalog von Wrights folgend – unter einer integrierenden Programmoberfläche zusammengefaßt, die es erlaubt, in allen Dokumenten simultan zu suchen und so leicht Verbindungen herzustellen, die über den einzelnen Text hinausgehen; zum anderen zeigt ihr mehrstufiger Aufbau eindrucksvoll, wie sich komplexes Quellenmaterial transparent aufbereiten lässt – im Gegensatz zu einer traditionellen Buchedition, bei der der Editor immer gezwungen ist, neben dem eigentlichen edierten Text alle textkritischen und erläuternden Informationen auf die singuläre Ebene einer Seite zu projizieren, ist bei dieser elektronischen Edition die Aufteilung der Informationen auf mehrere Ebenen möglich, die sich miteinander verknüpfen und nebeneinander präsentieren lassen. Das Manuskript Wittgensteins wird so in drei Versionen präsentiert: i) als digitales Faksimile, ii) als diplomatische Transkription, und iii) als normalisierte Transkription. Die Faksimile-Ebene bietet die digitalen Reproduktionen (fast) aller Autographe in einer lesbaren Qualität; die diplomatische Transkription versucht, Wittgensteins Text mit allen seinen Eigenheiten (inklusive seiner graphischen Anordnung) so exakt wie möglich wiederzugeben (Ebene der Textkritik); und die normalisierte Transkription stellt eine Lesefassung bereit, die es dem Benutzer ermöglichen soll, sich auf die inhaltlichen Aspekte zu konzentrieren. Von den weiteren attraktiven Möglichkeiten sei hier nur eine erwähnt: Während gedruckte Editionen einen Text meist für viele Jahre fixieren, lassen sich bei elektronischen Editionen Korrekturen und Verbesserungen in Form von Updates vorgnehmen, wodurch die Edition zu einer Art „living document“ wird. Im Falle der BEE wird genau dies in Ansätzen schon praktiziert: Auf der Website des Wittgenstein Archivs wird eine Seite bereitgestellt, auf der BEE-Benutzer von ihnen entdeckte Transkriptionsfehler eintragen können4.

    II.

    Nach dieser ausführlichen Einleitung stellt sich natürlich die Frage, was Wittgenstein mit unserem eigentlichen Thema Franz Brentano (1838-1917) verbindet. In philosophischer Hinsicht sind die Punkte, an denen sich Wittgenstein mit Brentano, der so unterschiedliche Strömungen wie die Phänomenologie oder sie sog. „österreichische Philosophie“ angeregt hat, berührt, umstritten und lassen sich noch am ehesten unter das Stichwort „philosophische Sprachkritik“ subsumieren. Erstaunliche Parallelen bestehen aber hinsichtlich des Nachlasses und der Editionsgeschichte. Ähnlich wie Wittgenstein war auch Brentano sehr zurückhaltend mit Publikationen. Die von Brentano selbst publizierten Schriften waren zwar etwas zahlreicher, aber die Texte, durch die er seine eigentliche philosophiehistorische Wirkung erzielte – vor allem die Vorlesungen aus seiner Wiener Zeit und seine späten Diktate – blieben allesamt unveröffentlicht und nur seinem engsten Schülerkreis zugänglich. Bei seinem Tod 1917 lagen ca. 25.000 Seiten an wissenschaftlichen Manuskripten vor, eine viele tausende Briefe umfassende wissenschaftliche und private Korrespondenz noch gar nicht eingerechnet.

    Erste Bemühungen um diesen Nachlaß wurden bereits unmittelbar danach durch seinen Sohn J.C.M. Brentano5 unternommen, der schließlich Oskar Kraus und Al-fred Kastil – beide Schüler von Anton Marty, dem langjährigen Statthalter Brentanos in Prag – mit der Herausgabe der Schriften seines Vaters beauftragte. Von 1920 bis zu Kastils Tod im Juli 1950 wurde von beiden ein beträchtlicher Teil des Nachlasses in 12 Bänden der Philosophischen Bibliothek des Meiner-Verlages veröffentlicht. Die Innsbrucker Philosophieprofessorin Franziska Mayer-Hillebrand, eine Schülerin Kastils, setzte als Nachfolgerin die Editionstätigkeit ganz im Sinne ihres Lehrers für weitere zwei Jahrzehnte fort.

