Vom Bildspiel zum Sprachspiel – Wieviel Kompositphotographie steckt in der Logik der Familienähnlichkeit
Vom Bildspiel zum Sprachspiel – Wieviel Kompositphotographie steckt in der Logik der Familienähnlichkeit

Abstract

Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, dass Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit direkt der Bildlogik von Galtons Kompositphotographie folgt. Er wiederholt demnach die bildlogische Struktur, nach der Einzelexemplare unter einer Verallgemeinerungsabsicht in der Kompositphotographie arrangiert werden. Eine Analyse des Kompositbildes demonstriert entsprechend, dass und wie sich in ihm zwei kategorial verschiedene Bild-Merkmale überlagern. Daraus ergibt sich ein Modell jener spezifischen Simultanität von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die Wittgenstein dann zwischen den Objekten der Familienähnlichkeit thematisiert. Auch das von Frege und Russel tradierte Thema einer spezifischen Vagheit verschwommener Grenzen hat Wittgenstein anhand der optischen Überlagerungen im Kompositbild präzisiert und in den von Galton statistisch marginalisierten Bildrändern ein methodisch wertvolles „Netz von Ähnlichkeiten“ konstatiert.

Wird die bildlogische Analyse der Kompositphotographie so zum Ausgangspunkt einer Neuinterpretation des Begriffs der Familienähnlichkeit, müssen auch alle vier Standardmerkmale des Begriffs entsprechend korrigiert werden.

Table of contents

    1.

    Im folgenden Beitrag soll gezeigt werden, dass Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit direkt der Bildlogik von Galtons Kompositphotographie folgt. Er wiederholt demnach die bildlogische Struktur, nach der Einzelexemplare unter einer Verallgemeinerungsabsicht in der Kompositphotographie arrangiert werden. Eine Analyse des Kompositbildes demonstriert entsprechend, dass und wie sich in ihm zwei kategorial verschiedene Bild-Merkmale überlagern. Daraus ergibt sich ein Modell jener spezifischen Simultanität von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die Wittgenstein dann zwischen den Objekten der Familienähnlichkeit thematisiert. Auch das von Frege und Russel tradierte Thema einer spezifischen Vagheit verschwommener Grenzen hat Wittgenstein anhand der optischen Überlagerungen im Kompositbild präzisiert und in den von Galton statistisch marginalisierten Bildrändern ein methodisch wertvolles „Netz von Ähnlichkeiten“ konstatiert.

    Wird die bildlogische Analyse der Kompositphotographie so zum Ausgangspunkt einer Neuinterpretation des Begriffs der Familienähnlichkeit, müssen auch alle vier Standardmerkmale des Begriffs entsprechend korrigiert werden.

    2.

    Wittgenstein hat den vorrangig sprachphilosophisch rezipierten Begriff der Familienähnlichkeit aus seiner Beschäftigung mit Galtons Kompositphotographie entwickelt. Sie ist keineswegs bloß Inspirationsquelle des Begriffs, wie es etwa in den wissenschaftsgeschichtlichen (Stegmüller 1973), begriffsgeschichtlichen (Gabriel 1995, Goeres 2003), physiognomischen (Macho 2004), analogischen (Kunzmann 1998), bildtheoretischen (Reichle et.a. 2007) Anknüpfungen den Anschein hat. Vielmehr thematisiert die Kompositphotographie zwischenbildliche Relationen, die von Wittgenstein dann auf das Problem jeder Verallgemeinerung – auch der begrifflichen – bezogen werden.

    Wittgenstein, der das photographische Verfahren nicht nur kannte, sondern selbst auch praktisch erkundet hatte, erwähnt es oft im Zusammenhang mit den Themen der Allgemeinheit von Bildern oder Begriffen.

