„Es ist ein Beispiel, bei dem man Gedanken haben kann.“: Wittgenstein liest Hebel
„Es ist ein Beispiel, bei dem man Gedanken haben kann.“: Wittgenstein liest Hebel

Abstract

Johann Peter Hebel (1760–1826), deutscher Dichter, evangelischer Theologe und Pädagoge, gilt als einer der „Lieblingsschriftsteller“ Ludwig Wittgensteins (McGuinness 1983, XIII). Die Liste jener, die Peter Hebel bewunderten, ist lang: So finden sich Goethe, die Brüder Grimm, Gottfried Keller und Leo Tolstoi – alles Autoren, die Wittgenstein schätzte und immer wieder las – unter ihnen.

Dieser Beitrag dokumentiert zunächst die Quellenlage zu Wittgensteins Hebel-Lektüre, um anschließend die Funktion von Hebels Erzählungen im Nachlass zu beleuchten.

Table of contents

    1. Zusammenfassung

    Johann Peter Hebel (1760–1826), deutscher Dichter, evangelischer Theologe und Pädagoge, gilt als einer der „Lieblingsschriftsteller“ Ludwig Wittgensteins (McGuinness 1983, XIII). Die Liste jener, die Peter Hebel bewunderten, ist lang: So finden sich Goethe, die Brüder Grimm, Gottfried Keller und Leo Tolstoi – alles Autoren, die Wittgenstein schätzte und immer wieder las – unter ihnen.

    Dieser Beitrag dokumentiert zunächst die Quellenlage zu Wittgensteins Hebel-Lektüre, um anschließend die Funktion von Hebels Erzählungen im Nachlass zu beleuchten.

    2. Hebel im Briefwechsel

    „Ich bin ganz entzückt von ihm“ schreibt Ludwig Wittgenstein in einem Brief vom 9. Oktober 1920 an seinen Freund Ludwig Hänsel und fügt als Fußnote „Der Hebel ist gemeint“ hinzu. Der Mittelschulprofessor Hänsel, den Wittgenstein aus den gemeinsamen Tagen im Kriegsgefangenenlager bei Cassino kennt, lebt zu diesem Zeitpunkt in Wien, Wittgenstein arbeitet bereits als Volksschullehrer in Trattenbach. Wittgenstein bezieht sich auf eine Sammlung von Erzählungen Johann Peter Hebels, die ihm Ludwig Hänsel geschenkt hat, vermutlich das Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds. Wittgenstein ist so begeistert von den Texten, dass er seinem Onkel Paul eine Hebel-Ausgabe zum Geschenk macht (vgl. ICE 21.10.20) und zunächst beschließt, die Reclam-Ausgabe im Volksschulunterricht einzusetzen. Es sind finanzielle Gründe – die Mittel der Landbevölkerung sind begrenzt –, die ihn schließlich dazu bewegen, die preisgünstigere, wenngleich weniger umfangreiche Auswahl von Texten Hebels in der Reihe von Konegens Kinderbüchern zu bestellen. Statt 18 Kronen für ein Reclam-Büchlein, kommt die Konegens-Ausgabe auf bloß 7,50 Kronen. Erzählungen von Hebel finden sich in den Heftchen Nr. 29 (Ein Büchlein Fabeln von Lessing, Gellert und Hebel) und Nr. 58 (Aus dem Schatzkästlein). Beide bestellt Wittgenstein bei Hänsel, gemeinsam mit anderen Büchern für den Schulgebrauch zu je 100 Stück, was den Preis auf 5 Kronen reduziert (ICE 30.11.20). Hebel in der Volksschule zu lesen war keine Selbstverständlichkeit, wäre es auch heute nicht, allerdings enthält Wittgensteins Volksschul-Kanon auch Lessing, Tolstoi und Swift, die in Niederösterreichs Volksschulen sicher ebenso selten gelesen wurden (vgl. ICE Einzelstellenkommentar zu „Schatzkästlein“).

