WAB: "Fragments" | Original publication on WAB's website (2000.12.1).

Hanspeter Ortner: Wittgenstein als Schreibstratege

Keywords: Akademisches Schreiben, Arbeitsstrategien, Bergen Electronic Edition, Blindes Puzzle Spielen, Einfall, Hochschuldidaktik, Epistemisch-heuristisches Schreiben, Kreativität, Schreibdidaktik, Schreibforschung, Schreibverhalten, Selbstregulation, Sprachtheorie, Wissenschaftliches Arbeiten, Wittgenstein

Wittgenstein aus der Sicht des Germanisten

Wittgensteins Bedeutung für das Nachdenken über die Verfasstheit der kommunizierenden Menschheit geht aus jedem Quotation-Index hervor. Deshalb will ich in meinem paper einen anderen Aspekt betonen: die Bedeutung von Wittgensteins Forschungs- und Schreibpraxis für die akademische Praxis. Dieser Aspekt ist aus der Sicht des praktischen Linguisten ebenso ertragreich wie Wittgensteins Beitrag zu einer Theorie der Sprache. Wittensteins Arbeitsstil könnte Vorbildwirkung erlangen. Das wissenschaftliche Denken braucht die Selbstreflexion seiner Arbeitsstrategien - dazu gehören auch die Schreibstrategien - und es braucht Modelle des Verhaltens. Wittgenstein hat eine Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens vorgelebt, die für das wissenschaftliche Denken (= Verhalten) in komplexen Wissensgebieten beispielgebend werden könnte. Wittgenstein war ein Meister der nicht-linearen Kreativität und ein Titan im Hinblick auf die "Sekundärtugend" Beharrlichkeit im Fragen und Antwort-Suchen. Er vertritt das Verfahren des puzzelnden Schreibens beim Verfassen nicht fiktionaler Texte in reinster Form. Dieses Verfahren wird in den Diskussionen über die Hochschuldidaktik in allen Fächern eine wichtige (paradigmatische) Rolle spielen. Eine ebenso wichtige wie in der speziellen Schreibdidaktik - wenn es um das Verfassen längerer Texte geht, mit denen Schreibnovizen sich einen Wissensbereich erschließen müssen. Wissenschaft betreiben heißt harte Bretter bohren (M. Weber) - wie man das machen kann, das kann man bei niemandem so gut lernen wie bei Wittgenstein.

Wittgenstein ist für den germanistischen Linguisten von dreifacher Wichtigkeit:

  • aus inhaltlich-gedanklichen Gründen - Wittgenstein als Vordenker der medialen Auffassung von Sprache (I)
  • aus schreibparadigmatischen - Wittgenstein als Vertreter einer besonderen Schreibstrategie (II)
  • aus praktischen Gründen - Wittgenstein als Vorbild für eine besondere Art des akademischen Schreibens (III)

I. Wittgenstein als Vordenker der medialen Auffassung von Sprache

Wittgenstein ist der Vordenker einer Linguistik, in deren Mittelpunkt die sozial-institutionelle Rolle der Sprache steht. Die Sprache wird in diesem Ansatz als Motor betrachtet, der die menschliche Gemeinschaftsbildung und den Individualisierungsprozess vorantreibt, und als Medium, das die spezielle Form der Sozialisation als (Zwangs-)Mitglied einer Sprachgemeinschaft ebenso ermöglicht wie die Ausdifferenzierung von Individualität.