    „Nach einer anderen Auffassung des allgemeinen Begriffs ist er so etwas wie ein allgemeines Bild bzw. eine zusammengesetzte Photographie mit unscharfen Umrissen.“ [V 243] Als „andere Auffassung“ wird hier die statistische Erwartung Galtons zitiert, allerdings bereits verwiesen auf jene Bildbereiche, in denen die Differenzen zwischen den porträtierten Individuen sichtbar werden. Diese „unscharfen Umrisse“ eines „allgemeinen Bildes“ zeigen damit auch, wie Geltungsansprüche und -zuschreibungen an Bildqualitäten scheitern.

    So erkennt Wittgenstein, dass die spezifische Unschärfe des Kompositbildes dessen Allgemeinheitsanspruch notwendig destruiert. Demnach handelt das Komposit nicht mehr von den Personen, die auf den Bildern zu sehen sind, sondern von den Beziehungen zwischen den Bildern, wie sie im Kompositbild zur Darstellung kommen. Diese Beobachtung wird ihm zum Anlass, über eine Korrektur jeglicher Allgemeinheitsbegriffe nachzudenken. Die Qualitäten des Kompositbildes generieren so eine philosophische Methode, die auf die Simultanität von Unterschieden und Gemeinsamkeiten abzielt, insofern das Komposit zwar immer eine Gruppe von Objekten thematisiert, aber nur deren Differenzen wiedergeben kann.

    „Die Vorstellung, dass man, um sich über die Bedeutung einer allgemeinen Bezeichnung klar zu werden, das gemeinsame Element in all ihren Anwendungen finden muß, hat [...] den Philosophen veranlaßt, über konkrete Fälle als irrelevant hinwegzugehen; Fälle, die allein ihm hätten helfen können, den Gebrauch der allgemeinen Bezeichnung zu verstehen.“ [BlB 40f.]

    Die allgemeinen Bezeichnungen verstehen wir demnach nur über konkrete Einzelfälle, so wie wir das eine allgemeine Bezeichnung sein wollende Kompositbild nur verstehen, wenn wir es – zumindest gedanklich – in seine jeweiligen Komponenten zerlegen, denn erst so lassen sich seine zwischenbildlichen Relationen wahrnehmen. Wittgenstein möchte deshalb durch die „Aufzählung“ „eine[r] Reihe mehr oder weniger synonymer Ausdrücke“ „einen Effekt der gleichen Art erzielen wie Galton, als er dieselbe Platte mit den Aufnahmen verschiedener Gesichter belichtete, um so das Bild der typischen, allen gemeinsamen Merkmale zu erhalten.“ [Vortrag über Ethik 10]

    Daraus ergibt sich jedoch eine prinzipiell unabgeschlossene Aufzählung von Einzelfällen, die nach einem adäquaten Modus der Ordnung verlangen, den Wittgenstein ebenfalls aus den Qualitäten des Kompositbildes bezieht.

    So „wünsch[t]“ er sich imBlauen Buch ein Bezeichnungssystem, das einen Unterschied stärker hervorhebt oder ihn offensichtlicher macht, [aber auch] Ausdrucksformen gebraucht, die mehr Ähnlichkeit miteinander haben.“[BlB 95] Gefordert wird damit also ein neuer Modus der Unterscheidung, der Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen konkreten Einzelfällen oder ihren Bildern zugleich berücksichtigt.

    Noch der „völlig fließende Gebrauch der Wörter“ lässt den Philosophen daher „zehn oder zwölf Bilder zeichnen, die in einigen Hinsichten dem tatsächlichen Gebrauch dieser Wörter gleichen. Dass ich diese Bilder zeichnen kann, ist nicht darauf zurückzuführen, dass ihnen allen etwas gemeinsam ist; es mag sein, daß sie in recht komplizierten Beziehungen zueinander stehen.“ [V 206] Diese komplizierten Bild-Beziehungen finden ihren adäquaten Ausdruck in einer Bildproduktion, die offensichtlich die Logik der Familienähnlichkeit vorweg nimmt, entsprechend bezeichnet Wittgenstein sogar den Bildbegriff der Philosophie als „eine Familie von Vorstellungen“ [VPP 55].