    So verdienstvoll und unentbehrlich diese Arbeit für die Verbreitung und Bewahrung der Lehren Brentanos auch war, so zog sie doch zunehmend kritische Stellungnahmen auf sich, in denen Zweifel an den editorischen Methoden der Herausgeber formuliert wurden. Zu bedenken ist dabei allerdings, daß die Schwierigkeiten, die die Herausgeber vorfanden, beträchtlich waren. Brentanos Logikvorlesung, von Mayer-Hillebrand unter dem Titel Die Lehre vom richtigen Urteil6 herausgegeben, ist ein gutes Beispiel für diese Probleme: An zahlreichen Stellen nur stichwortartig ausgeführt, liegt sie in verschiedenen Varianten vor, die von Brentano immer wieder korrigiert, ergänzt und weiterentwickelt wurden. Im Vorwort beschreibt und rechtfertigt Mayer-Hillebrand ihre Vorgehensweise. So habe sie im Abschnitt über die Theorie des Urteils, der von Brentano nicht vollständig ausgearbeitet worden war, längere Passagen aus den Vorlesungen ihres Mannes Franz Hillebrand (auch er ein Schüler Brentanos) übernommen. Die Berechtigung dazu leitet sie daraus ab, daß Hillebrand diese Vorlesungen seinerseits unter Benutzung seiner eigenen Mitschriften von Brentanos Logikkolleg konzipiert habe. „Selbstverständliche Pflicht als Herausgeberin war es mir, alle Ergänzungen und Einfügungen durch entsprechende Hinweise kenntlich zu machen, wenn dabei auch nicht auf jeden Satz Bezug genommen werden konnte.“ Und weiter: „Es erschien angemessen und Brentanos Intentionen gemäß, in der vorliegenden Publikation nicht die Gedanken einer früheren Entwicklungsstufe, sondern seine endgültige Lehre von der Erkenntnis vorzulegen. Dies aber verlangte Ausschaltung und Ersatz einzelner Teile durch spätere Abhandlungen.“7 Diese editorische Praxis, einerseits im Interesse einer scheinbar abgeschlossenen philosophischen Lehre Werke zu kompilieren, die Brentano in dieser Form nie verfasst hat, und andererseits frühere Stufen der theoretischen Entwicklung zu elimieren, um eine definitive Fassung dieser Lehre präsentieren zu können, hat schon frühzeitig zu scharfer Kritik Anlaß gegeben8. Zu einer Modifikation der editorischen Methoden führte das aber nicht, da sich die Herausgeberin auf eine diesbezügliche briefliche Mitteilung Brentanos an Kraus berufen zu können glaubte. Da Brentanos eigener Umgang mit textkritischen Fragen – vor allem im Zusammenhang mit seiner Aristoteles-Rezeption – unter Zeitgenossen wie Theodor Gomperz oder Eduard Zeller einigermaßen umstritten war, kommt diesem Argument aber nur sehr eingeschränkte Bedeutung zu. Zusammenfassend ist also über die bei Meiner bis 1968 aus dem Nachlaß edierten Schriften9 das Urteil zu wiederholen, das oben über die Wittgenstein-Edition von Rhees und Anscombe gefällt wurde: Die editorischen Methoden entsprechen in keiner Weise den aktuellen Standards historisch-kritischen Editionen.

    Als ein für die Geschichte der österreichischen Philosophie interessantes Detail am Rande sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Rhees ein Schüler Kastils war und diesen in den Dreißigerjahren in Innsbruck und Wien aufgesucht hat. Im Nachlaß von Rhees fanden sich Brentano-Transkriptionen von Kastil. Es ist durchaus vorstellbar, daß Rhees in seiner späteren Tätigkeit als Wittgenstein-Herausgeber von Kastils editorischen Methoden beeinflußt wurde. Rhees war noch in den Fünfzigerjahren mit J.C.M Brentano, Mayer-Hillebrand und anderen Brentano-Forschern in brieflichem Kontakt. Auch war er als Brentano-Übersetzer im Gespräch und hat 1956 eine Rezension zu Brentanos Religionsphilosophie verfasst.

