Abstract
In den philosophischen Tagebüchern 1914-16 schreibt Wittgenstein von der Bedeutung der "Übereinstimmung mit der Welt" bzw. jenem "fremden Willen", von dem wir abhängig sind und den wir Gott nennen. Obwohl diese und ähnliche Äußerungen einen Einfluß Schopenhauers vermuten lassen, zeigt sich zu diesem bald ein deutlicher Unterschied - der Unterschied zwischen einer allumfassenden, dunklen Ur- bzw. Naturkraft - bei Schopenhauer als "Wille" definiert - und einem persönlichen, wenn auch gleichermaßen unfaßbaren, transzendenten Gott, wie er bei Wittgenstein vorkommt. Harmonie und Abhängigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber dem der absoluten Geborgenheit in Gott - wie sind sie bei Wittgenstein zu verstehen und welche Rolle spielen sie für seine Vorstellung von Ethik und Religion?
Table of contents
- 1. Tagebücher 1914-1916
- 2. Tagebucheintragung vom 13.1.1922
- 3. Der Vortrag über Ethik
- 4. Tagebücher 1930-32/36-37
In den philosophischen Tagebüchern 1914-16 schreibt Wittgenstein von der Bedeutung der "Übereinstimmung mit der Welt" bzw. jenem "fremden Willen", von dem wir abhängig sind und den wir Gott nennen.
Obwohl diese und ähnliche Äußerungen einen Einfluß Schopenhauers vermuten lassen, zeigt sich zu diesem bald ein deutlicher Unterschied - der Unterschied zwischen einer allumfassenden, dunklen Ur- bzw. Naturkraft - bei Schopenhauer als "Wille" definiert - und einem persönlichen, wenn auch gleichermaßen unfaßbaren, transzendenten1 Gott, wie er bei Wittgenstein vorkommt.
Harmonie und Abhängigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber dem der absoluten Geborgenheit in Gott - wie sind sie bei Wittgenstein zu verstehen und welche Rolle spielen sie für seine Vorstellung von Ethik und Religion?
Für die Erörterung dieser Fragestellungen ist es notwendig, Schriften Wittgensteins von unterschiedlichem Texttypus zu untersuchen und miteinander zu vergleichen.
1. Tagebücher 1914-1916
Während des Ersten Weltkrieges führte Wittgenstein regelmäßig Tagebuch. Erhalten sind Manuskripte mit philosophischen Gedanken sowie in Geheimschrift abgefaßte Eintragungen, in der Regel auf der gegenüberliegenden Seite. Obgleich diese in erster Linie seine persönliche Befindlichkeit zum Thema haben, finden sich dort auch Reflexionen über ethische und religiöse Fragen, die Parallelen zu den philosophischen Tagebüchern aufweisen und bei näherer Betrachtung den Zusammenhang zwischen persönlichen und philosophischen Problemen durchsichtig machen. Der vorhin erwähnte Unterschied zu Schopenhauer - Wittgensteins allmählicher Übergang von einem "Weltwillen" zu einem persönlichen Gott bzw. die Wende von einer mystischpanentheistischen Betrachtung der Welt zu einer religiös-christlichen - scheint dabei aus der persönlichen Erfahrung des Krieges und seiner damit zusammenhängenden existentiellen Not hervorgegangen zu sein. Spricht Wittgenstein am 8.7.1916 noch von einem "fremden Willen" - den er allerdings dem "Schicksal" wie auch "Gott" gleichsetzt - , so wird in den verschlüsselten Tagebüchern ein personaler Gott angesprochen, um Hilfe gebeten, geradezu beschworen. Der Übergang vollzieht sich schrittweise: über längere Zeit hinweg wird Gott mit dem "Geist" identifiziert - als Synonym für den zum Philosophieren notwendigen Impuls, mehr und mehr jedoch als Ansprechpartner für persönliche Probleme, zumeist ethisch-religiöser Art. Dies betrifft die Geheimschriftstellen; die philosophischen Eintragungen schwanken noch längere Zeit zwischen einer panentheistischen und einer religiösen Position. Dabei spielt auch Wittgensteins Scheidung zwischen phänomenaler Welt bzw. Tatsachenraum und der nicht sichtbaren "Welt außerhalb der Tatsachen" eine Rolle. Die an Schopenhauer anklingenden Äußerungen über einen innerweltlichen Willen scheinen einer Göttlichkeit im pantheistischen Sinne gleichzukommen, werden aber stellenweise bereits relativiert, d.h. der mit Gott und dem Schicksal identifizierte "fremde Wille" liegt außerhalb. Mehrmals betont Wittgenstein, daß Gott in der Welt der Tatsachen nicht anzutreffen sei. Er ist zwar identisch mit dem Sinn des Lebens bzw. der Welt, doch dieser Sinn liegt außerhalb; deshalb lasse der Glaube an Gott erkennen, daß es mit den Tatsachen der Welt nicht abgetan sei - es mehr als positiv Gegebenes geben müsse.
