Das Selbstbild bei Ludwig Wittgenstein im Gegensatz zu René Descartes
Das Selbstbild bei Ludwig Wittgenstein
im Gegensatz zu René Descartes

Abstract

Ausgehend von Descartes Selbstverständnis soll Ludwig Wittgensteins Selbst-Bild und Selbstverständnis dargestellt werden. Wie versteht Wittgenstein die 1. Person? Hierbei wird kurz Descartes methodischer Zweifel und sein dualis-tisches Weltbild erörtert und anhand Hans Slugas Überle-gungen Wittgensteins Selbstbild dargestellt. Wittgenstein zeigt zum einen mehr skeptische Ansichten als Descartes und Wittgensteins anticartesisches Selbstverständnis kommt deutlich hervor.

Table of contents

    1. Descartes (1596–1650)

    Das Selbst bei Descartes zeigt sich schon so, dass die Meditationen in der Ich-Form geschrieben sind. In Korrelation mit dem methodischen Zweifel ist das denkende Ich dasjenige, an dem nicht gezweifelt werden kann. „Hier werde ich fündig: das Denken [=Bewusstsein, Anm. B.M.] ist es, es allein kann von mir nicht abgetrennt werden; Ich bin, Ich existiere, das ist gewiss.“ (Descartes 2004, 83)

    Drei Gründe für den methodischen Zweifel werden angebracht, kognitive Grundlagen – orientiere ich mich nur an den althergebrachten Dingen oder habe ich dies selbstständig überlegt, die Frage, ob ich in einem Wach- oder in einem Traumzustand bin und drittens wirft Descartes die Überlegung auf, ob ich Opfer eines marionettenhaften Verhaltens in der Macht eines bösen Dämons bin.

    Der Zweifel lässt sich wie folgt darstellen:

    „Ich nehme also an, alles, was ich wahrnehme, sei falsch; ich glaube, dass nichts von alledem jemals existiert habe, was mir mein trügerisches Gedächtnis vorführt. Ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind Chimären. Was soll da noch wahr sein? Vielleicht dies eine, dass es nichts Gewisses gibt.“ (Descartes 2004, 77)

    Der methodische Zweifel rückt Descartes in die Nähe des Skeptizismus, ohne ein Skeptiker zu sein. Er fragt nach unhinterfragbaren Prinzipien und löst das Problem (scheinbar) damit auf, dass man an Gott nicht zweifeln braucht. So argumentiert Descartes in der 6. Meditation, dass das, was man klar und deutlich erkennen kann, von Gott sei und einen kein Betrügergott täuscht.

    „Zum wenigsten weiß ich nun, dass sie, soweit sie Gegenstand der reinen Mathematik sind, existieren können, da ich diese klar und deutlich erfasse. Denn Gott ist ohne Zweifel imstande, alles das zu bewirken, was ich so klar aufzufassen imstande bin; nur wenn etwas einer deutlichen Auffassung widerstreitet, kann es, wie ich feststellte, Gott nicht entstehen lassen.“ (Descartes 2004, 177)

    Descartes setzt zwar überkommene Vorstellungen einer radikalen Hinterfragung aus, um ein festes Fundament zu errichten, aber er macht hierbei einerseits Ausnahmen, andererseits bringt er einen Beweis Gottes, damit sein metaphysisches und erkenntnistheoretisches Gebäude nicht zusammenbricht.

    So ist es nicht schwer, den Zweifler Descartes dahingehend zu überführen, dass er kein Skeptiker ist. Im Gegensatz hierzu kann man den Ausführungen Hans Slugas in seinem Aufsatz „Pyrrhonian Scepticism – Ludwig Wittgensteins Bezug zum Skeptizismus“ nachgehen und Hans Sluga wirft sogar die Frage auf, ob Wittgenstein ein pyrrhonischer Skeptiker sei.

    Wittgenstein würde überhaupt in einem skeptischen Ton schreiben. Auch die These, dass metaphysische Sätze unsinnig seien, verweist auf ein skeptisches Unterfangen. Ebenso kann man die Thematik des Regelfolgens und die Diskussion um die Privatsprache als skeptisch charakterisiert.