    Wittgenstein gelangt damit zu „Erweiterungen des Gebrauchs des Wortes ´Bild`“, die deshalb „äußerst nützlich sein [können, weil] sie Übergänge zwischen den Beispielen aufzeigen, denn die Beispiele bilden eine Familie, die in ihren äußersten Gliedern höchst verschieden aussieht.“ [V 235] Mit der äußersten Position wird hier wiederum auf den Randbereich des Kompositbildes verwiesen und damit seine zweite wesentliche Eigenschaft, seine spezifische Unschärfe betont, die auch für begriffliche Verallgemeinerungen fruchtbar gemacht werden soll.

    „Man kann sagen, der Begriff ´Spiel` ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. – ´Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff?` – Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild eines Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ [PU § 71] Appeliert wird hier wieder an die spezifische Unschärfe bildlicher Verallgemeinerungen, die nicht mit künstlerischen Stilisierungen der Photographie oder der physiologischen Wahrnehmungsunschärfe identisch ist. Denn nur in den unscharfen Rändern oder Umrissen der Kompositphotographie, die einen allgemeinen Begriff demonstrieren möchte, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen verglichenen Objekten simultan präsent.

    Es sind also zwei Qualitäten, die Wittgenstein als Korrektiv der Allgemeinheit aufbietet. Sie zeichnen die Familienähnlichkeit und die Kompositphotographie gleichermaßen aus: die Simultanität von Unterschieden und Gemeinsamkeiten und die spezifische Unschärfe der Ränder.

    3.

    Ob die Kompositphotographie wirklich die begrifflichen Verhältnisse der Familienähnlichkeit „veranschaulicht“ [Goeres 2003: 354], ist auch davon abhängig, welche Logik beiden zugeschrieben wird.

    Legt man nach der Methode der optisch / photographischen Überlagerung folgende zwei (reduzierten) Bilder übereinander, so gibt das Kompositbild eine Überschneidung wieder, die offenbar kein gemeinsames Merkmal der porträtierten Figuren zeigt, weil der hervorgehobene Linienabschnitt (schwarze Punkte) in jeder der ursprünglichen Konfigurationen eine andere Position hatte, für sie also ein jeweils anderes Merkmal darstellt.

    Gleichwohl führt das Kompositbild doch offensichtlich auch eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden montierten Bildern vor, insofern es partiell übereinstimmende Farbaufträge wiedergibt.

    Diese optischen Überlagerungen heben allerdings Bildpositionen hervor, die keinerlei wesentliche Beziehung zum bildlich Dargestellten haben. Es handelt sich um Bildbestandteile, die pauschal und unabhängig von bildinternen Beziehungen bilanziert werden können. Sie folgen direkt aus der formalisierten Montage eines Kompositbildes, weil es sich um Bildpunkte handelt, die entweder über den gleichen Abstand zum Rahmen oder – wie beim digitalen Komposit – über die Pixelposition bestimmt werden. Ich werde sie pictoriale Konvergenzen nennen.

    Konfigurative Bildmerkmale sind dahingegen ausgewählte Bildpartien, die sich in Form von Linien, geometrischen Körpern, Konturen oder Physiognomien aufeinander beziehen. Damit ist zugleich ausgedrückt, warum die vom Kompositverfahren gesuchten Gemeinsamkeiten nie in einem rein technisch objektiven Prozess generiert werden können. Denn um festzustellen, was sich hier wie aufeinander bezieht, bedarf es der Entscheidung von Monteuren, die besondere bildimmanente Arrangements eigens auswählen und bewerten.

    Die schwarzen Punkte des Kompositbildes sind in konfigurativer Hinsicht also völlig willkürlich, sie greifen aus den überlagerten Konfigurationen beliebige Punkte heraus, denn sie können die graphischen Merkmale der Einzelbilder, in denen jeder Punkt in seinem jeweiligen Bezugssystem eine einmalige Position einnimmt, nicht verallgemeinern. Zwar ist es durchaus möglich, dass in den pictorialen Konvergenzen auch partielle konfigurative Überlagerungen vorkommen. Allerdings bleibt diese Verbindung ununterscheidbar.