Sowohl in den philosophischen als auch in den persönlichen Tagebüchern läßt sich ein ausgeprägtes Gefühl religiöser Abhängigkeit feststellen - negativer wie auch positiver Art.
Glücklichsein setzt eine Übereinstimmung mit jenem fremden Willen voraus, in anderen Worten, wir sind nur dann glücklich, wenn wir den Willen Gottes erfüllen bzw. uns ihm fügen - ihn im spinozistischen Sinne als notwendig erkennen. In Geheimschrift bzw. auf persönlicher Ebene wird diese Forderung noch konkreter formuliert - als eine Art Befehl bzw. Richtlinien, die Wittgenstein in seinem Tun und Denken sich auf rigorose Weise gibt.
"Das Gewissen ist die Stimme Gottes", heißt es in den philosophischen Tagebüchern (8.7.16), in den persönlichen wird diese Erkenntnis aus den täglichen Eintragungen sichtbar, die penibel jede kleine Schwäche oder "Sünde" festhalten. Das Gewissen läßt es uns spüren, wenn wir nicht in Übereinstimmung mit dem Willen - der Welt - Gott sind. Deshalb die Maxime "Handle nach deinem Gewissen", um glücklich zu sein.
Die Einflüsse Spinozas und Schopenhauers sind auch im Streben nach einem Leben im Geist, in der Erkenntnis, spürbar, wofür eine Beherrschung der Affekte und der Verzicht auf sogenannte irdische Genüsse vorausgesetzt wird. Die Annehmlichkeiten des Lebens werden lediglich als "Gnaden des Schicksals" (TB, 13.8.16.) betrachtet, die leidvollen Erfahrungen als notwendig akzeptiert, da sie wie alle Geschehnisse in der Welt mit logischer Notwendigkeit und in vollkommener Ordnung vor sich gehen. Sie sind von Gott gelenkt, der als "natura naturans" für die "natura naturata" verantwortlich ist (Spinoza).
Wir sind abhängig von Gott bzw. dem Schicksal, der Welt; diese aber sind von unserem individuellen Willen völlig unabhängig. Wir selbst werden nur unabhängig, indem wir auf unseren Einfluß auf die Geschehnisse verzichten (TB, 11.6.16), persönlich also nicht agieren, sondern uns passiv verhalten, die Gegebenheiten annehmen. Darin liegt unsere Freiheit - in dieser Erkenntnis der Naturnotwendigkeit, die Ausdruck von Gottes Walten ist.
Das Sich-Fügen beherrscht auch die Dialoge mit einem persönlichen Gott in den verschlüsselten Tagebüchern, hier allerdings in anderem Ton und Wortgebrauch, der anstelle der spinozistischen Position der philosophischen Eintragungen eine christliche Glaubenshaltung nahelegt: "Aber dein Wille geschehe!" heißt es am 10.5.16, wie auch am 26.4.16. Am 30.11.14: "Nur dem eigenen Geist leben und alles Gott überlassen!" Am 7.12.14 sieht Wittgenstein "Alles in Gottes Hand" und am 25.1.15 schreibt er: "Ich muß mich ganz in mein Schicksal ergeben. Wie es über mich verhängt ist, so wird es werden. Ich lebe in der Hand des Schicksals (nur nicht klein werden). Und so kann ich nicht klein werden."
Die Spannung zwischen spinozistischem und christlich-religiösem Gedankengut, in der sich Wittgenstein in den frühen Tagebüchern bewegt, erfährt im persönlichen Lebensvollzug in etwas späteren Jahren eine hebräisch anmutende Note - mit der Tendenz, sich einem allmächtigen Gott bedingungslos zu unterwerfen und seine Forderungen ohne Hinterfragung zu erfüllen.
Ein markantes Beispiel dafür ist eine Tagebucheintragung Wittgensteins von 1922, die vor nicht allzu langer Zeit aufgefunden wurde.
2. Tagebucheintragung vom 13.1.1922
Diese enthüllt auffallende Parallelen zu Kierkegaards Denkweise, insbesondere zu dessen Schrift "Furcht und Zittern", auf die Wittgenstein auch am Ende anspielt. Als er nach einem Traum über vermeintliche Gedanken der Eitelkeit Scham empfindet, bekreuzigt er sich, ohne dabei niederzuknien oder aufzustehen. Da empfindet er, daß Gott von ihm verlange, aufzustehen.
" [...] Ich empfand auf einmal meine völlige Nichtigkeit und ich sah ein daß Gott von mir verlangen konnte was er wollte mit der Bedingung nämlich daß mein Leben sofort sinnlos würde wenn ich ungehorsam bin. Ich dachte sofort ob ich nicht erklären könne das Ganze sei eine Täuschung und es wäre kein Befehl Gottes; aber es war mir klar daß ich dann alle Religion in mir für Täuschung erklären müßte. Daß ich den Sinn des Lebens verläugnen müßte." Er fühlt sich gänzlich zerschlagen und in der Hand Gottes" und spürt, daß dieser ihn zwingen könnte, das Schrecklichste auf sich zu nehmen.
Im Bewußtsein seiner völligen Abhängigkeit von Gott erfährt Wittgenstein Furcht und Zittern - wie es Abraham erfahren haben mochte, als ihm von Gott befohlen wurde, seinen Sohn Isaak zu opfern. Diese extreme Situation des Paradoxen am Glauben, wie es Kierkegaard in seiner Schrift ausgearbeitet hat, scheint auf Wittgenstein von nachhaltiger Wirkung gewesen zu sein.
Auch für Wittgenstein war der Glaube mit unbeirrbarer, der Vernunft unvorstellbarer Hingabe an Gott und dessen Befehle verbunden. Eine bis zur letzten Konsequenz gehende Abhängigkeit, die zudem insofern in einem Paradox besteht, als daß das Ethische und Allgemeine dem Religiösen und Absoluten zu weichen hat bzw. diesem untergeordnet werden muß. Denn - so Kierkegaard - der wahrhaft religiöse Mensch (Abraham) handelt als einzelner, in einem absoluten Verhältnis gegenüber Gott, während er das Allgemeine bzw. die ethische Pflicht gegenüber dem Nächsten vernachlässigt. Darin bestehe aber das Paradox des Glaubens, welches nicht vermittelt werden könne.
Obgleich Wittgenstein das Ethische dem Göttlichen gleichzusetzen sich bemüht, so läßt sich andererseits seine Auffassung vom Glauben mit der Kierkegaards vergleichen. Dies betrifft vor allem seinen religiösen Determinismus, der, wie erörtert, bereits zur Zeit der Kriegstagebücher auftritt, dort aber teilweise spinozistische Züge trägt. Je mehr sich Wittgenstein dann einer christlichen Glaubenshaltung nähert, umso deutlicher wird die Affinität zu Kierkegaard, die sich weiters in kompromißlosem, radikalem Verfolgen einer religiösen Lebensweise äußert, stets das Absolute vor Augen. Das religiöse Verhältnis zu Gott bringt eine Unterwerfung unter dessen Gebote mit sich, die selbst vor den größten und schrecklichsten Opfern nicht zurückscheut. Da dieses Verhältnis zu Gott auf die Interessen anderer keine Rücksicht nimmt, vielmehr das ethische Verhalten dem Nächsten gegenüber verletzt - falls es Gott verlangen würde - wird der religiöse Mensch notwendig ein Einsamer, in seinem absoluten Verhältnis zu Gott von den Anderen isoliert. Deshalb Wittgensteins Klage, daß er nicht bereit sei, auf seine Freunde und dergleichen zu verzichten. Im Sinne Kierkegaards wäre dies jedoch eine Grundbedingung für den religiösen Glauben, ähnlich der Stelle in Lukas, 14: "So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein."
Das absolute Verhältnis zu Gott ist demnach das Schwerste, doch auch Höchste, das Allgemeine oder Ethische steht als das Relative darunter.