    Abschließend sei noch angemerkt, daß ebenso wie bei Wittgenstein auch im Falle Bretanos die Nachlaßmanuskripte verfilmt wurden. J.C.M. Brentano und seine Frau Sophie produzierten in den 50iger Jahren Schwarzweißfilme der philosophischen Manuskripte und eines Teiles der Korrespondenz, die sie einigen Universitäten in den USA und Europa zur Verfügung stellten. Die teilweise eingeschränkte Qualität der Filme und die Komplexität und Schwierigkeit der Manuskripttexte haben aber zur Folge, daß sie kein Ersatz für eine Edition sein können.

    III.

    Fassen wir die im vorigen Abschnitt kurz dargestellte Editionsproblematik bei Brentano zusammen, ergibt sich die folgende Situation: i) Trotz der bisherigen Editionen aus dem Nachlaß sind wichtige Teile daraus noch immer nicht publiziert; ii) die bisher aus dem Nachlaß publizierten Werke sind mit wenigen Ausnahmen Werke, die von den Herausgebern nach oft schwer nachvollziehbaren Kriterien zusammengestellt wurden; iii) abgesehen von der problematischen Textzusammenstellung entsprechen auch die editorischen Methoden nicht mehr akzeptablen kritischen Standards; und iv) der zur Überbrückung der unbefriedigenden Situation hergestellte Film des Nachlasses kann eine kritische Edition nicht ersetzen.10 Die Notwendigkeit einer kritischen Neuedition der Nachlaßschriften war also nicht länger abzuweisen. Die Bemühungen einer Gruppe von Editoren um Roderick Chisholm (Providence), Rudolf Haller (Graz) und Wilhelm Baumgartner (Würzburg), die schwierige Aufgabe einer lesbaren Edition, die zugleich textkritischen Anforderungen gerecht wird, in einer traditionellen Buchedition zu lösen, waren zunächst aber wenig erfolgreich.

    Gerade diese höchst unterschiedlichen Anforderungen – möglichst authentischer Text einerseits, Lesbarkeit andererseits – führte schließlich zur Entscheidung, den Weg einer elektronischen Edition nach dem Vorbild der BEE zu beschreiten, die, wie wir oben gesehen haben, diesen Anforderungen bestens entspricht. In Diskussionen mit dem Wittgenstein Archiv stellte sich allerdings heraus, daß es sinnvoller sei, den Ansatz der BEE nicht einfach zu übernehmen, sondern gewisse neuere Entwicklungen für die Brentano-Edition zu berücksichtigen, in erster Linie Entwicklungen hinsichtlich des Datenformates.

    Eines der Hauptprobleme einer jeden elektronischen Edition ist nicht so sehr die Haltbarkeit von Datenträgern wie Diskette, Festplatte oder optische Speichermedien, sondern das Format der Information selbst, das Nachhaltigkeit, universelle Lesbarkeit und Unabhängigkeit von proprietären Lösungen garantieren soll. Versuche, solche Datenformate zu entwickeln, gehen bis in die Sechzigerjahre zurück. Der erste echte Standard auf diesen Gebiet wurde aber erst Anfang der Achtzigerjahre mit der Standard General Markup Language (SGML) geschaffen. Auch die BEE ist in diesem Umfeld angesiedelt, setzt jedoch auf eine auf Wittgenstein zugeschnittene Sonderlösung, nämlich das von Claus Huitfeldt am Wittgenstein Archiv entwickelte Multi Element Code System (MECS). Aus diesem Grund wurde für die Brentano Edition nach einer alternativen Lösung gesucht. Erleichtert wurde diese Suche dadurch, daß SGML mit der eXtended Markup Language (XML) einen Nachfolger gefunden hat,11 der inzwischen zu einem stabilen Standard unter den Auszeichnungssprachen geworden ist.

    Es braucht hier nicht näher auf XML eingegangen zu werden, das in den letzten Jahren weite Verbreitung gefunden hat. Nur so viel: Bei XML handelt es sich um eine Art Informations-Container – XML enthält, formt, benennt und strukturiert Informationen. Das macht es mit in den Text eingebetteten Symbolen, die als Markup bezeichnet werden. Das Markup ist die Menge aller Elemente, mit denen die Textbestandteile ausgezeichnet werden. XML wird deshalb als Markup-Sprache bezeichnet. Um die Sache zu verkomplizieren, muß allerdings angemerkt werden, daß die Auszeichnungssprache XML im strengen Sinne gar keine Auszeichnungssprache ist: Eine Sprache hat ein festgelegtes Vokabular und eine festgelegte Grammatik. XML dagegen definiert selbst keine Elemente, sondern legt stattdessen ein Fundament aus syntaktischen Beschränkungen, anhand derer XML-basierte Sprachen geschaffen werden können. XML ist daher eine Meta-Sprache, die Regeln für die Erzeugung von Objektsprachen bereitstellt.

