Wittgensteins Rettung des Nicht-Identischen
Wittgensteins Rettung des Nicht-Identischen

Abstract

Die Auffassung, daß der "...sprachliche Sinn [...] sein Sein in einem Prozeß der Interpretation" (Wellmer 1999, 60) hat, scheint zu den Gemeinplätzen der gegenwärtigen Sprachphilosophie zu gehören. Aus der Sicht einer hermeneutisch orientierten Sprachphilosophie hat die Alltäglichkeit des reibungslosen Umgangs mit Bedeutungen die Tatsache verdeckt, daß die Berechtigung von Bedeutungszuschreibungen tatsächlich von Interpretationen abhängt. Die Urszene der Kommunikation besteht demnach nicht im reibungslosen Vertrautsein zwischen den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft, sondern in der Fremdheit zwischen Personen, die wenig miteinander gemeinsam haben. Verstehen und Interpretieren treten damit als Grundoperationen der Kommunikation in den Vordergrund des sprachphilosophischen Interesses. Wittgenstein habe dagegen der Tatsache, daß es bei der Sprache nicht nur darauf ankommt, daß gesprochen wird, sondern vielmehr, daß das Gesprochene verstanden wird, nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Der von ihm zugrundegelegte Fall des fraglosen Verstehens und seine Verankerung der Sprache in den Konventionen einer Sprachgemeinschaft zeichne somit ein einseitiges Bild der Kommunikationsprozesse.

Table of contents

    I.

    Die Auffassung, daß der "...sprachliche Sinn [...] sein Sein in einem Prozeß der Interpretation" (Wellmer 1999, 60) hat, scheint zu den Gemeinplätzen der gegenwärtigen Sprachphilosophie zu gehören. Aus der Sicht einer hermeneutisch orientierten Sprachphilosophie hat die Alltäglichkeit des reibungslosen Umgangs mit Bedeutungen die Tatsache verdeckt, daß die Berechtigung von Bedeutungszuschreibungen tatsächlich von Interpretationen abhängt. Die Urszene der Kommunikation besteht demnach nicht im reibungslosen Vertrautsein zwischen den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft, sondern in der Fremdheit zwischen Personen, die wenig miteinander gemeinsam haben. Verstehen und Interpretieren treten damit als Grundoperationen der Kommunikation in den Vordergrund des sprachphilosophischen Interesses. Wittgenstein habe dagegen der Tatsache, daß es bei der Sprache nicht nur darauf ankommt, daß gesprochen wird, sondern vielmehr, daß das Gesprochene verstanden wird, nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Der von ihm zugrundegelegte Fall des fraglosen Verstehens und seine Verankerung der Sprache in den Konventionen einer Sprachgemeinschaft zeichne somit ein einseitiges Bild der Kommunikationsprozesse.1

    Diese Sicht auf Wittgensteins Philosophie ist allerdings in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die Fixierung auf das Verstehenwollen verkennt nicht nur, daß Wittgensteins Sicht auf die Sozialität sprachlicher Kommunikation durchaus differenzierter ist. Vor allem wird der Status seines Verweises auf die in einer Lebensform eingebettete gemeinsame Sprache verkannt. Seine Funktion ist nicht primär, ein sprachphilosophisches Problem aufzulösen durch den schlichten Hinweis auf die Faktizität gelingender Kommunikation, sondern er impliziert eine ethische Dimension im Sinne der Akzeptanz von Kontingenz und irreduzibler Differenz. Man könnte dies Wittgensteins Rettung des Nicht-Identischen nennen. Wenn diese Vermutung zutrifft, dann lautet die Frage nicht mehr, ob dem blinden Verstehen oder dem mehr oder weniger bewußten Interpretieren der Vorrang einzuräumen sei. Das Problem der hermeneutischen Sprachauffassung besteht vielmehr darin, daß sie, indem sie den Primat des Verstehens proklamiert, Gefahr läuft, eine unüberbrückbare Spannung zwischen Ausdruck und Identifizierung zu verdecken. Wittgensteins Philosophie erlaubt es, diese Gefahr zu erkennen, indem sie lehrt die Fragilität des Sprachspiels, das Nicht-Wissen des Anderen (Cavell) anzunehmen. Die Unverzichtbarkeit der Philosophie ergibt sich vor dem Hintergrund dieser Einsicht nicht mehr aus der Notwendigkeit, