Perspektiven der Subjektivität: Das Verhältnis von Systemzeit und Eigenzeit in den perfektischen Tempusformen

Richard Schrodt

Abstract


In vielen Sprachen sind die perfektischen Tempusformen einem stetigen Umbau unterzogen: Aus verbalen Umschreibungen entstehen sie immer wieder neu, andererseits entstehen aus ihnen auch immer wieder narrative Präteritalkategorien. Perfektische Tempora bezeichnen typischerweise Vorgänge und Zustände mit besonderem Bezug auf das sprechende Subjekt: Sie stellen Wertungen und Schlussfolgerungen dar und sind damit den in eine lineare Zeitskala eingebetteten zyklischen Ereignissen vergleichbar, die eigenzeitliche Geschehnisse aus dem Strom der an der Zeitachse orientierten Begebnisse ausgliedern. Aus sprachwissen- schaftlicher Sicht ist eine eindeutige Beschreibung und Klassifizierung der perfektischen Tempora äußerst proble- matisch. Innerhalb der Tempustheorien stehen einander deiktische und nicht-deiktische Theorien gegenüber: Deiktische Theorien versuchen, den Zusammenhang mit außersprachlichen Kategorien darzustellen („Modell Reichenbach“), nicht-deiktische Theorien heben bestimmte Textfunktionen hervor („Modell Weinrich“). Dazu kommen noch Versuche, textlinguistische und textpragmatische Funktionen stärker zu berücksichtigen. Schließlich sind auch stilistische Faktoren zu berücksichtigen. Angesichts dieser komplexen, problembehafteten Sachlage scheint eine in sich geschlossene und stimmige Tempustheorie utopisch zu sein. Doch ein zu großer Pessimismus ist hier nicht angebracht. Gerade die eigen- zeitlichen Merkmale der perfektischen Tempora zeigen und erklären zugleich, wie und warum die sprach- geschichtliche Dynamik auf universalsprachlichen Kausalitäten aufbaut und damit die Funktionalität der einzelsprachlichen Tempuskategorien immer wieder herstellt. Die sprachtheoretischen Probleme der Tempus- theorien lassen sich damit auf das allgemeine Problem zu- rückführen, sprachgeschichtliche und sprachpragmatische Prozesse adäquat zu berücksichtigen – ein Problem, das besonders die strukturalistische Theoriebildung kenn- zeichnet. Doch die Sprache ist nicht nur Werk, sondern auch Tätigkeit: Das Wirken von Konversationsmaximen und Präsuppositionen zeigt, dass die sprachliche Kommunikation auf einem komplexen Unterstellungs- system beruht, das sowohl die Konstanz der sprachlichen Funktionen garantiert als auch die formalgrammatische Dynamik bewirkt. Zur tätigkeitsbezogenen Sprach- auffassung gehört auch eine begründete und sinnvolle Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven grammatischen Kategorien. Gerade diese subjektiven Kategorien müssen bei diesem Thema besonders genau berücksichtigt werden. Das alles wird anhand von einigen ausgewählten Beispielen gezeigt. Damit soll auch die Anknüpfung an allgemeine zeittheoretische Erwägungen möglich gemacht werden.

Keywords


20th century philosophy; philosophy; philosophy of time; Wittgenstein Ludwig; perfect; system time; tempus; time; time dilation

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