Wittgenstein scheint hier von Kierkegaard etwas abzuweichen: in seinen philosophischen Überlegungen setzt er das Ethische dem Religiösen gleich; im persönlichen Lebensvollzug hat er zwar das Kierkegaardsche Ideal des religiösen Menschen vor Augen, dies zu realisieren fand er letzten Endes aber nicht die Kraft, vermutlich auch nicht den Glauben.
Trotzdem war ihm das Paradoxe des Glaubens stets bewußt, demzufolge er diesen zwar als "Torheit" (V, 81), aber auch als eine "Bewegung der Seele zur Seeligkeit (DB, 219) betrachtete.
Erfahrbar schien ihm der Glaube nur als Einzelner - jeder Versuch einer verallgemeinernden Theorie oder sich auf Vernunftschlüssen beruhenden Erklärung sei zum Scheitern verurteilt.
Ähnliches gilt auch für die Ethik, wo Wittgenstein wiederum von sich als Einzelner ausgeht, wie er es im Vortrag über Ethik demonstriert hat.
3. Der Vortrag über Ethik
In diesem Vortrag (1929), ging es Wittgenstein primär um die Annäherung eines Verständnisses von Ethik, die für ihn im Grunde unaussprechbar war und daher von philosophischen Diskussionen ferngehalten werden sollte. Es gibt keine Ethik im wissenschaftlichen Sinn wie es auch keine allgemein verbindlichen Richtlinien und Maßstäbe für ethisches Verhalten geben könne. Allenfalls der Einzelne könne verspüren, was gut sei und wie er sich zu verhalten habe. Entscheidend ist, der Stimme des Gewissens zu folgen bzw. den Willen Gottes zu erfüllen. Näheres gibt es bei Wittgenstein nicht zu erfahren; anstatt einer theoretischen Auseinandersetzung nach herkömmlicher philosophischer Tradition begnügt er sich damit, drei Beispiele aus persönlicher Erfahrung zu geben, die aus seiner Sichtweise das Wesen der Ethik veranschaulichen.
Neben dem "Staunen über die Existenz der Welt" seien hier vor allem das "Gefühl der absoluten Sicherheit" und das "Gefühl der Schuld" erwähnt: beide bringen das Gefühl der Abhängigkeit von Gott zum Ausdruck, im positiven und negativen Sinne.
Rekurrierend auf eine religiöse Erfahrung um 1910, als Wittgenstein bei einem Theaterstück vom mystischen Erlebnis eines der Protagonisten nachhaltig beeindruckt wurde, spricht er im Vortrag von dem Gefühl absoluter Sicherheit und Geborgenheit in Gott.
Die Darstellung dieses einschneidenden persönlichen Erlebnisses wird nicht nur im Zusammenhang mit seinen Erklärungsversuchen für ein Verständnis von Ethik verwendet, sondern auch im Zusammenhang mit sprachlichen Problemen. Zum einen, weil Wittgensteins Auseinandersetzung mit Philosophie von Anbeginn an um sprachliche Phänomene kreiste, und gerade Ethik und Religion, als dem Bereich des Unaussprechlichen zugehörig, sich einer verbalen Erklärung entziehen, zum anderen, da mystische Erlebnisse an sich nicht mitteilbar sind.
Um dies zu verdeutlichen, bringt Wittgenstein zum Vergleich Beispiele relativer Sicherheit: Diese auf den Tatsachenbereich bezogenen und daher im alltäglichen Leben erfahrbaren Vorkommnisse sind im allgemeinen dem normalen Verständnis einleuchtend; dementsprechend können sie auch sprachlich formuliert werden. Ganz anders steht es mit dem Phänomen der absoluten Sicherheit, dem vorhin erwähnten Beispiel der mystischen Erfahrung von Sicherheit in Gott. Dieses ist keineswegs für jedermann nachvollziehbar, sondern auf die Wenigen beschränkt, die Ähnliches erfahren haben. Vor allem bewegt sich dieses wie alle Phänomene, die mit absoluten Werten zu tun haben mögen, auf einer Ebene jenseits des Relativen und Beliebigen, jenseits des gewöhnlichen Tatsachenraumes. Es ist der Bereich, wo wir mit unserer, auf den Tatsachenraum beschränkten Sprache, scheitern: "Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken." legte Wittgenstein im Tractatus (6.42) mit Entschiedenheit fest. Mehr noch, Sätze über diesen Bereich erweisen sich als Unsinn, wie das Beispiel "Ich fühle mich sicher, egal was passiert" zeigt.