Es ist faszinierend, Wittgensteins Kampf gegen den Werkzeug- und den Repräsentationstopos im Verlauf seiner Denkgeschichte zu verfolgen: Werkzeugtopos = Auffassung von Sprache als Werkzeug und Repräsentationsinstrument, mit dem ein bestimmtes Ziel realisiert und eine Absicht, ein Gedanke usw. repräsentiert werden. Dieser Kampf spielt sich bei Wittgenstein werkintern ab - in steter Auseinandersetzung mit den Verhexungen des Verstandes, einer Gefährdung, der auch Wittgenstein ausgesetzt war. Das in der Bergener Ausgabe (Wittgenstein's Nachlass. The Bergen Electronic Edition, abgekürzt BEE) editorisch aufgearbeitete Werk erlaubt die Rekonstruktion des Weges, den Wittgenstein gegangen ist. Ein Weg, der alles andere als geradlinig war. Wittgenstein hat viele Suchschritte unternommen und so ein riesiges Wegnetz des Nachdenkens über die Sprache auskundschaftet. Dabei sind Ab-, Neben- und Holzwege sichtbar geworden, die - aus der posteriori-Perspektive gesehen - auch die Ab-, Neben- und Holzwege der Wissenschaftsgeschichte (gewesen) sind. In der BEE lassen sich nicht nur Wittgensteins Gedanken im Fluss rekonstruieren, sondern es lässt sich auch die ideengeschichtliche Befreiung von den Irrtümern verfolgen, die auf Ab-, Neben- und Holzwege führ(t)en. Jede Textstufe zeigt einen Gedankenschritt, einen Zug im Spiel der Erkenntnis. In den Werkausgaben und in den Kommentaren zum Wittgensteinschen Werk waren diese Züge - aus technischen Gründen - bisher nur in Einzelfällen verfolgbar. Dass man sich aufgrund der Bergener Leistung nun im Gedankenlabyrinth des Wittgensteinschen Nachlasses elektronisch geführt bewegen kann, ist ein großes Verdienst.

Auf Wittgensteins inhaltliche Bedeutung für die Theorie/Philosophie der Sprache ist schon oft hingewiesen worden. Deshalb möchte ich hier vor allem auf einen anderen Aspekt eingehen, der zu einem Schwerpunkt künftiger Forschung werden könnte und von allgemeinem Interesse ist. Wittgenstein ist nämlich nicht nur ein wichtiger Philosoph, sondern er ist auch der ausgeprägteste Vertreter einer besonderen Schreibstrategie.

II. Wittgenstein als Vertreter einer besonderen Schreibstrategie

In der Schreibforschung der letzten Jahre ist vor allem jene Strategie des Schreibens in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, die als epistemisch-heuristisches Schreiben bezeichnet wird:

"Durch seine Möglichkeiten des Speicherns, Wiederholens und Revidierens kann Schreiben zu komplexeren Denkstrukturen führen und wird somit nicht mehr einzig als Produkt des Denkens angesehen, sondern als integraler Bestandteil desselben [...] Durch Schreiben wird das Resultat des 'inneren Sprechens' (WYGOTSKY [...]) strukturiert und verbalisiert, es werden neue Zusammenhänge entdeckt und hergestellt. Hierin besteht die heuristische Funktion des Schreibens." (Molitor 1984, 10).

Die (intensive) Nutzung der Möglichkeiten des Speicherns, Wiederholens und Revidierens macht diese Form des Schreibverhaltens zu einem heuristischen Entdeckungsverfahren. Das Schreiben wird zur allmählichen Verfertigung von Gedanken, zur Gedankensuche, die Sprache zum Operator im Suchraum und zum Medium der Suche. Zur Werkzeugfunktion der Sprache kommt die mediale Funktion (= medial, aber illokutionsabgewandt (Ehlich 1994)). Das heuristisch Endeckte verändert die Wissensbasis des Schreibers:

"'Epistemisches Schreiben' ist also eine Form des Weiterverarbeitens eigenen Wissens: Vom Denken als kognitivem Verarbeiten her betrachtet, ist das Schreiben zu einem Medium geworden, in dem sich das Denken vollzieht; vom Schreiben her betrachtet, ist dieses nicht mehr nur Instrument, Schon-Gedachtes und Wissen zu verausgaben, sondern auch ein Instrument des Präzisierens, Erweiterns, ja des Entwickelns von Wissen." (Eigler u.a. 1987, 383).

Was epistemisch heißt und was heuristisch, ist an keinem "Studienobjekt" so gut zu analysieren wie an Wittgenstein. Wittgenstein hat eine Funktion der Sprache extrem genutzt, die in den gängigen Aufzählungen der Sprachfunktionen meist gar nicht erwähnt wird. Es ist die "selbstregulative Funktion - bei der Planung [und Durchführung] des eigenen Verhaltens" (Leont'ev 1971, 36) und bei der Entwicklung von Kognitionen (= monologische Verarbeitung von Wissen). Die Bedingung der Möglichkeit der selbstregulativen Funktion ist eine Folge der Tatsache, dass das Denken und die Sprache "Systeme von Handlungsweisen" (Moljako) sind, deren Produkte in immer wieder neuem Zusammenspiel organisiert werden müssen. Die unterschiedliche Nutzung der Selbstregulation beim Sprachverhalten macht unterschiedliche Schreibstrategien möglich.