    Eine solche Objektsprache hat die Text Encoding Initiative (TEI)12 für den Austausch und die langfristige Bereitstellung von einerseits wissenschaftlichen, speziell geisteswissenschaftlichen Texten, andererseits aber auch von Quellentexten aus allen literarischen Bereichen und Epochen geschaffen. Zusammengestellt sind die Elemente und syntaktischen Regeln von TEI-XML in den sog. guidelines, die die schlichte Bezeichnung P tragen (was angeblich für „public“ steht). TEI-XML wird mittlerweile von zahlreichen Projekten in aller Welt unterstützt; von den Projekten im deutschsprachigen Raum seien hier Der junge Goethe in seiner Zeit (Universität München) und Jean Pauls Exzerpthefte (Universität Würzburg) genannt.

    Zur Zeit wird die Brentano-Edition nach der Version P4 der guidelines bearbeitet.13 Von den zahlreichen Elementen zur Auszeichnung von Texten, die P4 bereitstellt, kommen das als TEI light bezeichnete Basisset, erweitert um Elemente zur Beschreibung von Quellentexten und zur Erstellung von textkritischen Apparaten, zur Anwendung. Neben den allgemeinen, oben diskutierten Vorteilen von elektronischen Editionen sind es vor allem zwei Aspekte, die TEI-XML für die Brentano-Edition besonders attraktiv machen. Zum einen ist das die Integration von UNICODE, die es erlaubt, auch die bei Brentano häufig anzutreffenden altgriechischen Texte und mathematischen Formeln sicher zu repräsentieren. Zum andern sieht die Projektplanung vor, die publizierten und unpublizierten Werke Brentanos nach dem Vorbild der BEE in mehrere Ebenen aufzugliedern. Hier spielt der XML-Ansatz seine ganze Stärke aus: Die Transkription, deren Quellcode in TEI-XML vorliegt, kann nämlich durch stylesheets genannte Programme transformiert bzw. weiterverarbeitet werden. Wenn also die Transkription ausreichend komplex ist, lassen sich durch die Anwendung von unterschiedlichen stylesheets aus dem Quellcode sowohl diplomatische als auch normalisierte Fassungen eines Textes herstellen. Die Möglichkeiten sind damit aber noch nicht erschöpft. Es ist darüberhinaus vorgesehen, die Brentano-Edition in Form einer sog. Hybridedition sowohl in elektronischer (auf CD/DVD bzw. online auf einer eigenen Website) als auch in gedruckter Form zu realisieren, denn die stylesheets können nicht nur das für die diplomatische und die normalisierte Fassung vorgesehene Präsentationsformat HTML erzeugen, sondern auch das (leider proprietäre, aber dennoch) universelle pdf-Format, das den direkten Import in Satzprogramme und damit den hochqualitativen Druck ermöglicht. Daneben bieten stylesheets natürlich auch die Möglichkeit, die Edition selbst noch weiter an die Wünsche individueller Benützer anzupassen.

    Gehen wir nun kurz auf die einzelnen Präsentationsebenen ein.

    i) Das digitale Faksimile

        Zumindest in jenen Abteilungen der Edition, die von handschriftlichen Vorlagen ausgehen, ist es geplant, dem edierten Text elektronische Faksimile zur Seite zu stellen, die eine Überprüfung des edierten Textes durch den Benützer erlauben. Zu diesem Zweck muß die Qualität der elektronischen Faksimile hoch genug sein, um alle bedeutungstragenden Informationen bereitstellen zu können. Als Standardformat hierfür hat sich eine Auflösung von 300 ppi und eine Farbtiefe von 24 bit etabliert.