Wittgenstein folgert daraus, daß das Unsinnige geradezu charakteristisch für alle ethischen und religiösen Ausdrücke sei, sich ein Mißbrauch der Sprache durch diese ziehe. Letzte Konsequenz und strikte Forderung ist das Verdikt des Schweigens, das er dem Philosophierenden hinsichtlich Ethik und Religion auferlegt.
Während das Gefühl der absoluten Sicherheit den positiven Aspekt eines Ausgeliefertseins an Gott aufzeigt, ist das Schuldgefühl negativer Art, obgleich auch hier, aus ethischer Sicht, das Positive ebenso gewichtig ist, letzten Endes sogar überwiegt, wenn man sich die aus dem Schuldgefühl ergebende Umkehr in moralischer Hinsicht vor Augen hält.
Ähnlich Ambivalentes gilt auch für das Eingeständnis der Abhängigkeit von Gott oder vom Schicksal. Denn trotz der menschlichen Ohnmacht gegenüber demselben liegt in der Erkenntnis dieser Unabänderlichkeit der Weg zur inneren Freiheit und Gelassenheit.
4. Tagebücher 1930-32/36-37
In seinen in den Dreißigerjahren geführten Tagebüchern läßt sich Wittgensteins Hang zu einem religiösen Determinismus weiter beobachten - bis hin zu förmlich hebräischer Unterwerfung unter Gottes Befehlen. 1931 wird dies, mit Bezug auf eine Stelle in der "Hermannsschlacht" von Kleist, hinsichtlich Wittgensteins Sorge um den möglichen Verlust der Liebe seiner Freundin Marguerite, demonstriert. Anstatt um sie zu kämpfen, ermahnt er sich, sich in das von den Göttern gewollte Schicksal zu fügen:
Wer nicht das Liebste am Schluß in die Hände der Götter legen kann sondern immer selbst daran herumbasteln will, der hat doch nicht die richtige Liebe dazu. Das nämlich ist die Härte die in der Liebe sein soll [...] (DB, 71)
Liebe bedeutet nach Wittgenstein die Bereitschaft zum Verzicht, vor allem aber die Annahme des von außerhalb - von Gott oder vom Schicksal - gewollten oder verhängten Plans. Der eigene Wille hat zurückzutreten und einer "höheren Gewalt" zu weichen.
Wenige Jahre später spitzt sich das Gefühl der Abhängigkeit von einer fremden Macht derart zu, daß man von Anzeichen paranoider und schizoider Züge sprechen kann, die Louis Sass bereits vor Auftauchen dieser Tagebücher festzustellen vermeinte. Ähnlich wie in der Tagebucheintragung von 1922 fühlt sich Wittgenstein aufgefordert, Gottes Befehlen nachzukommen; ein Nichtbefolgen würde ihn "für immer unglücklich" machen, ein Gefühl der Verlorenheit in ihm erwecken.
Diesmal geht es darum, einen neu erworbenen Sweater zu verschenken, dann wieder fürchtet er, daß Gott ihm abverlangen könnte, seine Schriften - das ihm Kostbarste - zu verbrennen. Der Zwang zur Erfüllung dieser Forderungen wird so stark, daß Wittgenstein nur darin den Weg zur Wahrheit zu erkennen meint. Nur im Bewußtsein der "Unterlegenheit" könne er die Wirklichkeit sehen, so wie sie sei. (DB, 177)
Mag sein, daß ihm in der Einsamkeit des norwegischen Winters - gleich Pascal - die Größe Gottes und die Nichtigkeit seiner eigenen Existenz, die menschliche Ohnmacht angesichts des unendlichen Raumes, bewußt wurde. Mag sein, daß die lange Dunkelheit zu seinen Wahnvorstellungen beigetragen hat, ein Mangel an Licht seinen physischen und psychischen Gesamtzustand verschlechterte und sich auch auf das Fortschreiten seiner philosophischen Arbeit auswirkte. Er äußert die Befürchtung, sein Gehirn könnte die Intensität seiner Gedankengänge nicht mehr aushalten und gleich einem "Glasstab" unter der Last der Konzentration zerbrechen. Immer wieder schreibt er von seiner Angst vor dem Wahnsinn - dies im Zuge tiefschürfender, für ihn kaum mehr tragbarer Auseinandersetzungen mit philosophischen und religiösen Problemen. Wittgenstein gelang es nicht, den qualvollen Gedanken Einhalt zu gebieten, wenn er an die Grenzen philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis stieß, wie ein "Seiltänzer", der beinahe nur auf der Luft geht (VB, 141), versuchte er sich weiter zu bewegen - entgegen seiner Forderung, religiöse Fragen unangetastet zu lassen. Die Folge war ein "Leiden des Geistes", das er nicht mehr loswurde - der Preis für seine Unfähigkeit, von der Religion zu lassen. (DB, 191)
Nur in seinen philosophischen Diskussionen vermochte er auf nüchterne und distanzierte Weise über Glaubensfragen zu argumentieren. Die Ablehnung jeder Form von Erklärung oder Begründung wurde aber beibehalten. Vernunft und rationales Denken seien in Glaubensfragen fehl am Platz. Der wahrhaft religiöse Mensch stütze seinen Glauben auf ein ganz anderes Fundament, wie er auch eine andere Sprache spreche und ein anderes Leben führe. Es handelt sich um eine Lebensform, die sich von der der Nicht-Gläubigen grundlegend unterscheidet.