Schreibstrategien sind Formen der Selbststeuerung, Formen der Festlegung, wie man das Schreiben betreibt - z.B.: was man zuerst und was man danach tun will/wird; und was man möglichst gleichzeitig tun will (= zeitliche, also Phasen-Perspektive). Aber auch: in welcher Form man den ersten und in welcher man den nächsten Schritt machen will. Aus der ergebnisorientierten Perspektive ist die Textproduktion ein Weg über Zwischenprodukte zum Endprodukt Text. Dieser Weg kann statt zum Ganzprodukt auch zu Produktteilen führen: zu einem im Voraus geschriebenen Textschluss z.B., zu einer im Nachhinein geschriebenen Einleitung oder zu einem Textteil, der fertig ist, bevor das geschrieben ist, was ihm vorausgeht.

Die Selbstregulation beim Schreiben kann unter drei Hauptaspekten betrachtet werden. Sie besteht aber immer in der Zerlegung der Handlung (= des Prozesses), des Problems oder des Produkts. Schreibstrategien sind Ergebnisse der Zerlegung der Gesamttätigkeit SCHREIBEN. "Zerlegt" werden können:

  • der Prozess: Der Prozess kann in einige wenige Schritte zerlegt werden oder in sehr viele. Schritte sind z.B. MATERIAL SAMMELN, PLANEN usw. (vgl. Ortner 2000, 305ff.). Bei Wittgenstein hat es den Prozess nicht mehr gegeben. Hat er Bemerkungen oder ein Buch geschrieben? Er hat einerseits seinen Prozess in die kleinsten Einheiten aufgelöst, deren Format vom Teilprodukt her bestimmt war: Aphorismengröße. Auf der anderen Seite sah er sich in einem fast 30 Jahre dauernden Arbeitsprozess an einem Buch.
  • das Problem: Das Problem kann, so immateriell es ist, in Teilprobleme zerlegt werden. Das Schreiben wird so zu einem Lösen von Problemen in einem Problem, zum Bewältigen von Teilschwierigkeiten. Auch Wittgenstein hat "sein" Problem zerlegt, was sich an den thematisch geordneten Sammlungen zu den Themen Lesen, Farben, Denken, Gewissheit usw. zeigt.
  • das Produkt: Unter dem Produkt wird im Allgemeinen der Text verstanden - oder ein Textteil. Aber auch jedes Ergebnis eines Schritts und vor allem auch der Einfall sind Produkte - wenngleich (manchmal) ziemlich immaterielle. Im Hinblick auf die Produktzerlegung war Wittgenstein radikal. Von daher wird er zum Vertreter einer besonderen Schreibstrategie.
Bei allen schriftstellerischen Großprojekten sind die Wege der Prozess-, Problem- und Produktzerlegung verschlungen. Auch bei Wittgenstein. Zum paradigmatischen Vertreter einer besonderen Schreibstrategie wird er aufgrund der Extremzerlegung des Produkts. Wittgenstein war ein Schreiber, der wie Novalis "immer an einem Hauptwerk arbeitete und doch nur Fragmente produzierte" (Frank 1992, 106). Das könnte man als Defizit sehen. Doch man kann auch den Gewinn, der damit verbunden ist, betrachten. Auf der Habenseite wird durch die Textstufen-Edition ein Schreibverfahren erkennbar, das für die Schreibtheorie von höchstem Interesse ist und das für die Konzeption der Schreibtheorie, wie sie von Hayes/Flower entworfen worden ist, revolutionär werden könnte.

Charakterisierung von Wittgensteins Schreibstrategie

1. Puzzelndes oder patchworkendes Schreiben zwecks Einfallsstimulation. Wittgenstein praktiziert eine Schreibstrategie, der man in einer ersten Annäherung den Namen "blindes Puzzle spielen" geben könnte. (Weniger metaphorisch (aber auch weniger präzis und das Besondere weniger treffend) heißen diese Formen des Schreibens und verwandte generell epistemisch-heuristisches Schreiben.) Ein blindes Puzzle ist ein Puzzle, bei dem das Bild, das aus den Teilen zusammengesetzt werden soll, nicht bekannt ist.