    ii) Die diplomatische Transkription

        Sie soll die Eigenschaften der handschriftlichen Vorlage mit Hilfe eines textkritischen Apparates exakt wiedergeben. Grundsätzlich sollte die Transkription dem laufenden Text der Vorlage so genau wie möglich folgen, weshalb auf alle „stillschweigenden Korrekturen“ und „Emendationen“ verzichtet wird. Neben der historischen Orthographie verzeichnet die Transkription auch die Irrtümer und Korrekturen des Autors. Ebenso soll die Positionierung des Textes auf der Unterlage, seine „Topologie“, abgebildet werden, was aber hohe Anforderungen stellt. Auch die Zeilen-, Spalten- und Seitenumbrüche des Originals werden als zusätzliche Information verzeichnet. Durch dieses Vorgehen soll die komplexe Struktur der Manuskripte detailliert erfasst werden, um die Textgenese sichtbar machen zu können.

    iii) Die normalisierte Transkription

        Ihre Aufgabe ist es, einen möglichst lesbaren Text bereitstellen. Aus diesem Grund soll sie nur einen stark eingeschränkten textkritischen Apparat enthalten. Im Unterschied zur BEE wird es hier Sacherläuterungen geben, die sich jedoch auf jene Informationen beschränken, die für den zeitgenössischen Leser für das Verständnis der Texte unerläßlich sind. Einen besonderen Hinweis verdienen die Probleme, die sich beim Übergang von der diplomatischen Ebene auf die normalisierte Ebene vor allem dadurch ergeben, daß bei wichtigen Vorlesungs- und Kollegmanuskripten der Text oft nur in Stichworten fixiert ist. Es wird daher überlegt, die normalisierte Transkription in zwei Fassungen herzustellen, eine Fassung, die sich ausschließlich auf den Text Brentanos beschränkt, nur Abkürzungen zu Vollformen ergänzt und offensichtlich fehlende Satzzeichen einfügt; und eine weitergehende Fassung („Lesefassung“), die mit der entsprechenden editorischen Zurückhaltung auf dem Text Brentanos aufbauend vollständige Sätze herstellt. Selbstverständlich bleiben aber auch hier alle Eingriffe und Ergänzungen immer als solche erkennbar.

    iv) Die Druckfassung

        schließlich soll es dem Leser erlauben, den Text in gewohnter Form als Buch in Händen zu halten. In ihrem Aufbau soll die Druckfassung weitgehend der Lesefassung entsprechen.

    Wie die BEE soll die Brentano-Edition vorrangig die Texte aus dem Nachlaß in zuverlässiger Form für die Öffentlichkeit bereitstellen. In dieser ersten Phase wird aus zeitökonomischen Gründen noch kein Versuch einer historisch-kritischen Aufarbeitung gemacht: die Texte sollen zwar textkritisch, aber ohne den Versuch, über den Einzeltext hinausgehend Werkzusammenhänge herzustellen, aufbereitet werden. Ebenfalls einer späteren Projektphase muß die Integration der einzelnen publizierten Texte unter einer gemeinsamen Präsentations- und Retrievalplattform (wie sie Folio Views für die BEE bereitstellt) vorbehalten bleiben. Natürlich bringen erst die Möglichkeiten einer solchen integrierenden Software, die u.a. mächtige Suchfunktionen bereitstellt oder es erlaubt, die einzelnen Texte auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten (topic mapping) zu verknüpfen, die Stärken einer elektronischen Edition voll zum Tragen. Mit diesen Vorteilen sind aber leider nur allzu oft die Nachteile von proprietären Programmen verbunden. Im Falle von Folio Views etwa hat die mangelnde Pflege der Software durch den Hersteller dazu geführt, daß sie zu aktuellen Betriebsystemen teilweise inkompatibel geworden ist. Der gegenwärtige Ansatz der Brentano-Edition hat dagegen den Vorteil, daß die HTML-Version ihrer Texte mit jedem gängigen Webbrowser zugänglich ist.

    Die Brentano-Edition wird zur Zeit von einer Kooperation der Grazer „Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie“ (FDÖP), der „Franz Brentano Forschung“ (Würzburg) und dem philosophischen Institut der Universität Salzburg getragen. Unterstützt wird das Projekt von der „Franz Brentano Foundation“ in Boston, der Thyssen-Stiftung und dem österreichischen Forschungsfond FWF.