    „But he also writes much of the time in a strikingly sceptical tone of voice. His Tractatus proposes, for instance, to show us, that metaphysical claims are strictly senseless. And what are we to say to his 'skeptical’ arguments against the possibility of an essentially private language? Do these not amount to a philosophical skepticism concerning necessity and private experience.” (Sluga 2004, 100)

    Sluga weist überraschende Übereinstimmungen nach. Wittgenstein als einen Pyrrhonischen Skeptiker zu beschreiben, gehe auf Fritz Mauthner zurück. Mach habe Metaphern von Sextus Empiricus, dem wichtigen Exponenten der Pyrrhonischen Skeptik übernommen, diese übernahm wiederum Mauthner von Mach und Wittgenstein dann von Mauthner. Mauthners Schatten lägen über Wittgensteins Formulierungen, z.B. die Sätze 4.002 oder 5.5563.

    Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrücken lässt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. – Wie man auch spricht, ohne zu wissen, wie die einzelnen Laute hervorgebracht werden.

    Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser.

    TLP 4.002: Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen.
    Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen.
    Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert.

    Sluga sieht durchaus Differenzen zwischen Mauthner und Wittgenstein, er hält jedoch fest, dass ein wichtiges Argument für die skeptische These spricht, nämlich, dass Philosophie Sprachkritik sei. Weitere Argumente der Nähe zwischen Wittgenstein und Mauthner findet man, wenn man Mauthner bezüglich der Philosophischen Untersuchungen liest. So finden sich bei Wittgenstein und bei Mauthner ähnliche Auffassungen von der Sprache. Für Mauthner sei Sprache weniger eine Repräsentation, als vielmehr ein Kommunikationsmittel. Als solche existiert sie als soziale Realität. Auch Formulierungen von Mauthner, eine Regel sei nichts anderes als ein Ausdruck unseres Gebrauchs unserer Sprache entsprechen Überzeugungen von Wittgenstein aus den Philosophischen Untersuchungen.

    Das Selbst bei Descartes bekommt eine weitere Nuance bei Descartes Abhandlung über die Verschiedenheit von Körper und Geist. So zeigt sich ein markantes Selbstverständnis bei Descartes – die reale Verschiedenheit von Körper und Geist. Gilbert Ryle schlägt direkt in diese Kerbe und kritisiert ein solches Verständnis als ein ,Gespenst in der Maschine‘.

    Descartes reale Verschiedenheit von Körper und Geist verlangt nur die Trennbarkeit, nicht das Getrenntsein ist wichtig. Es ist eher selten, dass in einem Leben der Geist vom Körper getrennt existiert, und ohne Mensch besteht. Als Koordinationsstelle wird die Zirbeldrüse genannt – sie sei die Schaltstelle von Körper und Geist. Für seine Theorie bringt Descartes zwei Beweise, einen erkenntnistheoretischen und einen naturalistischen und Beispiele. Der erkenntnistheoretische Beweis fordert das klare und deutliche Erkennen, während der naturalistische Beweis aufzeigt, dass ein Mensch nicht wie eine Maschine nachbaubar ist und es also etwas zusätzliches bedarf. Eines seiner Beispiele sind Phantomschmerzen – ein Mensch, der seinen Arm im Krieg verlor, kann dort trotzdem plötzlich Schmerzen verspüren. Wo kein Körper mehr ist, bleibt die Empfindung zurück.

    Gilbert Ryle verwirft das cartesische Weltbild mit dem Vorwurf, dass Descartes einen Kategorienfehler begehe. Der Geist sei eine andere Kategorie als der Körper und könne so nicht in dem Zusammenhang dargestellt werden, wie es Descartes tue. So könne man z.B. seinem Nachbarn begegnen, aber nicht dem Durchschnittssteuerzahler; ebenso könne man bei einem Fußballspiel die Spielregeln erklären, nicht aber mit derselben Art und Weise den Mannschaftsgeist. Ebenso würde man sich wundern, wenn man einem jungen Wissenschaftler die Gebäude der Universität Oxford zeige und dieser hinterher fragen würde, wo denn nun aber bitte die Universität sei – Descartes würde den wahren Begriff von Geist mit seiner dualistischen These eher verwirren als klären, so Ryles Vorwurf.

