Was Mary nicht konnte... und was sie nicht wußte: Wittgensteins Beitrag zur Qualia-Dabatte
Was Mary nicht konnte... und was sie nicht wußte: Wittgensteins Beitrag zur Qualia-Dabatte

Abstract

Sie alle kennen den Fall der armen Mary: Mary hat ihr ganzes bisheriges Leben in einer völlig farblosen Umgebung verbracht. Mit Hilfe eines Schwarz-Weiß-Fernsehers, des Internets, farbloser Bücher und einiger sehr blasser Lehrer hat sie sich zu einer brillanten Wissenschaftlerin entwickelt: Sie weiß - so die Annahme - alles über die physikalische Eigenschaften unserer Welt. Was mit Mary passiert, wenn wir sie zum ersten Mal in unsere bunte Welt entlassen, ist bekanntlich seit geraumer Zeit eine der am meisten diskutierten Fragen der Philosophie des Geistes. Weiß Mary, nachdem sie Farben gesehen hat, etwas, das sie vorher aus prinzipiellen Gründen nicht wissen konnte, nämlich, wie es ist, Farben zu sehen? Und wenn ja: Spricht die Tatsache, daß sie etwas Neues weiß, gegen die Wahrheit des Physikalismus? Eine der möglichen Strategien, auf diese Fragen zu antworten, - am prominentesten vertreten durch Laurence Nemirow und David Lewis- wird in der Diskussion unter dem Etikett "Fähigkeits-Analyse" behandelt. Die Fähigkeits-Analyse besagt, daß Mary dadurch, daß sie zum ersten Mal Farben sieht, in erster Linie nicht neues Wissen, sondern bestimmte neue Fähigkeiten erwirbt. Solange sich Mary in ihrem Schwarz-Weiß-Gefängnis befindet, kann sie bestimmte Dinge nicht: Sie kann sich Farben nicht vorstellen, sie kann sich nicht an Farben erinnern und sie ist nicht in der Lage, Farben zu erkennen, wenn man ihr welche zeigt. Laut Lewis und Nemirow besteht eben im Erwerb dieser Fähigkeiten der Fortschritt, den Mary macht, wenn sie zum ersten Mal Farben sieht. Da der Physikalismus nicht behaupte, daß einem eine vollständige physikalische Beschreibung der Welt alle Fähigkeiten vermittelt, die es zu haben gibt, werde er durch Marys Fall nicht widerlegt.

Table of contents

    Sie alle kennen den Fall der armen Mary: Mary hat ihr ganzes bisheriges Leben in einer völlig farblosen Umgebung verbracht. Mit Hilfe eines Schwarz-Weiß-Fernsehers, des Internets, farbloser Bücher und einiger sehr blasser Lehrer hat sie sich zu einer brillanten Wissenschaftlerin entwickelt: Sie weiß - so die Annahme - alles über die physikalische Eigenschaften unserer Welt. Was mit Mary passiert, wenn wir sie zum ersten Mal in unsere bunte Welt entlassen, ist bekanntlich seit geraumer Zeit eine der am meisten diskutierten Fragen der Philosophie des Geistes. Weiß Mary, nachdem sie Farben gesehen hat, etwas, das sie vorher aus prinzipiellen Gründen nicht wissen konnte, nämlich, wie es ist, Farben zu sehen? Und wenn ja: Spricht die Tatsache, daß sie etwas Neues weiß, gegen die Wahrheit des Physikalismus?1 Eine der möglichen Strategien, auf diese Fragen zu antworten, - am prominentesten vertreten durch Laurence Nemirow und David Lewis2- wird in der Diskussion unter dem Etikett "Fähigkeits-Analyse" behandelt. Die Fähigkeits-Analyse besagt, daß Mary dadurch, daß sie zum ersten Mal Farben sieht, in erster Linie nicht neues Wissen, sondern bestimmte neue Fähigkeiten erwirbt. Solange sich Mary in ihrem Schwarz-Weiß-Gefängnis befindet, kann sie bestimmte Dinge nicht: Sie kann sich Farben nicht vorstellen, sie kann sich nicht an Farben erinnern und sie ist nicht in der Lage, Farben zu erkennen, wenn man ihr welche zeigt. Laut Lewis und Nemirow besteht eben im Erwerb dieser Fähigkeiten der Fortschritt, den Mary macht, wenn sie zum ersten Mal Farben sieht. Da der Physikalismus nicht behaupte, daß einem eine vollständige physikalische Beschreibung der Welt alle Fähigkeiten vermittelt, die es zu haben gibt, werde er durch Marys Fall nicht widerlegt.

    Die Nemirow-Lewis-Analyse des Mary-Falles steht - und zwar nicht nur rezeptionsgeschichtlich3- in einem engen Zusammenhang zu einigem, was Wittgenstein über Empfindungen und insbesondere über das Sehen von Farben geschrieben hat. In seinen späten Bemerkungen über die Farben finden sich etliche Passagen, die mit der Fähigkeits-Analyse in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Den Unterschied zwischen uns, die wir Farben kennen, und Personen, die wie Mary noch nie Farben gesehen haben, diskutiert Wittgenstein dort anhand des Beispiels von Blinden bzw. Farbenblinden. Die Aussage, daß nur Personen, die bestimmte Empfindungen schon einmal gehabt haben, wissen, "wie es ist", diese Empfindungen zu haben, findet Wittgenstein wenig hilfreich:

    "Weiß denn der Blinde, wie das ist, wenn man sieht? Aber weiß es der Sehende?! Weiß er auch, wie es ist, Bewußtsein zu haben?" (III § 319: 1984a, 106)4.

    Und so wie Lewis und Nemirow ist er der Meinung, daß man den Unterschied zwischen Personen, die Farben sehen können, und Farbenblinden am angemessensten dadurch charakterisiert, daß erstere Fähigkeiten haben (oder wenigsten in der Lage sind, sie zu entwickeln), die letztere nicht haben:

    "Um die Phänomene der Rotgründblindheit zu beschreiben, brauche ich nur zu sagen, was der Rotgrünblinde nicht erlernen kann; um aber die ‚Phänomene des normalen Sehens' zu beschreiben, müßte ich aufzählen, was wir tun können." (III § 164: 1984a, 75)

    "Man könnte sagen: Es ist ein Phänomen, daß es Leute gibt, die das und das nicht erlernen können. Dies Phänomen ist die Farbenblindheit. - Sie wäre also eine Unfähigkeit; das Sehen aber eine Fähigkeit." (III § 281: 1984a, 98)

    Die Fähigkeit, die Wittgenstein in diesen beiden Passagen im Auge hat, ist die Fähigkeit, Farbprädikate korrekt zu verwenden, d.h. so, wie wir Nicht-Farbenblinden es tun, oder - in Wittgensteins Terminologie - die Fähigkeit, ein bestimmtes Sprachspiel zu spielen:

    "Der eine wird ein Sprachspiel erlernen können, das der andere nicht lernen kann. Und darin muß ja auch alle Art der Farbenblindheit bestehen." (III § 112: 1984a, 63)

    Nun ist Mary zwar nicht farbenblind, doch die Tatsache, daß Wittgenstein Farbenblindheit als Unfähigkeit, etwas bestimmtes zu lernen charakterisiert, legt es nahe, daß er auch von Mary sagen würde: Was ihr fehlt, solange sie selbst noch keine Farben gesehen hat, ist genau die Fähigkeit, die ein Farbenblinder prinzipiell nicht entwickeln kann. Bevor Mary Farben gesehen hat - so würde Wittgenstein meiner Ansicht nach sagen -, kann sie Farbprädikate in einer entscheidenden Hinsicht nicht so verwenden, wie wir es tun. Nehmen wir an, Mary hat in ihren Büchern eine sehr lange Liste von Sätzen gefunden, in denen gesagt wird, welche Gegenstände welche Farbe haben, also Sätze wie "Londoner Busse sind rot", "Reife Tomaten sind rot", "Tennisbälle sind gelb" und "Limetten sind grün". Alle diese Sätze hat sie auswendig gelernt. Wenn wir sie in ihrem Schwarz-Weiß-Gefängnis besuchen, können wir eine Unterhaltung mit ihr führen, in der Farbprädikate vorkommen, und vielleicht werden wir dabei nicht einmal bemerken, daß Mary noch nie Farben gesehen hat. Heißt das, daß Mary Farbprädikate so verwenden kann, wie wir es tun? Nein. Wieder gleicht ihr Fall einem, den Wittgenstein in seinen Bemerkungen über die Farben beschreibt:

    "Denken wir uns ein Volk von Farbenblinden, und das könnte es leicht geben. Sie würden nicht die gleichen Farbbegriffe haben wie wir. Denn auch angenommen, sie redeten z.B. deutsch, hätten also alle deutschen Farbwörter, so würden sie sie doch anders gebrauchen als wir, und anders zu gebrauchen lernen." (I § 13: 1984a, 16)

    Auch Mary gebraucht, solange sie noch keine Farben gesehen hat, Farbprädikate anders, als wir es tun, und auch sie hat diese Prädikate anders gelernt. Wie wir dies beides tun, beschreibt Wittgenstein zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen 5. Ich möchte hier nur drei Aspekte seiner Überlegungen erwähnen: (i) In der Regel bringen wir jemandem einen Farbnamen wie "Rot" durch hinweisende Erklärungen bei, d.h. dadurch, daß wir auf ein Muster der Farbe Rot deuten und sagen "Diese Farbe heißt Rot". So hat Mary die Verwendung von Farbnamen nicht gelernt. (ii) Jemand, der das Farbprädikat "... ist rot" korrekt zu verwenden gelernt hat und also seine Bedeutung kennt, kann in der Regel nicht mehr tun, um diese Bedeutung zu erklären, als dabei seinerseits auf ein Muster der Farbe Rot zu deuten.6 Das kann Mary nicht. (iii) Das Kriterium, das man erfüllen muß, um als kompetenter Verwender des Farbprädikates "... ist rot" zu gelten, ist das folgende: Man muß die Fähigkeit haben, dieses Farbprädikat korrekt anzuwenden, also z.B. rote Gegenstände unter Gegenständen mit anderen Farben (und zwar allein anhand ihrer Farbe) herausfinden können, oder dann, wenn man unter epistemisch normalen Bedingungen einen roten Gegenstand gezeigt bekommt, auf die Frage "Welche Farbe hat dieser Gegenstand" die richtige Antwort geben können (und zwar ohne dazu schon vorher wissen zu müssen, welches Farbprädikat auf den besagten Gegenstand anwendbar ist).

    Die beiden in Klammern eingefügten Zusätze sind wichtig, wenn man behaupten will, daß Mary, bevor sie Farben gesehen hat, Farbprädikate nicht kompetent verwenden kann. Denn aufgrund der Kenntnis ihrer Liste kann sie uns von bestimmten Gegenständen, die man ihr zeigt, (reifen Tomaten, Tennisbällen, Limetten) durchaus deren Farbe nennen. Das heißt jedoch nicht, daß sie Farbprädikate kompetent verwenden kann, denn bei den fraglichen Gegenständen handelt es sich um solche, von denen sie schon vorher wußte, welches Farbprädikat jeweils auf sie zutrifft. Die Bedeutung eines Prädikates wie "... ist rot" hat Mary aber nur dann verstanden, wenn sie dieses Prädikat richtig auch auf solche Gegenstände anwenden kann, bei denen dies nicht der Fall ist. Um dieses Kriterium kommt man auch dann nicht herum, wenn man die Menge der Gegenstände, in deren Fall Mary den Namen ihrer jeweiligen Farbe kennt, beliebig groß werden läßt. Nehmen wir für einen Moment an, alle Gegenstände hätten ein Nummernschildchen und es gäbe eine sehr lange Liste, auf der die Farben all dieser Gegenstände durch Paare von Nummern und Farbprädikaten verzeichnet sind. Nehmen wir weiter an, Mary kenne diese Liste auswendig. Wenn wir Mary zum erstes Mal ein Muster der Farbe Rot zeigen, sucht sie dessen Schildchen, findet die Nummer 256737836, erinnert sich daran, daß auf der Liste das Paar "256737836 - rot" steht und sagt wahrheitsgemäß: "Dieses Muster ist rot". Heißt das, daß Mary das Prädikat "rot" kompetent verwenden kann? Nein. Denn bei dem ihr gezeigten Muster handelt es sich wieder um einen Gegenstand, von dem sie schon vorher wußte, welches Farbprädikat auf ihn zutrifft. Das Beispiel zeigt nur, daß man in diesem Fall Schwierigkeiten haben würde, herauszufinden, ob Mary das genannte Kriterium erfüllt.

    Es ist also durchaus angemessen, zu sagen, daß Mary, solange sie noch keine Farben gesehen hat, nicht unseren Begriff von Farben hat. Zumindest hat sie diesen dann nicht, wenn sie die dazu erforderlichen Fähigkeiten nicht auf irgendeine andere mysteriöse Weise erwoben hat. In Wittgensteins Worten:

    "Ich sage: wer dies Spiel nicht spielen kann, hat diesen Begriff nicht" (III § 115: 1984a, 63)

    Bis hierher läßt sich das, was Wittgenstein zu Marys Fall sagen würde, problemlos in die Rubrik ‚Fähigkeits-Analyse' einordnen. Ich möchte abschließend zeigen, daß aus Wittgensteins Bemerkungen allerdings auch folgt, daß Mary, bevor sie Farben gesehen hat, bestimmte Dinge nicht weiß. Sie weiß z.B. nicht, daß reife Tomaten rot sind, und zwar deswegen nicht, weil sie es nicht einmal glaubt.

    Was könnte einen dazu berechtigen, Mary die Überzeugung zuzuschreiben, daß reife Tomaten rot sind? Vielleicht dies: Mary würde aufgrund ihrer Lektüre dem Satz "Reife Tomaten sind rot" zustimmen. Das reicht allerdings nicht aus, um ihr die Überzeugung zuzuschreiben, daß reife Tomaten rot sind. Das folgende ist eine meiner Ansicht nach zutreffende Formulierung einer hinreichenden Bedingung dafür, daß eine Person S glaubt, daß reife Tomaten rot sind:

    • (B1) Wenn S aufrichtig, ernsthaft und mit Bedacht dem Satz zustimmt "Reife Tomaten sind rot" und wenn S hinsichtlich der in diesem Satz vorkommenden Ausdrücke eine kompetente Sprachbenutzerin ist, dann gilt (ceteris paribus): S glaubt, daß reife Tomate rot sind.

    Auf (B1) kann man sich nicht berufen, wenn man Mary die Überzeugung zuschreiben will, daß reife Tomaten rot sind, denn Mary ist, wie gesehen, keine kompetente Benutzerin von Farbprädikaten, bevor sie Farben gesehen hat. Aber muß sie das denn wirklich sein, damit man ihr aufgrund ihrer Zustimmung zu dem Satz "Reife Tomaten sind rot" die Überzeugung zuschreiben kann, daß reife Tomaten rot sind? Reicht es dazu nicht aus, daß Mary Mitglied einer Sprachgemeinschaft ist, in der mit diesem Satz gesagt wird, daß reife Tomaten rot sind, und sie mit einer Äußerung des Satzes "Reife Tomaten sind rot" die Überzeugung bekunden will, die man in ihrer Sprachgemeinschaft damit gewöhnlich bekundet?7 Ich denke nicht. Die Zugehörigkeit zur deutschen Sprachgemeinschaft mag in Fällen von Ausdrücken wie "Arthritis" oder "Blauwal" ausreichend sein, um mit Sätzen, die diese Ausdrücke enthalten, diejenigen Überzeugungen auszudrücken, die man im Deutschen gewöhnlich damit ausdrückt. Im Falle der Ausdrücke für die Grundfarben, ist sie es nicht. Wittgenstein hat Recht, wenn er dem Umgang mit Mustern für die Erlernung und Beherrschung von Farbprädikaten einen so hohen Stellenwert einräumt, daß jemand, der nicht auf die geeignete Weise mit solchen Mustern umgehen könnte, auch nicht über unsere Farbbegriffe verfügte. Das heißt, er hat recht, wenn er etwas der folgenden Art behauptet:

    • (B2) Wenn S in einer Situation, in der man ihr unter epistemisch normalen Bedingungen Muster der Grundfarben zeigte und sie fragte, welches dieser Muster am ehesten der Farbe reifer Tomaten entspreche, nicht auf das rote Muster zeigen würde, um diese Frage aufrichtig, ernsthaft und mit Bedacht zu beantworten, dann gilt (ceteris paribus): S glaubt nicht, daß reife Tomaten rot sind.

    Auch wenn Mary den Satz "Reife Tomaten sind rot" für wahr hält, hat sie doch zur Zeit ihrer Gefangenschaft nicht diejenige Überzeugung, die man dadurch ausdrückt, daß man auf ein rotes Muster zeigend den Satz äußert "Reife Tomaten haben diese Farbe". Denn würden wir ihr Farbmuster zeigen, wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit doxastisch indifferent hinsichtlich der Frage, welches der Muster die Farbe reifer Tomaten hat. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß Mary in dem Moment, in dem man ihr die Muster zeigt, die entsprechende Überzeugung entwickelt, - das rote Muster sieht vielleicht irgendwie am tomatigsten aus -, doch ist das erstens unwahrscheinlich, und zweitens würde es nicht zeigen, daß Mary diese Überzeugung auch schon hatte, bevor sie die Muster gesehen hat.

    Mary glaubt also in ihrem Schwarz-Weiß-Gefängnis allerhand nicht: daß reife Tomaten rot sind, daß Limetten grün sind, daß Tennisbälle gelb sind, und vieles mehr. Und weil sie all dies nicht glaubt, weiß sie es auch nicht. Heißt das, daß der Physikalismus falsch ist? Ich denke: Nein. Die hier vertretene These besagt nicht, daß Farbprädikate physikalistisch nicht beschreibbare Eigenschaften bezeichnen, und auch nicht, daß man wissen muß, daß Farbempfindungen mysteriöse qualitative Eigenschaften haben, um Farbprädikate korrekt verwenden zu können. Das Argument hatte die Form: Jemand kann etwas nicht glauben bzw. wissen (daß reife Tomaten rot sind), wenn er etwas bestimmtes nicht kann (Farben erkennen und richtig benennen). Daß man bestimmte Dinge nicht wissen kann, wenn einem bestimmte Fähigkeiten fehlen, ist weder ungewöhnlich, noch auf den Fall phänomenaler Eigenschaften beschränkt. Um wissen zu können, daß 35+54=89 ist, muß man zum Beispiel zählen können. Wer aufrichtig dem Satz zustimmt "35+54=89", weil er diese Antwort auswendig gelernt hat, dem kann man nur dann die Überzeugung zusprechen, daß 35+54=89 ist, wenn er die darin enthaltenen Zahlzeichen kompetent verwenden kann, also z.B. fehlerfrei bis 100 zählen kann. Auch muß jemand, der eine vollständige physikalische Beschreibung der Welt verstehen will, vieles können, was er nicht durch die Beschreibung selbst lernen wird. Viele Dinge muß er gesehen haben und richtig benennen können, damit man ihm das in der Beschreibung artikulierbare Wissen zuschreiben kann. Hätte Mary in ihrem Gefängnis überhaupt nichts gesehen außer einem Bildschirm, über den wahre Sätze flimmern, dann würde sie gar nichts wissen, selbst dann, wenn sie alle diese Sätze auswendig gelernt hätte.