    Bereits realisiert werden konnte die Edition von Brentanos Gespräch mit Müller und Grossmann über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Dieses auch als Pilotprojekt bezeichnete kleinere Editionsvorhaben dient in erster Linie als Vorbereitung für die Gesamtedition im Sinne einer Machbarkeitstudie: Es sollte gezeigt werden, daß eine elektronische Edition auf der Grundlage von TEI-XML prinzipiell möglich ist. Die wichtigsten Ergebnisse dieses Projektes sind zum einen die Anpassung von TEI-XML an die speziellen Erfordernisse des Brentano-Nachlasses in Form eines Transkriptionshandbuches, zum anderen die Programmierung der stylesheets für die Herstellung der unterschiedlichen Textfassungen; letztere wurden in Zusammenarbeit mit dem „Centre of Culture, Language and Information Technology“ (AKSIS) der Universität Bergen produziert, das bis vor kurzem eines der drei organisatorischen Zentren der TEI war. Das in Schönbühel aufgefundene, noch unpublizierte „Gespräch“ zeigt Brentano in ungewohnter Weise als Sokrates im Gespräch mit zwei Würzburger Medizinstudenten; im Verlauf des Gesprächs gelingt es ihm, die beiden Materialisten durch eine streng rationale Beweisführung zum Glauben an Gott „zu bekehren“. Das Gespräch soll in einem Sonderband der Brentano-Studien abgedruckt und auf einer beliegenden CD-Rom ebenso wie im www publiziert werden. Darüber hinaus sind noch drei weitere Projekte in Arbeit, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der kritischen Gesamtedition stehen.

    i) Die Würzburger Metaphysikvorlesung

        An der Würzburger Franz-Brentano-Forschung wird an der Edition einer der zentralen Schriften Brentanos gearbeitet. Die wesentlichen Ansätze, die im Mittelpunkt seines Denkens stehen und die Brentano später in eigenständigen Werken ausarbeiten sollte, sind hier bereits im Keim enthalten. Im Nachlaß trägt das Manuskript die Sig-natur M 96. Gefördert wird das Projekt, das kurz vor dem Abschluß steht, durch die Thyssen-Stiftung.

    ii) Das Wiener Logikkolleg

        In einem Kooperationsprojekt der Universität Salzburg mit der FDÖP in Graz wird an der Edition der letzten Fassung des Wiener Logikkollegs aus den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts gearbeitet. Dieses Kolleg, das Franziska Mayer-Hillebrand ihrer Edition Die Lehre vom richtigen Urteil zugrunde gelegt hat, ist eine wichtige Quelle für Brentanos Erkenntnis- und Urteilstheorie und seine Reform der Logik. Das Manuskript, das die Nachlaßsignatur EL 80 trägt, konfrontiert die Editoren mit besonderen Schwierigkeiten, da der Autor hier immer wieder größere und sehr komplexe Textumstellungen vornimmt, die die Darstellung der Textgenese bzw. die Zuordnung von diplomatischer und normalisierter Version sehr schwierig machen. Gefördert wird das Projekt vom österreichischen FWF.

    iii) Gesamtdigitalisierung des wissenschaftlichen Nachlasses an der Houghton Library der Harvard University (Cambridge, Mass.)

        Da die kritische Gesamtedition des Nachlasses so wie die BEE für sämtliche Manuskripte die digitalen Fak-simile bereitstellen soll, ist es erforderlich, den wissenschaftlichen Nachlaß, der der Houghton Library von J.C.M. Brentano als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt wurde, zu digitalisieren. Das Projekt wurde im Juni 2006 begonnen und soll bis Mitte 2008 abgeschlossen sein. Bereits jetzt liegen Brentanos Schriften zur Ästhetik, zu Logik und Erkenntnistheorie und zur Metaphysik vollständig in digitaler Form vor. Das Gesamtvolumen der Digitalisierung beträgt etwa 25.000 Seiten, von denen einige tausend Seiten nicht auf dem Nachlaßfilm vorhanden sind. Es wird überlegt, unabhängig vom Langzeitprojekt der Edition die Manuskripte schon vorher online zugänglich zu machen. Das Projekt wird von der „Franz Brentano Foundation“ in Boston finanziert und von der FDÖP organisatorisch durchgeführt.