    Es lassen sich rein pictoriale von den zugleich pictorialen und konfigurativen Gemeinsamkeiten nicht trennen und dass es beide Arten in den überlagerten (schwarzen) Partien des Bildes geben kann, liegt an der notwendigen und erwünschten Verschiedenheit der montierten Bilder. Denn systematisch betrachtet können pictoriale und konfigurative Bildmerkmale nur dann entscheidbar übereinstimmen, wenn identische Bilder montiert werden. Das widerspräche jedoch dem heuristischen Anliegen des Verfahrens, weil so ja rein tautologisch argumentiert würde.

    Das Kompositbild verallgemeinert, indem es erstens pictoriale Gemeinsamkeiten in den schwarzen Flächen zeigt, in denen sich partiell und ununterscheidbar auch konfigurative Gemeinsamkeiten befinden können. Zweitens zeigt es konfigurative Unterschiede in seinen grauen Partien, die zugleich unvermeidbar und vollständig pictoriale Unterschiede sind. In diesen „unscharfen Rändern“, die Francis Galton noch als marginale Details verstanden hatte [Sekula 2003:316], realisieren sich damit negativ die Verallgemeinerungsansprüche der Kompositphotographie.

    Das Kompositbild ist so ein komplexer Ausdruck zwischenbildlicher Beziehungen, der genau der Logik der Familienähnlichkeit entspricht. Denn wesentlich ist ihm, dass pictoriale Gemeinsamkeiten und konfigurative Unterschiede zwischen den montierten Bildern zugleich präsentiert werden, und dass sich in seinen grauen „Rändern“ diverse Unschärfen konzentrieren und ein „Netz von Ähnlichkeiten“ schaffen, „die einander übergreifen und kreuzen“ [PU § 66]. Damit verlangt die Kompositphotographie bereits nach jenem Prozess einer vielschichtigen Deutung, in dem letztlich jede Zusprache von Familienähnlichkeit resultiert.

    4.

    Diese Analyse wirkt sich auch auf die Bewertung der vier Standardmerkmale der Logik der Familienähnlichkeit aus, wie sie bereits von Bambrough (1960) vorgetragen wurden (vgl. Gabriel 1995): Demnach ordnet die Familienähnlichkeit ihre Exemplare so, dass erstens jedem eine feste, genealogisch fixierte Position innerhalb einer „Entwicklungslinie“ [Gabriel 1995:632] zugewiesen wird. Zweitens muss daher eine Gruppe von mehr als zwei Exemplaren vorliegen, damit überhaupt eine familienähnliche Situation konstatiert werden kann. Drittens kann so eine völlige Merkmalsdivergenz zwischen Exemplaren nur als seltene Ausnahme und besondere Beziehung zwischen den äußersten Exemplaren, nicht zwischen Nachbargliedern der Reihe bestehen, und viertens wird die Qualität der verglichenen Merkmale monokategorial als klassisch attributive aufgefasst. Geht man jedoch, wie hier vorgestellt, von einer Analyse der Beziehungen von Einzelbildern in der Kompositphotographie aus, so müssen alle vier Merkmale revidiert werden.

    Eine „Entwicklungslinie“ setzt unverrückbare Positionen zwischen familienähnlichen Objekten voraus. Nur dadurch tritt aber überhaupt erst die Frage auf, ob und wenn ja warum Wittgenstein auch unähnliche Elemente familienähnlich nennen kann, denn erst die Reihung der Entwicklungslinie exponiert entsprechend randständige Exemplare.

    Die Kompositphotographie verhält sich hier gänzlich anders, weil sie keines der montierten Bilder genealogisch positioniert. Die Reihenfolge der Montage ist für das jeweils produzierte allgemeine Bild irrelevant.