'Ein blindes [...] Puzzle?' fragt er perplex.
'Ja. Mach's auf.'
In der Schachtel liegt das Säckchen mit den 500 Teilen.
'Es ist kein Bild da', stellt Monforti fest, nachdem er Schachtel und Deckel hin und her gedreht hat.
'Genau, es ist eins von diesen extrem schweren ohne Bild. Das heißt, du siehst das Bild erst, wenn du es fertig zusammengesetzt hast.'
'Das schaffe ich nie, aber ich weiß die Idee zu schätzen: völlig blind vorzugehen, in der Hoffnung, daß am Ende alles seinen Platz findet und einen Sinn ergibt. Ich nehme es als therapeutisches Geschenk, danke.'
'Aber nein, nimm's als Herausforderung an deine überlegene Intelligenz. So war es gemeint.'" (Fruttero/Lucentini o.J., 293f.).

Mit der BEE lässt sich - wenn man Wittgenstein zum Studienobjekt der Schreibstrategie macht - die Genese der Wittgensteinschen Einfälle rekonstruieren - ein Herzensanliegen einer realistischen Schreibtheorie. Der Einfall, das ist die kleinste Produktionseinheit beim Schreiben ... aber in der Schreibtheorie ist von ihm so gut wie nie die Rede. (Da wird zwar von ideas (Hayes/Flower) gesprochen, doch damit ist alles gemeint, was irgendwie mit Bedeutung und/oder Sinn zu tun hat.) Die Einfälle, die ersten Spuren von Einfällen werden in einer genetischen Edition wie der BEE sichtbar. Eine Theorie des Einfalls ist ein Desiderat der Schreibforschung. Für so eine Theorie braucht man dringend empirisches Material, soll die Theorie nicht den Boden unter den Füßen verlieren.

Es sind die Einfälle, die die Textproduktion vorantreiben, die Einfälle, die sich "zwischen" den Faktoren der Textproduktion (Gedächtnis, Wissen, Motorik usw.) und den Materialien für die Textproduktion ereignen. Sie sind neben anderen - z.B. biographischen - Gründen verantwortlich für die (Schreib-) Strategiedifferenzierung.

Eine Haupt-Bedingung der Möglichkeit von Strategien ist, dass günstige Bedingungen für Einfälle geschaffen werden. Auch das Schreiben organisiert sich nach dem Luhmannschen Gesetz:

"Die Systeme produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen." (Luhmann zit. n. Spiegel 47/1998, 276).

2. Arbeit mit selbstgeschnittenen Puzzleteilen. Wittgenstein hat seine Art der epistemisch- heuristischen Selbstregulation zum kognitiven und zum Arbeitsstil des puzzelnden Schreibens entwickelt, doch er hat das Arbeitsprinzip des "blinden Puzzles" noch verschärft. Er hat auch die Puzzleteile selbst hergestellt - ohne jede Garantie dafür, dass die von ihm geschaffenen Teile überhaupt in eines der Puzzles passen, an denen er arbeitete und er hat nicht einmal gewusst, an wieviel Puzzles er eigentlich arbeitete. Wittgenstein hat das getan, was in den Kriminalromanen "in alle Richtungen ermitteln" heißt.

"Maigret folgte keinem bestimmten Plan. Er hatte noch keine fest umrissene Idee. Er glich in seinem Vorgehen mehr einem Jagdhund, der schnüffelnd hin und her läuft." (Simenon 1969, 42);

"Bei jeder Ermittlung sog Maigret sich wie ein Schwamm mit sämtlichen Umständen und den Personen des Tathergangs voll, nahm unbewußt jede kleinste Einzelheit in sich auf. Je brummiger er wurde, desto mehr Material hatte sich solcherart in ihm angestaut." (Simenon 1988, 186).

"Wittgenstein hat auch die Puzzleteile selbst hergestellt" heißt: er hat so lange an ihnen gearbeitet, bis sie irgendwo dazupassten. Er hat sie immer wieder und wieder hergenommen und bearbeitet, er hat hier etwas durchgestrichen, ersetzt, hinzugefügt ... So ist sein Nachlass zum Goldschatz für eine Theorie des Formulierens geworden. Was epistemisch-heuristische Arbeit im Bereich der Mikrostilistik heißt, das kann man bei wenigen Autoren so gut nachvollziehen wie bei Wittgenstein. Wittgenstein beim Zurechtschleifen der Einfälle zuzusehen, sollte für jeden ein Pflichtpraktikum sein, der im Bereich der Stilistik und/oder an einer Theorie des Formulierens arbeitet.

3. Deregulation der Wissensbasis, In- Frage-Stellung aller Gewißheiten auf der Ebene der Wissensbasis. Alles fließen lassen. Wittgenstein war ein Einfallsgärtner, ein Einfallsfetischist. Das puzzelnde oder patchworkende Schreiben (vgl. Ortner 2000, 491, 494) ist die Strategie, die das Entstehen von Einfällen am meisten begünstigt. Warum hat Wittgenstein diese Strategie praktiziert? Sie resultiert aus einer inneren Notwendigkeit. Sie ergibt sich überall dort, wo die Wissensbasis nicht stabil, sondern dem radikalen Zweifel unterworfen ist. Wenn schon für den Normalschreiber gilt, dass "im Gegensatz zur allgemeinen Annahme ... der Normalzustand des Geistes chaotisch." ist (Csikszentmihalyi 1998, 161), dann noch viel mehr für Schreiber à la Wittgenstein. Und zwar deswegen, weil sie nicht mit Versatzstücken (= fertig geschnittenen Puzzleteilen) arbeiten wollen/können.

Normalerweise ist das Wissensfeld eines Problemlösers in einer breiten Zone stabil, nur in einem Problembereich nicht. Das Problem wird auf der Basis des gefestigten Wissens gestellt und gelöst. Wittgensteins Besonderheit ist es, nichts als von vornherein gegeben (und damit als stabil) anzunehmen. Er hat alles dem tentativen Erkunden unterworfen. Seine Strategie entsteht aus dem Dilemma heraus, dass mit jedem Erkundungsgang nicht ein Problem, sondern ganze Bündel von Problemen "aufgetreten" sind (= d.h. er hat neben einem bearbeiteten weitere Probleme zugelassen). Sein Schreiben ist modellhaft im Hinblick auf die Verflüssigung aller Gewissheiten (die ja Verhexungen des Verstandes sein könnten) und Vorannahmen. Diese Verflüssigung wiederum war die Bedingung der Möglichkeit für - Einfälle. Wo nix fix ist und wo doch etwas gebraucht wird, kommt es zur Explosion von Einfällen. Und mit jedem Einfall wird ein Fenster eröffnet, das vielleicht einen neuen Landschaftsausschnitt in einem neuen Licht zeigt.

Was tut ein Schreiber, der seine Wissensbasis verflüssigen muss, weil er nicht mit unüberprüften gedanklichen Fertigteilen arbeiten will? Er muss blindes Puzzle mit selbstgefertigten Puzzleteilen schreiben. Das Ergebnis dieses Tuns: zunächst einmal Gedankensplittersammlungen, ein Patchwork von Einfällen.

Wittgenstein hat in seinem Schreiben gleichzeitig eine Extremform der thematischen Engführung (im Aphorismenformat) und eine Extremform der stofflichen Breitest-Führung (im Gedankensplitter-Album) praktiziert. Auch für die Rekonstruktion dieser Doppelstrategie braucht es eine historisch- genetische Edition, die es erlaubt, im Chaos der Gedankensplittersammlungen zu navigieren. Der Ertrag dieser Doppelstrategie: Wittgenstein hat sein Schreiben (und Denken) immer einfallsoffen gehalten; er hat eine maximal einfallsdurchlässige und einfallsprovozierende Form des Schreibens und Denkens gefunden.

4. Wittgenstein beim textuellen Arkaden- und Kuppelbau. Mit dem In-alle-Richtungen-Ermitteln war/ist es nicht getan, es musste - wie bei den Kriminalermittlungen - ein Zusammenhang gefunden werden.

"[...] ein Buch [wird] nicht gemacht, indem man einen Satz an den anderen reiht, sondern aus Sätzen, wenn ein bildlicher Vergleich helfen kann, die zu Arkaden und Kuppeln zusammengefügt werden." (Woolf 1995, 86).