Aus dieser Verschiedenartigkeit des Denkens und der Lebensform ist auch Wittgensteins Scheidung zwischen Praxis und Theorie abzuleiten, das heißt, zwischen einer religiösen Lebensweise, die keiner Begründung bedarf und einem von nichtgläubigen Philosophen geführten Disput über Religiöses. Wittgensteins Fazit:
Eine religiöse Frage ist nur entweder Lebensfrage oder sie ist (leeres) Geschwätz. Dieses Sprachspiel - könnte man sagen - wird nur mit Lebensfragen gespielt. Ganz ähnlich, wie das Wort "Au-weh" keine Bedeutung hat - ausser als Schmerzensschrei. (DB, 203)
Zwischen beiden Bereichen kann es keine Brücke der Verständigung geben, da sich der Glaube jeder Form von Erklärung entzieht, dem Intellekt bzw. dem "spekulierenden Verstand" daher unverständlich bleiben wird. Dem Nichtgläubigen müsse der Glaube mangels rational begründeter Beweise nicht nur als nicht vernünftig, sondern vielmehr als "Torheit" erscheinen. Diese Torheit aber ist aus Wittgensteins Sichtweise keineswegs als Torheit, wie sie im gewöhnlichen Sprachgebrauch verstanden wird, abzutun, sondern sie ist durchaus ernst zu nehmen.
Vielleicht ebenso ernst wie die Anwandlungen von Wahnsinn, die er an sich selbst erfuhr, die er fürchtete und doch nicht fliehen wollte. Denn diese seien es, die seinem Leben "Ernst" und "Tiefe" gäben. (DB, 177, 202)
Bibliographie
- Barrett, C.(ed.) (1996), Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Düsseldorf und Bonn: Parerga.
- Bülow, F. (ed.) (1976), Spinoza. Die Ethik. Schriften. Briefe. Stuttgart: Kröner Verlag.
- Kierkegaard, Sören (1909), Furcht und Zittern/Wiederholung. Jena: Eugen Diederichs.
- Pascal, Blaise (1980), Gedanken. Stuttgart: Reclam
- Pichler, A. und von Wright, G. H. (eds.) (1994), Ludwig Wittgenstein. Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Frankfurt: Suhrkamp.
- Sass, L. A. (1996), The Paradoxes of Delusion. Wittgenstein, Schreber and the Schizophrenic Mind. Ithaca, London: Cornell University Press.
- Schopenhauer, A. (1977), Sämtliche Werke. Zürcher Ausgabe. Zürich: Diogenes.
- Schulte, J. (ed.) (1989), Ludwig Wittgenstein. Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Frankfurt: Suhrkamp.
- Somavilla, I. (ed.) (1997), Ludwig Wittgenstein. Denkbewegungen. Tagebücher 19301932. 1936-1937. Innsbruck: Haymon. (= DB)
- Wittgenstein, L. (1999), Wittgenstein's Nachlass. The Bergen Electronic Edition. Bergen, Oxford: Oxford University Press.
- Wittgenstein, L. (1990), Werkausgabe in 8 Bänden. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.
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