    Fünf Jahre später, Wittgenstein unterrichtet nun an einer Volksschule in Otterthal, bestellt er bei Hänsel die zweibändige Hebel-Gesamtausgabe aus der Reihe „Goldene Klassiker-Bibliothek“ des Verlags Bong & Co. Wieder sind es finanzielle Gründe, die ihn gegen den Kauf einer schöneren Ausgabe in der Wiener Buchhandlung Reichmann bewegen. Wittgenstein bereut seine Entscheidung sogleich, denn „diese Bongsche [Ausgabe] giftet mich durch die viechischen Bemerkungen des Herausgebers“ (ICE 20.6.25). Der Herausgeber, Adolf Sütterlin, kommentiert im vierten Teil (zu Ende der zweibändigen Ausgabe) Hebel auf 84 Seiten. Vor allem Sütterlins Kommentare zu den Allemannischen Gedichten sind süßlich-verklärte Interpretationen: Er wird nicht Müde, darauf hinzuweisen, dass das Heimweh Hebels die treibende Kraft hinter dessen dichterischer Leistung darstellt. Im Vorwort schreibt Sütterlin:„Und diese Heimat [i.e. das Wiesental im Kreis Lörrach, Anm. D.W.] verklärte sich ihm immer mehr; sie wurde ihm zur Poesie; so dichtete er sich das Heimweh von der Seele in seinen alemannischen Gedichten.“ (Sütterlin, in: Hebel 1911, XXIII) Von den Kommentaren des Herausgebers abgesehen, ist Wittgenstein aber weiterhin von Hebel begeistert. Im selben Brief an Hänsel schreibt er: „In der Ausgabe sind übrigens ausgezeichnete Aufsätze von Hebel, die ich Dir zeigen werde, wenn wir uns sehen; sie werden Dir gefallen.“ (ICE 20.6.25)

    Im Herbst 1925 ist Wittgenstein zurück in Wien. Einen verstauchten Fuß auskurierend, weilt er vorübergehend bei seiner Schwester Margaret Stonborough, die zu diesem Zeitpunkt im Palais Schönborn Quartier bezogen hat. Dort lernt er auch Marguerite Respinger kennen, die sich erinnert, „wie sich die Jugend des Hauses nach dem samstäglichen Mittagessen rund um den bettlägrigen Ludwig scharte und dieser mit hoher Stimme Geschichten von Peter Hebel vorlas, die in ihrer Poesie die Zuhörerschaft bezauberten.“ (Prokop 2003, 155-156) Die „Jugend des Hauses“ umfasst neben Marguerite Wittgensteins Neffe Thomas Stonborough und die beiden Sjögren-Brüder, Talle und Arvid. Der Wittgenstein-Biograf Ray Monk zitiert Marguerite: „I felt again at home and moved by hearing it [i.e. Hebel] read with such deep understanding.“ (Monk 1990, 238-239)

    1931 wird wieder zu Hebel korrespondiert: Arvid Sjögren schreibt an Ludwig Wittgenstein zunächst, am 28.4.: „Den Hebel habe ich wohl aufgemacht aber viel gelesen habe ich nicht, da ich sehr viel zu tun hatte. Es ist ein gutes Buch, wo immer man es aufschlägt. Nächstens mehr.“ Und dann (vermutlich) am 7.6. desselben Jahres: „Ich habe die Astronomie im Hebel gelesen. Sehr schön. Und habe mir gedacht, wie würde heute ein solcher populärer Vortrag zum Beispiel in der Urania aussehen.“ Mit der „Astronomie“ spielt Arvid Sjögren wahrscheinlich auf die Himmelskunde Hebels in den Texten „Allgemeine Betrachtung über das Weltgebäude“, „Die Erde und die Sonne“ und „Die Planeten“ an; sie sind im Schatzkästlein enthalten. Ebenfalls 1931 schreibt Marguerite Respinger Wittgenstein einen Brief nach Cambridge: „Ich glaube, wenn Du hier wärst, würde ich Dich bitten mir etwas vorzulesen, aber nicht den Hebel – keine freundliche, gefällige Frömmigkeit. Früher wenn Du mir manchmal daraus vorgelesen hast, so war das beruhigend für mich, und brachte Frieden, Ruhe und Unkompliziertheit, u. ich konnte mich quasi wenn Wirrwarr in mir war dorthin zurückziehen und ruhig werden. Aber jetzt brauche ich eher das Gegenteil.“ (ICE 06.10.31)