Beim Arkaden- und Kuppelbau werden Elemente allen Formats verwendet - bei Wittgenstein waren es Kleinsttexte, die er in einen größeren textuellen Zusammenhang einbauen wollte. Er arbeitete mit Gedankensplittern, mit denen er Gedankensplittermontagen vornimmt. Sein Ergebnis: ein Album.

"Um einen Einblick in Wittgensteins Arbeitsweise und in gewissem Maße auch in die Art seines Denkens zu bekommen, gibt es keine bessere Übung als die Lektüre einiger Nachlaßarbeiten im Original. Dabei kann man verfolgen, wie Wittgenstein die Texte allmählich änderte, wie er Alternativen hinzufügte, wieder ausstrich und erneut umformulierte, wie er die gleiche Bemerkung in stets andere Kontexte einfügte, um einen neuen Gesamtsinn gleichsam auszuprobieren." (Schulte 1992, 43f.).

"wie er die gleiche Bemerkung in stets andere Kontexte einfügte, um einen neuen Gesamtsinn gleichsam auszuprobieren" - das ist Arkaden- und Kuppelbau par excellence.

Um beim Kuppelbau zu reüssieren braucht es wieder - Einfälle. Schreibstrategien sind Lösungen für den Arkaden- und Kuppelbau. Lösungen für das Problem, dass man nicht alles gleichzeitig tun und nicht alles in einem erledigen (= sagen) kann; dass man den Sinn nicht mit einem einzigen (richtigen, treffenden) Zeichen (sondern in Ketten von Zeichen) entwickeln und zum Ausdruck bringen muss. Und dass man mit diesem Problem individuell irgendwie zu Rande kommen muss. Aber vor allem auch: dass dieser Sinn in den meisten Fällen nirgends außerhalb des Textes präexistent ist - sondern dass er geschaffen werden muss, und zwar bei laufendem Motor (der Textproduktion), nicht aber unbedingt schon bei der Erst- = Nieder- = Rein- und Endschrift.

Arkaden und Kuppeln baut man nicht an einem Tag. Und man braucht dafür Gerüste und Techniken, Strategien also.

Der funktionelle Wert des puzzelnden Schreibens

Wittgenstein hat mit seiner Technik des puzzelnden Schreibens die Lösung für ein Dilemma gefunden, auf das schon Vauvenargues vor 250 Jahren aufmerksam gemacht hat. Es ist das Dilemma zwischen perspektivischer Verengung und Überfülle der Gesichtspunkte:

"Tous ceux qui ont l'esprit conséquent ne l'ont pas juste; ils savent bien tirer des conclusions d'un seul principe, mais ils n'aperçoivent pas toujours tous les principes et toutes les faces des choses; ainsi, ils ne raisonnent que sur un coté, et ils se trompent. Pour avoir l'esprit toujours juste, il ne suffit pas de l'avoir droit, il faut encore l'avoir étendu; mais il y a peu d'esprits qui voient en grand; et qui, en même temps, sachent conclure: ausssi n'y a-t-il rien de plus rare que la vé ritable justesse. Les uns ont l'esprit conséquent, mais è troit; ceux-là se trompent sur toutes les choses qui demandent de grandes vues; les autres embrassent beaucoup, mais il ne tirent pas si bien des conséquences, et tout ce qui demande un esprit droit les met en danger des se perdre." (Vauvenargues 1747/1971, 120).

Wittgenstein hat ein Verfahren entwickelt und praktiziert, mit dem das Dilemma gelöst werden kann:

"L'esprit n'atteint au grand que par saillies. (Der Geist stößt nur über Sprünge zum großen Ganzen vor)." (Vauvenargues 1747/1971, 117; Übersetzung H.O.).