    Der Physikalismus ist weder eine sprachphilosophische, noch eine erkenntnistheoretische, sondern eine ontologische Theorie. Wer wie Wittgenstein eine Gebrauchstheorie der Sprache vertritt, der ist vielleicht weniger anfällig dafür, diese Disziplinen zu verwechseln, als jemand, der mit Fregeschen Sinnen und möglichen Welten operiert. Allein aus der Tatsache, daß der Gebrauch eines Prädikats wie "... ist rot" anders geregelt ist als der Gebrauch eines Prädikates wie "... hat die Oberflächeneigenschaft, Licht der Wellenlänge W zu reflektieren" läßt sich jedenfalls nicht die Folgerung zu ziehen, daß diese beiden Prädikate zwei verschiedene Eigenschaften bezeichnen und in verschiedenen möglichen Welten auf verschiedene Gegenstände zutreffen.

    In den Bemerkungen über die Farben schreibt Wittgenstein:

    "Die phänomenologische Analyse [...] ist eine Begriffsanalyse und kann der Physik weder beistimmen noch widersprechen." (II § 2: 1984a, 37)

    Dieser Satz ließe sich meiner Ansicht nach treffend so umformulieren: Die phänomenologische Analyse ist eine Begriffsanalyse und kann dem Physikalismus weder beistimmen noch widersprechen.

    Literatur

    1. Jackson, F. (1986), "What Mary didn't know", Journal of Philosophy 83: 291 - 295.
    2. Lewis, D. (1988), "What experience teaches", Proceedings of the Russellian Society 13: 29 - 57.
    3. Lewis, D. (1995), "Should a materialist believe in qualia?", The Australasian Journal of Philosophy 73: 140 - 144.
    4. Nemirow, L. (1990), "Physicalism and the cognitive role of acquaintance", in W. G. Lycan, Mind and Cognition. A Reader. Oxford: Basil Blackwell, 490 - 499.
    5. Nemirow, L. (1995), "Understanding Rules", Journal of Philosophy 92: 28 - 43.
    6. Nida-Rümelin, M. (1995), "Was Mary nicht wissen konnte. Phänomenale Zustände als Gegenstand von Überzeugungen", in T. Metzinger, Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie, Paderborn u.a.: Schöningh, 259 - 282.
    7. Wittgenstein, L. (1984a), Bemerkungen über die Farben, in Werkausgabe Band 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    8. Wittgenstein, L. (1984b), Philosophische Untersuchungen, in Werkausgabe Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    Notes
    1.
    Vgl. Jackson (1986).
    2.
    Vgl. Lewis (1988, 1995) und Nemirow (1990).
    3.
    Vgl. dazu vor allem Nemirow (1995).
    4.
    Vgl. auch I § 81: 1984a, 30 und III § 279:1984a, 97.
    5.
    Vgl. vor allem § 1, 8, 16, 28 - 30, 33, 35, 36.
    6.
    Vgl. auch Bemerkungen über die Farben I § 68: 1984a, 27: "Auf die Frage ‚Was bedeuten die Wörter ‚rot', ‚blau', ‚schwarz', ‚weiß', können wir freilich gleich auf die Dinge zeigen, die so gefärbt sind, - aber weiter geht unsere Fähigkeit, die Bedeutung dieser Worte zu erklären, nicht! [...]" und III § 102: 1984a, 60.
    7.
    Dieser Meinung scheint Martine Nida-Rümelin zu sein (vgl. 1995, 262). Mit Nida-Rümelins Ansichten über das Qualia-Problem setzte ich mich ausführlicher in einem noch nicht veröffentlichten Text mit dem Titel "Wissen, Können, Kennen" auseinander.
    Tobias Rosefeldt. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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