    Die letzte Erwähnung Hebels in Wittgensteins Briefwechsel stammt aus dem Jahr 1936. Wittgenstein schreibt an seinen Freund und ehemaligen Kollegen, den Volksschullehrer Rudolf Koder, mit der Bitte, er möge zwei Exemplare „der Bong’schen (2 bändigen) Ausgabe von Peter Hebel’s Werken“ kaufen. (ICE [Juli 1936]) Ein Exemplar sei als Geschenk für Betty Gaun bestimmt, die Hausangestellte von Helene Wittgenstein, das zweite für Wittgenstein selbst.

    Peter Hebel taucht in Wittgensteins philosophischem Nachlass zweimal explizit auf, im MS 117 (20.3.1940) und MS 133 (11.1.1947). Es lassen sich bei Wittgenstein also Spuren zu Johann Peter Hebel über einen Zeitraum von 27 Jahren nachweisen. Die beiden Erzählungen, auf die sich Wittgenstein bezieht, sind einerseits in MS 117 „Bequeme Schiffahrt, wer’s dafür halten will“ (Hebel 1911, Bd. 2, 185), andererseits in MS 133 die letztere der beiden von „Zwei Erzählungen“ (Hebel 1911, Bd. 2, 67f.). Keine der beiden Geschichten ist in Konegens Kinderbüchern enthalten.

    3. Wittgensteins „Hausfreund“

    „Es ist ein Beispiel, bei dem man Gedanken haben kann“, heißt es in Johann Peter Hebels „Reise nach Paris“ lakonisch. (Hebel 1911, Bd. 2, 172) – Man meint, ein Motto der Philosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins zu lesen. Ist es doch Programm von Wittgensteins Spätphilosophie, mit Hilfe von Beispielen und Beschreibungen den philosophischen Drang zu Verallgemeinerungen und Erklärungen zu therapieren. Schon im Big Typescripterklärt er:

    Die Überlegungen können viel hausbackener angestellt werden, als ich sie in früherer Zeit angestellt habe. Und darum brauchen in der Philosophie auch keine neuen Wörter angewendet werden, sondern die alten, gewöhnlichen Wörter der Sprache reichen aus. (Wittgenstein WA11, 283)

    Und in den Philosophischen Untersuchungen lesen wir:

    Das Exemplifizieren ist hier nicht ein i n d i r e k t e s Mittel der Erklärung, – in Ermangelung eines Bessern. (PU §71)

    Die Hinwendung Wittgensteins zu bestimmten Formen der Literatur – Grimm’schen Märchen, Sagen, auch zu den Kalendergeschichten Hebels – hat innerhalb der 27 Jahre, in denen wir sein Interesse an Hebel nachweisen können, sicher verschiedene Gründe gehabt. Der didaktische Wert kurzer Erzählungen im Volksschulunterricht ist nicht von der Hand zu weisen. Es sind eben „Beispiele“, bei denen man Gedanken haben kann. Wittgenstein, dessen Interesse an Formen religiöser Erfahrung ihm Tolstois Spätwerk und die Schriften von William James lieb gewinnen ließ, wird wohl auch in Hebels Bibelgeschichten und religiösen Aufsätzen fündig geworden sein. Und die populärwissenschaftlichen Texte, in denen Hebel die Astronomie seiner Zeit vermittelt, dürften ihn – wie seinen Freund Arvid Sjögren – gut unterhalten haben. Neben der stilistischen Schlichtheit der Hebelschen Texte und dem Talent, auf engstem Raum erzählerische Dramatik zu erzielen, dem, was Ezra Pound als wesentliches Charakteristikum für Dichtung erkennt – nämlich dem „Verdichten“ in der Bedeutung von Komprimieren – ist die Leichtigkeit des Hebelschen Humors noch heute Grund genug, von ihm „entzückt“ zu sein (Pound 1934, 36).

    Im März 1940, als Ludwig Wittgenstein in jenes Heft Aufzeichnungen macht, das später als Manuskriptband 117 in den Nachlass eingehen wird, wechseln Überlegungen zu den Grundlagen der Mathematik mit Gedanken zur Mythologie und Psychologie. Das Hebel-Zitat Wittgensteins vom 20. 3. 1940 hat seinen Platz im Spannungsfeld von „Erklärung“ und „Beschreibung“. So interessiert ihn am 18. 3. der wissenschaftliche Impuls, die Entstehung von Fabeln aus Naturmythen zu erklären und diese Mythen wiederum als ursprüngliche Erklärungsmuster gewisser Naturerscheinungen zu verstehen. Wittgenstein stellt diese Argumentationskette in Frage. Wieso, schreibt er sinngemäß, sollten wir denn alltägliche Phänomene, die eine große Rolle in unserem Leben spielen, so ungewöhnlich finden, dass wir sie mittels mythischer Erzählungen bzw. Fabeln zu erklären versuchen? Er zitiert Sir James Jeans: „Primitive man must have found nature singularly puzzling and intricate“ (Jeans 1931, 13), und meint dazu ironisch:

    Must have‘ besonders, da wir ja wissen, daß sich jeder Bauer den Kopf darüber zerbricht, warum die Sonne auf- und untergeht, und warum der Regen aus den Wolken fällt, etc.! (Wittgenstein MS 117, 18.3.40)

    Wittgenstein stellt in Frage, was uns Fabeln lehren. Ihre Interpretation erfolgt ja immer von einem bestimmten Standpunkt aus. Das Vorwissen des Interpreten wird aber nicht explizit thematisiert, so dass die Fabel schwerlich als (objektive) Erklärung dienen kann: sie ist offen für (subjektive) Aspekte.

    Die Beschreibung, welche ich geben sollte ist ähnlich dieser: ‚Welche Erfahrungen hätte ein Mensch, der sein Leben unter den und den Umständen (etwa in einem abgeschlossenen Projektil) zubrächte, und wie könnte er diese Erfahrungen darstellen?‘ ‚Es ist hier erstens schwer nicht mit unsern eigenen Augen (d.h., von unserm eigenen Standpunkt) zu sehen, zweitens nicht zu übersehen, daß wir selbst uns ja in einer ähnlichen Lage, relativ zu einem andern Beschauen, befinden.‘ Was er erlebt wird also einerseits äußerst seltsam, anderseits ganz gewöhnlich sein. D.h., es wird auf den ersten Blick abenteuerlich erscheinen, dann aber, von ganz gewöhnlicher Art, nur im Besondern ungewöhnlich. (Wittgenstein MS 117, 20.3.40)

    An diesem Punkt erinnert Wittgenstein an jene Erzählung Peter Hebels, in der ein wandernder Handwerksbursche, der seinen schweren Reisesack – sein Felleisen – nicht mehr schleppen möchte, ein Schiff erblickt, das flussaufwärts von Mannheim nach Heidelberg gezogen wird. Er fragt den Schiffmeister, wie viel ihn die Fahrt koste, worauf dieser ihm im Scherz antwortet: „Fünfzehn Kreuzer, wenn Ihr ins Schiff wollt sitzen. Wollt ihr aber helfen ziehen, nur sechs. Das Felleisen könnt ihr mir in das Schiff werfen; es hindert Euch sonst nur.“ (Hebel 1911, Bd. 2, 185) Der Bursche entscheidet sich für die günstigere „Schifffahrt“, zahlt sechs Kreuzer und hilft, das Schiff nach Heidelberg zu ziehen. Wittgenstein dazu:

    Man möchte sagen: er tut etwas närrisches. Hätte er aber z.B. lieber ziehen, als sein Felleisen tragen wollen, so wäre es vernünftig gewesen. Man kann, was er tut, als Irrtum auffassen, als vernünftig und als unsinnig. (Wittgenstein MS 117, 20.3.40)

    Wittgenstein macht darauf aufmerksam, dass die Beschreibung selbst noch keinen Hinweis auf die Motivation des Burschen liefert. Der Beobachter/Leser befindet sich gleichsam in der Situation von Wittgensteins Schwester Hermine, der Wittgenstein auf ihr Unverständnis in Bezug auf seinen Wunsch, Volksschullehrer zu werden, erklärte:

    Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält. (Wittgenstein 1981, 18)

    Peter Hebel ist in seinen Kalendergeschichten Kommentator. Er ist der „Hausfreund“, der seine Leser bei der Hand nimmt und ihnen Geschichten mit Pointe garantiert. Liest man seine Erzählungen in Folge, nimmt diese Erwartungshaltung noch zu. Kein unphilosophischer Leser Hebels hielte daher das Verhalten des Handwerksburschen je für „vernünftig“. Diese Lesart nähme der „bequemen Schifffahrt“ ihren Witz. Wittgenstein weiß das natürlich, trotzdem befreit er die Szene von ihrer traditionellen Lesart. Warum tut er das? Wohl um darauf hinzuweisen, dass die reine Situation – die bloße Beschreibung eines Vorkommnisses – selbst noch keine bestimmte Deutung vorgibt. Ohne Erzähler keine Erzählung.

    Das Problem des Fremdpsychischen spielt auch im zweiten Hebel-Zitat im Nachlass eine Rolle. Am 11. Jänner 1947 notiert Wittgenstein im Manuskriptband 133, dass wir aus dem, was wir selbst sagen, nicht auf das schließen, was wir wahrscheinlich tun werden. Die Rolle des Interpreten nimmt man nicht zu sich selbst ein, man interpretiert Andere, und schließt für gewöhnlich aus dem, was Andere sagen, auf deren zukünftiges Tun. – In dem 1806 entstandenen Text „Zwei Erzählungen“ beginnt Hebel die zweite Erzählung mit den Worten:

    In einer anderen Stadt ging ein Bürger schnell und ernsthaft die Straße hinab. Man sah ihm an, daß er etwas Wichtiges an einem Ort zu tun habe. Da ging der vornehme Stadtrichter an ihm vorbei (…) und der Gerichtsdiener kam hinter ihm drein.
    „Wo geht ihr hin so eilig?“, sprach er zu dem Bürger. Dieser erwiderte ganz gelassen: „Gnädiger Herr, das weiß ich selber nicht.“ (Hebel 1911, Bd. 2, 68)

    In weiterer Folge kommt es zu einem Wortgemenge, und der Bürger, von dem der Stadtrichter meint, er würde ihm seine Absicht willentlich verschweigen, soll in den Gefängnisturm geworfen werden. Darauf der Bürger:

    „Da sehen Sie nun, hochgebietender Herr, daß ich reine, lautere Wahrheit gesagt habe. Wie konnte ich vor einer Minute noch wissen, daß ich in den Turm gehen werde, – und weiß ich denn jetzt gewiß, ob ich drein gehe?“ (Hebel 1911, Bd. 2, 68)

    Wittgenstein inspiriert diese Erzählung zu folgender Bemerkung:

    Wenn Einer mich auf der Straße trifft und fragt „Wohin gehst Du!“ und ich antworte „Ich weiß es nicht“, so nimmt er an ich habe keine bestimmte Absicht, nicht, ich [sei unsicher darüber ob / wisse nicht ob] ich meine Absicht werde ausführen können. (Siehe eine Hebelsche Erzählung.) (Wittgenstein MS 133, 17.1.47)

    Der entscheidende Punkt in Hebels Erzählung ist die Fehlinterpretation: „Man sah ihm an, daß er Wichtiges an einem Ort zu tun habe“, die dem Stadtrichter (und dem Leser der Hebelschen Erzählung) unterläuft.
    Im MS 138, zwei Jahre und zahlreiche Überlegungen zum Begriff „Absicht“ später, differenziert Wittgenstein zwischen Absicht (Intention) und gefasstem Entschluss:

    Die Absicht hat keinen Ausdruck in Miene, Gebärde, oder Stimme, aber der Entschluß. (Wittgenstein MS 138, 7.2.1949)

    … nur, um gleich anschließend festzustellen:

    „Die Philosophen legen sich für manches Wort eine ideale Verwendung zurecht, die dann aber nichts taugt“, denn: „[w]ie ist z.B. der Gesichtsausdruck dessen, der eine Druckseite liest, zu beschreiben.“ (Wittgenstein MS 138, 8.2.1949)

    Wittgensteins Verwendung der beiden Erzählungen Hebels ist kein wissenschaftlicher Kommentar zu Hebel, genau genommen dient Hebels Werkausgabe Wittgenstein als Materialsammlung, aus der er sich einzelner Szenen bedient. Als Leser des Schatzkästleins ist es der Zusammenhang der Kalendergeschichten, der uns eine bestimmte Lesart nahelegt, eine Erwartungshaltung in Bezug auf den Witz oder die Moral der Erzählungen einnehmen lässt. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Wittgenstein die Szenen nicht „nacherzählt“, sondern als Gedankenexperimente aus ihrem Zusammenhang herauslöst. Denn durch diesen Schachzug gelingt es ihm, die den Situationen inhärente Vieldeutigkeit sichtbar zu machen. Je reduzierter die Information, desto freier der Interpret. Eine Erfahrung, die Wittgenstein wohl schon mit den Lesern seines Tractatus gemacht haben dürfte. Es mag sein, dass die Philosophie Wittgensteins den „tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antaste[t]“ (vgl. PU §124), – eines tut sie gewiss nicht: Alles lassen, wie es ist.

    Wie schon andere vor ihm weist Gunter Gebauer in seinem Werk Wittgensteins anthropologisches Denken darauf hin, dass ein typischer Zug von Wittgensteins Spätphilosophie darin besteht, dass sie nicht im „luftleeren Raum“ stattfindet, sondern sich als Gegenbewegung zur Kontemplation immer der „Beteiligung des Menschen am Lebensprozeß“ zuwendet (Gebauer 2009, 16). Hebels Erzählungen kreisen um das Alltagsleben von Handwerksburschen, Soldaten, Hausierern, Bettlern und Landläufern jeder Art. Seine Kalendergeschichten, gesammelt im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds könnten als literarische Beschreibungen der Welt Wittgenstein in mehr als den angeführten Stellen Denkanstöße geliefert haben, eine solche Untersuchung wäre allerdings schwer zu belegen und würde mehr Raum erfordern, als dieser Beitrag zulässt.

    Literature

    1. Gebauer, Gunter 2009 Wittgensteins anthropologisches Denken. München: C. H. Beck.
    2. Hebel, Johann Peter 1911 Hebels Werke in 4 Teilen. In 2 Bänden. Hrsg., mit Einleitungen, alemannischem Wörterbuch und Anmerkungen versehen von Adolf Sütterlin. Berlin, Leipzig: Bong & Co.
    3. Jeans, James 1931 The Mysterious Universe. Cambridge: Cambridge University Press.
    4. McGuinness, Brian 1983 „Wittgensteins Persönlichkeit“. In: Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten. Hrsg. v. Michael Nedo u. Michele Ranchetti. Frankfurt/Main: Suhrkamp, I–XV.
    5. Monk, Ray 1990 Ludwig Wittgenstein – The Duty of Genius. New York: Free Press.
    6. Pound, Ezra 1934 ABC of Reading. New York: New Directions.
    7. Prokop, Ursula 2003 Margaret Stonborough-Wittgenstein. Bauherrin, Intellektuelle, Mäzenin. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
    8. Wittgenstein, Hermine 1981 „Mein Bruder Ludwig“. In: Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections. Hrsg. v. Rush Rhees. Oxford: Basil Blackwell, 14–25.
    9. Wittgenstein, Ludwig 2000a ‘The Big Typescript’. Wiener Ausgabe, Band 11. Wien / N.Y.: Springer. (Zitiert als WA11)
    10. Wittgenstein, Ludwig 2000b Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition. Oxford University Press, University of Bergen, The Wittgenstein Trustees. (Zitiert lt. Manuskript und Datum)
    11. Ludwig Wittgenstein: Gesamtbriefwechsel/Complete Correspondence. The Innsbruck Electronic Edition. (Zitiert als ICE)
    David Wagner. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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