    2. Das Selbstbild bei Ludwig Wittgenstein

    Eine schöne Analyse findet man bei Hans Sluga – „,Whose house is that?‘ – Wittgenstein on the self“ (in: Stern/Sluga 1996). Hans Sluga beginnt seinen Aufsatz mit § 398 der Philosophischen Untersuchungen, einem Landschaftsbild, auf dem ein Mann und ein Haus zu sehen ist – wem das Haus gehöre, fragt Wittgenstein, nun dem Bauern, der davor sitzt, wäre eine mögliche Antwort. Dann jedoch, so Wittgenstein weiter, könne er das Haus nicht betreten. Hans Sluga fragt, ob der der Bauer für das Selbst steht, das es nicht gibt? Was bedeutet es, dass er das Haus besitzt, jedoch nicht betreten kann? Was erzählt uns diese Geschichte?

    Wittgensteins Diskussion über das Selbst bedeutet einen Komplex zu betrachten, und zwar Fragen nach dem Geist und der Sprache.

    Wittgensteins Position ist eine anticartesische. Hierbei findet Sluga im Tractatus logico- philosophicus Stellen, die dies belegen. Außerdem lassen sich das Blue Book und die Philosophischen Untersuchungen heranziehen. So z. B. Im Tractatus Satz: 5.631 Das denkende, vorstellende, Subjekt gibt es nicht. Im Blauen Buch findet sich die Aussage, dass Wittgenstein der Sprache vorwirft, die Illusion hervorzurufen, dass das Wort „Ich“ auf etwas körperloses referiere, das in unserem Körper sitze, dies jedoch nur als das ego erscheine und nicht wirklich sei; und in den Philosophischen Untersuchungen § 410: „Ich“ benennt keine Person, „hier“ keinen Ort“ und „dieses“ ist kein Name. Aber sie stehen mit Namen in Zusammenhang.“

    Sluga zeichnet den Weg im Tractatus, beginnend mit Satz 5.54 nach, den man anticartesisch verstehen kann. Es gebe keine Seele, schreibt Ludwig Wittgenstein und wendet sich gegen die Psychologie, die die Seele als etwas zusammengesetztes versteht.

    TLP 5.5421: „Dies zeigt auch, dass die Seele – das Subjekt etc. – wie sie in der heutigen oberflächlichen Psychologie aufgefasst wird, ein Unding ist.
    Eine zusammengesetzte Seele wäre keine Seele mehr.“

    Im nächsten Satz wendet sich Wittgenstein gegen Überlegungen von Bertrand Russell.

    Russell habe für ein cartesisches Verständnis bzgl. einer Theorie der Bedeutung geworben, das wiederum von Wittgenstein angriffen wurde.

    Russell wird wie folgt beschrieben – in den Principles of Mathematics (1903) sieht er eine Differenz zwischen einer Proposition und einer Reihe seiner Komponenten. Das erstere bildet eine Einheit, während das zweitere dies nicht tut. Wie aber kann man diese Einheit erklären? 1911 kam Russell auf den Gedanken, dass diese Einheit aus einem denkenden Subjekt bestehen könne – dies jedoch entspricht so einer cartesischen Konzeption.

    „By 1911 he had, therefore, come around to thinking that the solution lay in the assuming that the apparent unity of a proposition was in each case due to a thinking subject holding the elements of the proposition together in its thinking or believing to the proposition.“(Sluga 1996, 324)

    Russells Missverständnis bezüglich der Einheit der Propositionen verursacht eine verkehrte Konzeption des Selbst und so ist auch Wittgensteins bekannter Satz zu verstehen, dass Missverständnisse in der Logik falsche philosophische Theorien begründet. Die Einheit der Präposition kann nicht durch ein cartesisches Subjekt zusammengefasst werden. Das cartesische Selbst ist logisch zusammenhangslos.

    Wittgenstein greift das cartesische Verständnis eines Selbsts an, insbesondere in den Sätzen TLP 5.54 ff. Dass ein Selbst sowohl Selbst ist, als auch ein solches repräsentiert, ist absurd. Und Wittgenstein durchtrennt so den Gordischen Knoten des modernen Verständnisses des Subjekts.