III. Wittgenstein als Vorbild für eine Art des akademischen Schreibens

Wenn Lernende im Lauf ihres Universitätslebens plötzlich akademische Langtexte schreiben müssen, ändert sich für sie sehr viel. Sie sehen sich wie Wittgenstein meist nicht vor ein klar definierbares und aus- und eingrenzbares Problem gestellt, sondern sie bewegen sich auf einem Feld, das ein Sumpf ist. Durch den Aneignungsprozess ist der Ausschnitt aus dem Wissensfeld, in den die akademische Arbeit gestellt werden soll, noch chaotischer geworden, als er es von Natur aus schon ist. Die Normalwissenschaft ist ein Puzzle (Becker 1994, 187 im Anschluss an Kuhn) und ihr Besucher, der Geist des Wissenschaft betreibenden Langtext-Novizen, ist - erschlagen vom ebarras de richesse (vom Reichtum aus der Überfülle heraus) - eine lange Lehrzeit lang auch nicht gerade ein Muster an Ordnung.

Alles fließt, und der Kandidat schwimmt. Was soll er tun? - Er muss lernen blindes Puzzle spielen, für das er sich die Teile selbst zurechtschneiden muss. Welche Techniken und welche Tugenden er für dieses Spiel entwickeln muss, kann ihm ein Lehrer an Wittgensteins Arbeitsweise demonstrieren. Von Wittgenstein kann er das Bohren dicker Bretter lernen. Er kann lernen, wie man in einem Sumpf überleben kann, und er kann lernen, wie man Teile des Sumpfes trockenlegen kann. Indem man Wittgensteins Arbeitsmodus als Modell nimmt, ihn so praktiziert wie er selbst den von Lichtenberg praktiziert hat:

"erst beibringen, was man beibringen kann, ganz für sich, also bloß des Beibringens wegen; alsdann alles noch einmal schreiben des Weglassens wegen. Das erste ist das Dreschen, das zweite ist das Sichten und Sieben. Nun müßte noch ein Drittes kommen, das Wurfeln [= Worfeln: Entfernen der Spreu durch Hochwerfen des gedroschenen und gesiebten Getreides]. Ein paarmal Sichten schadet auch nicht." (Lichtenberg zit. n. Schöne 1983, 120),

Wittgenstein hat ein ganzes Leben lang blindes Puzzle "gespielt".

Zitierte Literatur

  • Csikszentmihalyi, Mihaly (1998): Flow. Das Geheimnis des Glücks. 6. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Ehlich, Konrad (1994): Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hrsg.) (1994): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. 1. Halbband, Volume 1. Berlin, New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 10.1), 18-41.
  • Eigler, Gunther/Jechle, Thomas/Merziger, Gabriele/Winter, Alexander (1987): Über Beziehungen von Wissen und Textproduzieren. In: Unterrichtswissenschaft, H. 4, 382-395.
  • Frank, Manfred (1992): Stil in der Philosophie. Stuttgart: Reclam (= Universal-Bibliothek 8791).
  • Fruttero, Carlo/Lucentini, Franco (o.J.): Das Geheimnis der Pineta. München: Goldmann.
  • Hayes, John R./Flower, Linda S. (1980): Identifying the Organization of Writing Processes. In: Gregg, Lee W./Steinberg, Erwin R (Hrsg.): Cognitive Processes in Writing. Hillsdale (N. J.): Lawrence Erlbaum Associates, 3-30.
  • Leont'ev, A. A. (1971): Sprache - Sprechen - Sprechtätigkeit. Berlin usw.: Kohlhammer (= Sprache und Literatur 71).
  • Molitor, Sylvie (1984): Kognitive Prozesse beim Schreiben. Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen. Tübingen (= Forschungsberichte 31).
  • Ortner, Hanspeter (2000): Denken und Schreiben. Tübingen: Niemeyer (= Reihe Germanistische Linguistik 214).
  • Schöne, Albrecht (1983): Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive. München: Beck.
  • Schulte, Joachim (1992): Wittgenstein. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam (= Universal-Bibliothek 8564).
  • Simenon, Georges (1969): Maigret ist wütend. München: Heyne (= Simenon-Kriminalromane 77).
  • Simenon, Georges (1988): Maigret und sein Jugendfreund. Zürich: Diogenes (= detebe 21575).
  • Spiegel, Der: Wochenmagazin. Hamburg.
  • Vauvenargues (1747/1941): Reflexions et maximes. Paris. (livre de poche 3154)
  • Woolf, Virginia (1998): Ein Zimmer für sich allein. Mit einigen Fotos und Erinnerungen an Virginia Woolf von Louie Mayer. Frankfurt a. M.: Fischer (= Fischer Taschenbuch 2116).