    Hier schließt sich unmittelbar die Frage nach der Merkmalsqualität an, die den randständigen Elementen fehlt. Wenn man es mit Wittgenstein für möglich hält, dass auch extrem verschiedene Elemente familienähnlich sein können, so stellt sich die Frage, welche Qualitäten dann im Unterschied zu den nur nachbarschaftlich ähnlichen Elementen für die Familienähnlichkeit entscheidend sind. Die Kompositphotographie macht hier keine Unterschiede. Macht Wittgenstein überhaupt welche? Oder zielt sein Hinweis, dass überhaupt keine Übereinstimmung zwischen familienähnlichen Elementen bestehen muss, nicht eigentlich darauf ab, die formale Gleichwertigkeit der Elemente hervorzuheben, wie sie für die pictorialen Gemeinsamkeiten im Kompositbild galt. Die fehlende Übereinstimmung zwischen den randständigen Elementen betrifft dann stellvertretend alle Glieder der Kette, weil es auf die Ähnlichkeiten zwischen Nachbargliedern zumindest hinsichtlich der strukturierenden Logik der Familienähnlichkeit nicht ankommt. Die vielen möglichen Assoziationen zwischen Nachbargliedern sind zwar ein höchst interessanter semantischer Beifang, der Familienähnlichkeiten nebenbei auch noch auszeichnet, aber das logische Verhältnis zwischen ihnen gründet bereits auf dieser prinzipiellen (keineswegs hermeneutisch erzeugten) Gleichheit, die auch den Konnex zwischen den randständigen Elementen ausmacht und bereits sie in die Gruppe familienähnlicher Fälle einreiht.

    Diese Zugehörigkeit ist keineswegs beliebig, denn es gehört trotz Offenheit einer jeden familienähnlichen Gruppe gleichwohl nicht jeder Gegenstand hinzu. Und sie stellt in dieser Perspektive die grundsätzliche Verbindung aller Elemente einer Gruppe bereit, weniger Zusammenhang geht nicht, alles was dazu kommt ist extra und, wie ich zeigen möchte, auch kategorial verschieden. Will man nun wissen, was die Familienähnlichkeit ausmacht, muss man also verstehen, was die randständigen, vermeintlichen Ausnahmen mit allen anderen Elementen der familienähnlichen Gruppe gemeinsam haben. Dieser basale Konnex ist kategorial verschieden von anschaulich konnotativen Übereinstimmungen wie „Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe“ [PU § 67], bei denen es sich offensichtlich um konfigurative (interpretative) Binnenkriterien des Vergleichs handelt.

    Geht man vom Vorbild der Kompositphotographie aus, so besteht die bindende Konvergenz zwischen allen montierten Elementen im gemeinsamen medialen Format. Diese formale Gemeinsamkeit ist dann aber nicht mehr auf feste Positionen in einer Aufzählung angewiesen, weshalb auch bereits zwei Elemente familienähnlich sein können.

    Familienähnliche Objekte sind prinzipiell unähnlich, allerdings kommt dabei Unähnlichkeit in zwei verschiedenen Kategorien vor. In der Kategorie der Pictorialität, wahlweise der Medialität und Sprachlichkeit der Sprachspiele, muss eine grundsätzliche Übereinstimmung bestehen, damit überhaupt eine Familienzugehörigkeit von Elementen erwartet werden kann. Weil sie eine konstruktive Vorannahme mit Verallgemeinerungstendenz ist, besteht sie für alle Elemente in gleicher Weise. In der Kategorie der konfigurativen Bildmerkmale, der Semantik, sind alle Elemente singulär und dieses Zugleich von pictorialen Gemeinsamkeiten und konfigurativen Unterschieden stellt das grundsätzliche Modell der Familienähnlichkeit bereit.

    Diese mediale Konvergenz besteht aber unabhängig von der detaillierten Zusprache konfigurativer Gemeinsamkeiten. Das „Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“ entwickelt sich erst auf der Basis einer Familienählichkeit, die wie die Kompositphotographie zunächst durch den medialen Fokus der Konstruktion eine formale / pictoriale Gemeinsamkeit schafft. Alle Elemente, die durch eine konstruktive Voreinstellung einem komplexen System zugesprochen werden, bilden demnach die Menge familienähnlicher Objekte. Die Voreinstellung „Faden“ [PU § 67] impliziert so die Zugehörigkeit aller jeweils verwendeten Fäden, der Fokus auf das Wort „Spiel“, alle sprachlichen Ereignisse, die diese Buchstaben- oder Lautfolge verwenden.