    Hans Sluga subsummiert, dass, als Wittgenstein den Tractatus schrieb, ein anticartesisches Verständnis durchaus gängig war. Hume, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Mach und Freud waren Exponenten eines Anti-Cartesischen Verständnisses. Nietzsche wandte sich gegen einen Atomismus der Seele, der sich dagegen wendet, die Seele als undestruierbar zu betrachten, Mach fand, dass das Ich kein Fakt sei, sondern die Elemente, die die Seele konstruieren. Und Wittgenstein hatte diese Leute gelesen.

    „By 1918 Wittgenstein must have been aware of these ideas. He was certainly familiar with Schopenhauer by then; he had also studied parts of Kant’s Critique of pure reason, knew some of Nietzsche’s writings, and was acquainted with Mach’s Analysis of Sensations from which the quoted sentences are taken.” (Sluga 1996, 327)

    Wittgenstein hatte außerdem die Position eines Anti-Objektivismus. Das denkende Subjekt ist eine Illusion, aber ebenso ist das Ich auch kein Objekt. Das Ich kann weder ein Name für ein Objekt sein, noch eine Beschreibung eines Komplexes. Das Selbst ist auch nicht in einem psychologischen Sinn zu verstehen. Das Ich erscheint bei Wittgenstein sehr reduziert, es ist nicht nichts, es ist jedoch ebenso kein Objekt. Das Ich zeigt sich in seinem Verhältnis zur Welt – die objektive Welt, wie sie sich dem Subjekt zeigt, macht so auch das Subjekt aus.

    „The objective world has to be conceived as a world given to a subjectivity and it is in this that the subject makes its appearance.“ (Sluga 1996, 329)

    Ein solcher Ansatz korrespondiert mit vielen Überlegungen der Zeit in Kunst und Literatur. Kafka beschrieb in die Verwandlung die Handlung aus der Sicht des Käfers, also eine Welt, die sich dem Käfer zeigt und auch Arthur Schnitzlers Erzählungen bringen Beispiele für den Inneren Monolog. Das Ich tritt zwar hervor, die objektive Welt jedoch gibt es nur durch dieses Ich. Auch Bilder von van Gogh erinnern an diese Sichtweise, z. B. das Bild „Vincents Zimmer in Arles“, da die Person des Künstlers durch diesen Raum wirklich wird. Der Kunstsinn der Wittgensteins findet sich nicht nur bei dem bekannten Klimt, liest man in dem Buch Das Haus Wittgenstein von Alexander Waugh, in dem auch die Schwierigkeiten der Familie Wittgenstein mit dem nationalsozialistischen Regime behandelt wird – Gretl Stonborough soll weit unter Wert 1937/38 Gemälde versteigert haben, hierbei finden sich Namen wie Toulouse-Lautrec, Matisse, Gauguin und Picasso – also (außer Picasso) Künstler zur Zeit van Goghs.

    Nochmals Ludwig Wittgenstein im Zitat:

    TLP 5.641 Es gibt also wirklich einen Sinn, in welchem in der Philosophie nichtpsychologisch vom Ich die Rede sein kann.
    Das Ich tritt in die Philosophie dadurch ein, dass „die Welt meine Welt ist.“ Das philosophische Ich ist nicht der Mensch, nicht der menschliche Körper, oder die menschliche Seele, von der die Psychologie handelt, sondern das metaphysische Subjekt, die Grenze – nicht ein Teil – der Welt.

    Literature

    1. Descartes, René 2004: Meditationen, Stuttgart: Reclam
    2. Stern/Sluga (Hrsg.) 1996: The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge: Cambridge Univ. Press
    3. Sluga, Hans 2004: „Wittgenstein and Pyrrhonism“ in: Walter Sinnott-Armstrong (Hg.) Pyrrhonian Scepticism, Oxford: Oxford Univ. Press, S. 99–120
    4. Ryle, Gilbert 1986: Der Begriff des Geistes, Stuttgart: Reclam
    5. Waugh, Alexander 2009: Das Haus Wittgenstein, Frankfurt: Suhrkamp
    Bettina Müller. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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