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  geheimschrift
 

Pichler 1997c: p.40

In den Notizbüchern aus dem ersten Weltkrieg finden wir die ersten Aufzeichnungen Wittgensteins in der sogenannten Geheimschrift [Diese besteht, vereinfacht gesagt, in der Umkehrung des Alphabets (z=a, y=b, x=c etc.). Zu einem genauen Schlüssel siehe VB 1994: S.15.], welche, wie auch McGuinness [McGuinness 1988:S.332] vermutet, wahrscheinlich schon früher erlernt und geübt worden war. Sie verschlüsselt hier jene Teile der Aufzeichnungen, die rein persönlichen Inhalts sind; im ersten Notizbuch sind solche Passagen zusätzlich räumlich vom philosophischen Diskurs getrennt, indem sie auf die Linksseiten geschrieben wurden (später stehen sie verstreut unter den anderen Bemerkungen). Mit der Geheimschrift wollte Wittgenstein, so McGuinness, die Bemerkungen privater Natur wahrscheinlich vor jemandem verbergen, "der das Notizbuch zufällig in die Hand bekam und flüchtig hineinschaute." [McGuinness 1988: S.332. Diese Erklärung ist für den Fall der Notizbücher aus dem ersten Weltkrieg sehr plausibel; zu wenig begründet scheint mir allerdings McGuinness' Behauptung, daß es Wittgenstein "natürlich" nicht darum gegangen sei, das Geschriebene für immer geheim zu halten (ebd.). Man könnte nicht nur mit guten Gründen die Gegenthese vertreten, sondern auch noch anführen, daß Wittgenstein diese Notizbücher überhaupt vernichtet haben wollte ("Miss Anscombe meint, die in Gmunden befindlichen Notizbücher seien nur durch Zufall der Vernichtung entgangen.", von Wright 1986: S.80). Nicht nachvollziehbar ist mir, daß McGuinness, wenn auch nur tentativ, den Gebrauch der Geheimschrift für private Bemerkungen mit dem Betreten feindlichen Gebiets in Verbindung bringt: "Die Einträge in Geheimschrift beginnen am 15. August, vielleicht weil Wittgenstein im Begriff war, feindliches Gebiet zu betreten." (McGuinness 1988: S.332) (Die allerersten persönlichen Aufzeichnungen vom 9. bis zum 15. August sind noch nicht in Geheimschrift geschrieben.)]

Unter dem Datum 22. August 1914 steht (in Normalschrift) der erste philosophische Eintrag...

Pichler 1997c: pp.69f

Die schon weiter oben angesprochenen Geheimschriftstellen stehen in den Notizbüchern [aus den frühen 30er Jahren] für gewöhnlich in Normalschrift, sind dort aber durch eckige Klammern vom Kontext abgehoben; sie wurden erst beim Einschreiben in den Band kodiert. Sie scheinen also tatsächlich nur für Wittgensteins Privatgebrauch bestimmt gewesen zu sein; die Notizbücher selbst sollten ja verbrannt werden. Auf der anderen Seite ist der Geheimschriftschlüssel leicht zu knacken. Zudem enthalten einige Geheimschriftstellen ausdrücklich Anweisungen an den Leser, z.B. wie im Falle eines frühzeitigen Todes mit den Manuskripten zu verfahren sei [Ms114 c: Vorsatzblatt; frühestens Sommer 1932.], sodaß die Privatgebrauch-These zumindest problematisch ist.

Plausibel ist, daß Wittgenstein in den Geheimschriftstellen zum einen das Tagebuchschreiben (mit all seinen Hilferufen, Glücksrufen und Bekenntnissen) verfolgt und hier Teile seiner Autobiographie schreibt - nicht zuletzt, um sie später selbst nachlesen zu können und auch eine Art Autophilologie zu betreiben. Diese beiden Genres sollten von dem Genre philosophischer Diskurs schon einmal optisch abgesondert werden. Zum anderen mag die Kodierung auch inhaltlich begründet sein: Gewöhnlich gehört das in Geheimschrift Geschriebene zu jenem Bereich, den Wittgenstein (zumindest im TRACTATUS) als "unsinnig" ausgewiesen hat, der also nicht der der Philosophie zugewiesenen Domäne der Sprachkritik, die sich auch selber um sinnvolles Reden bemühen muß, angehört. Die Geheimschriftstellen enthalten nicht nur Tagebuchaufzeichnungen, sondern auch - z.T. sehr persönlich gefärbte - religiöse, ethische und ästhetische Bemerkungen; Bemerkungen zu jenen Themen also, die noch bei Plato eigentlich philosophische Themen waren, in Wittgensteins Augen aber durch akademisches Geschwätz veruntreut und verunreinigt wurden und nun von der Philosophie (welche die Sprache wieder säubern muß) in den Bereich der Dichtung verbannt werden. [ Vgl. VB 1994: S.58: "Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten."] Aber auch Wittgenstein kommt nicht umhin, darüber zu schreiben, und es kann sein, daß ihm hier die Geheimschrift ein willkommener und ehrenvoller Ausweg schien. So jedenfalls kann man eine Bemerkung interpretieren, in der Wittgenstein selbst etwas zu seiner Geheimschrift - und in Geheimschrift - sagt:

Es ist merkwürdig welche Erleichterung es mir ist manches in einer geheimen Schrift nieder zu schreiben was ich nicht gerne lesbar schreiben möchte. [Ms106 c: S.4; Cambridge 1929.]

Natürlich ist diese Bemerkung auch in dem Sinne interpretierbar, daß es für Wittgenstein ungemein wichtig ist, bestimmte Dinge hinschreiben zu können (und nicht nur zu denken). Er muß sie aufschreiben und erfindet ein Mittel, um sie für andere dennoch nicht unmittelbar zugänglich zu machen.

Drittens konnte die Geheimschrift als ein Signal für jene gemeint gewesen sein, die nach seinem Tod seine Schriften eventuell mit dem Gedanken auf eine Veröffentlichung hin durchgehen würden, "Achtung! Hier handelt es sich um eine Bemerkung von speziellem Status, die nicht zum philosophischen Diskurs gehört und daher von der Veröffentlichung eventuell auszuklammern, jedenfalls gesondert zu behandeln, ist." Viertens ist es möglich, daß die Kodierung, beinahe gegenteilig zum Vorigen, zur Lektüre geradezu anspornen soll: Der Leser sollte anhand der Geheimschriftstellen den Menschen Wittgenstein kennenlernen; diejenigen, die sich mit seinem Werk beschäftigen, sollten dadurch sehen, was für Anstrengungen es gekostet hat, und was für ein Leben mit dem Werk verbunden war. Nach dieser Deutung ist der Leser aus dem Privatleben nicht ausgeladen, sondern aufgefordert, Philosophie und Leben zusammenzusehen.

Abschließend soll zum Thema Geheimschrift auch an dieser Stelle noch einmal betont werden, daß sich zwischen dem in Geheimschrift und dem in Normalschrift Geschriebenen keine klaren Grenzen ziehen lassen; der Nachlaß weist sowohl im Gebrauch als auch in der Beherrschung der Geheimschrit große Schwankungen auf, und manches ist nicht in Geheimschrift geschrieben, von dem man es erwarten würde.

 
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