    Zu dieser formalen Konvergenz der konstruktiv vereinten Elemente tritt noch ihre grundsätzliche semantische Verschiedenheit hinzu. Darin besteht die Eignung der Familienähnlichkeit für das von Wittgenstein gesuchte „neue Bezeichnungssystem“, das Unterschiede und Gemeinsamkeiten gleichzeitig präsentiert. Entscheidend ist jedoch, dass sie in dieser Gegenüberstellung kategorial verschieden sind, während sich in den so entstandenen Unterschieden die verwendeten Kategorien deckungsgleich überschneiden.

    Auf dieser Basis wird jedoch auch die von Wittgenstein eingeforderte heuristische Relevanz unscharfer Bilder / Begriffe plausibel. Die grauen Flächen und unscharfen Ränder der Kompositphotographie entsprechen bildlogisch einer Summierung von Unterschieden, die zudem noch die kategorial beteiligten Merkmale umfasst. Das Netz von sich übergreifenden und kreuzenden Ähnlichkeiten liegt in diesem Pool verallgemeinerter Differenzen aus. Diverse semantische Binnenbeziehungen sind hierauf abbildbar und stellen mit der Nivellierung der Kategorien innerhalb der Unterschiede fortwährend auch die kategoriale Spezifik der Gemeinsamkeiten infrage, durch die sie überhaupt erst in einen Prozess der Unterscheidungen gelangen konnten, weil nur die formale und konstruierte Konvergenz graue Flächen und unscharfe Ränder sichtbar werden lässt.

    Literatur

    1. Bambrough, R. 1960-61, Universals and Family Resemblances; in: Proceedings of the Aristotelian Society 61, S. 207-222.
    2. Frege, G. 1962, Grundgesetze der Arithmetik.
    3. Gabriel, Gottfried 1995, Eintrag Familienähnlichkeit, in: Jürgen Mittelstraß: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart u. Weimar (Metzler) 1995 (korr. Nachdruck) Bd.1; S.631-632.
    4. Goeres, Ralf 2003, Eintrag Familienähnlichkeit in: Rehfus, Wulff D. (Hg.): Handwörterbuch Philosophie, Göttingen (UTB), S. 353-354.
    5. Kunzmann, Peter 1998, Dimensionen von Analogie. Wittgensteins Neuentdeckung eines klassischen Prinzips; Düsseldorf und Bonn (Parerga), bes. Kap. 6.
    6. Macho, Thomas 2004, „Es schaut uns doch an“. Zur physiognomischen Metaphorik in Wittgensteins Aufzeichnungen; in: Arnswald, Ulrich; Kertscher, Jens; Kroß, Matthias (Hrsg.): Wittgenstein und die Metapher, Berlin (Parerga); 253-267.
    7. Reichle, Ingeborg; Siegel, Steffen; Spelten, Achim (Hrsg.) 2007, Die Familienähnlichkeit der Bilder; in dies.: Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, S.7-11.
    8. Russel, B.1923, Vagueness, Australasian J. Philos. Psychol. 1, 84-92.
    9. Sekula, Alan 2003, Der Körper und das Archiv; in: Wolf, Herta (Hg): Diskurse der Fotografie; F.a.M., S.269-334.
    10. Stegmüller, Wolfgang 1973, Theorie und Erfahrung, Bd.2, Heidelberg NewYork, S.195 ff.
    11. Wittgenstein 1989, Vorlesungen 1939-35, F.a.M. (Suhrkamp).
    12. Wittgenstein 1991, Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47; F.a.M. (Suhrkamp).
    13. alle weiteren Wittgenstein Zitate wurden nach üblichen Siglen aus der Suhrkamp Gesamtausgabe von 1984 entnommen.
    Ulrich Richtmeyer. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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