    Notes
    1.
    Montag, 19. März 2007.
    2.
    Wittgensteins Nachlass. The Bergen Electronic Edition. Oxford University Press, the University of Bergen, the Wittgenstein Trustees: 2000.
    3.
    Vgl. „Kein Geld mehr für Wittgensteins Gesamtausgabe.“ Der Standard, 25. Mai 2004.
    4.
    Mit diesen wenigen Bemerkungen sind die Diskussionen um die Möglichkeiten einer digitalen Wittgenstein-Edition natürlich nur angedeutet. So wird z.B. auch darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit, elektronische Texte mit Hyperlinks vielfach thematisch miteinander zu verknüpfen, der Denkweise Wittgensteins besonders entgegenkomme. Andere sehen in der BEE eine Art Meta-Edition, die überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, historisch-kritische Editionen von Wittgensteins Manuskripten in Angriff zu nehmen. Vgl. dazu die Besprechung der BEE durch den Autor in Nachrichten [der] Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie, 10 (2002), S. 98-106.
    5.
    Franz Brentanos einziger Sohn war Physiker, der bei Röntgen studiert hatte und u.a. Assistent von Laue gewesen war. Seine Rolle in der Editionsgeschichte der Schriften seines Vaters ist bisher viel zu wenig gewürdigt worden. Ohne seine Hartnäckigkeit und sein finanzielles Engagement hätte es wohl kaum eine Fortsetzung der Editionsarbeiten über 1945 hinaus gegeben. Die spannende Geschichte des Nachlasses selbst, die in Zürich beginnt, und schließlich in der Harvard College Library endet, wurde bisher noch nicht geschrieben. Vgl. dazu Th. Binder, „Die Brentano-Gesellschaft und das Brentano-Archiv in Prag“. In: R. Haller (Hg.), Skizzen zur österreichischen Philosophie. Amsterdam / Atlanta: Rodopi (2000), S. 533-565, wo sich einige Bausteine dazu finden.
    6.
    Franz Brentano: Die Lehre vom richtigen Urteil. Nach den Vorlesungen über Logik mit Benützung anderer Manuskripte aus dem Gebiete der Erkenntnistheorie aus dem Nachlaß herausgegeben von Franziska Mayer-Hillebrand. Bern: Francke (1966).
    7.
    Ebda, S. XIIf.
    8.
    Direkt Bezug auf die Edition des Logikkollegs nimmt Jan Srzednicki: „Remarks concerning the interpretation of the philosophy of Franz Brentano“. In: Philosophy and Phenomenological Research XXII (1961/62), S. 308-316. Zur Editionsproblematik bei Brentano vgl. weiter Josef M. Werle: „Bericht: Überlegungen zu einer Neuausgabe der Werke Franz Brentanos“. In: Phänomenologische Forschungen 17 (1985), S. 143-164, und W. Baumgartner, Th. Binder, A. Reimherr: „Schritte zur elektronischen Edition des Werkes von Franz Brentano“. In: A. Sell (Hg.), Editionen – Wandel und Wirkung. Tübingen: Max Niemeyer (2007), S. 206-211.
    9.
    Für die danach publizierten Nachlaßeditionen von Rolf George, Klaus Hedwig u.a. fällt dieses Urteil weitaus positiver aus.
    10.
    Verschärft wird diese Situation noch dadurch, daß mittlerweile auch die Bände der Meiner-Edition fast vollständig vom Buchmarkt verschwunden sind. Um die Zugänglichkeit der Theorien eines der bedeutendsten Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts wieder zu erleichtern, hat der ontos-Verlag eine neue Initiative gestartet und will die von Brentano selbst publizierten Schriften in einer zehnbändigen Edition auf den Markt bringen. Der erste Band, Die Psychologie vom empirischen Standpunkt, soll noch 2007 erscheinen.
    11.
    Die aktuelle Empfehlung wurde 1998 vom World Wide Web Consortium (W3C) veröffentlicht.
    12.
    Die TEI geht zurück auf eine Konferenz am Vassar College im Jahre 1987, auf dem die „Association for Computers and the Humanities“ gemeinsam mit der „Association for Computational Linguistics“ und der „Association for Literary and Linguistic Computing“ beschlossen, Richtlinien für einen systemunabhängigen Textaustausch zu entwickeln.
    13.
    Vor kurzem wurde die Version P5 veröffentlicht, die speziell für die physische Beschreibung von Manuskripten neue Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Die Prüfung, ob ein Umstieg sinnvoll wäre, wurde noch nicht abgeschlossen. Die guidelines sind unter der Adresse www.tei-org frei zugänglich.
    Thomas Binder. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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