Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlass

Ilse Somavilla

Abstract


Im Nachlass von Ludwig Wittgestein finden sich an die 450 Stellen, die in verschlüsselter Schrift abgefasst sind und in der Rezeption weitverbreitet als „Geheimschrift-Stellen“ bezeichnet werden. Diese teils tagebuchartigen, häufig in Form von Aphorismen oder Fragmenten in den Manuskripten verstreut auftretenden Aufzeichnungen, heben sich von dem in Normalschrift gehaltenen, philosophisch geführten Diskurs ab; sie ragen aus diesem als etwas Eigenständiges heraus, das mit dem philosophischen Inhalt in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen scheint. In ihrer geschlossensten Form finden sich verschlüsselte Eintragungen in den Tagebüchern 1914-1916, wo sie sich auf der linken Seite der Manuskripte befinden und als Wittgensteins persönliche Tagebücher zu betrachten sind. Während die in Normalschrift gehaltenen philosophischen Aufzeichnungen bereits 1960 ediert sind, blieb der verschlüsselte Teil der Tagebücher der Öffentlichkeit über Jahrzehnte hinweg nicht zugänglich. Obwohl seit 1990 nun einzelne Publikationen codierter Aufzeichnungen vorliegen, so wurden diese in ihrer Gesamtheit bis dato weder ediert, noch auf die Hintergründe untersucht, die Wittgenstein bewogen haben könnten, einen Code zu benützen. Ebenso wenig ist ihr Stellenwert innerhalb seines philosophischen Werks erforscht. Häufig werden sie als persönliche Eintragungen Wittgensteins gewertet, oder als kulturphilosophische Bemerkungen, insbesondere im Hinblick auf ethische und religiöse Fragen. Dies trifft jedoch keineswegs auf alle verschlüsselten Stellen zu. Anliegen meines Vortrags ist es, anhand von Beispielen an verschlüsselten Aufzeichnungen im Nachlass Wittgensteins dem Bezug zum philosophischen Werk sowie der Frage nachzugehen, weshalb er für bestimmte Bemerkungen einen Code verwendete. Ob er damit eine bestimmte Absicht verfolgte, um u.a. das, worüber er nicht schreiben wollte, auf „verhüllte“ Weise darzustellen? Ob diese Bemerkungen vielleicht auch als Beispiel für seine Sprachphilosophie angesehen werden können – insofern er mit ihnen eine bestimmte Funktion von Sprache erfüllt sah, die durch wissenschaftliche Dispute nicht erreicht werden kann? – Als eine besondere Art, Sich-Zeigendes von klar Sagbarem zu trennen? Etwa in Form von einer Art poetischer Sätze als Gegenpol zu streng philosophischen Argumentationen? Denn nicht nur die Schrift unterscheidet sich von der Normalschrift, auch Inhalt und Form weichen von dem in Normalschrift gehaltenen ab, so dass die Vermutung nahe liegt, Wittgenstein wollte mit dem Code einen bestimmten Texttypus, einen bestimmten Stil, markieren.

Keywords


code; ethical and moral question; First World War; personal diary; religion; sphere of the ineffable

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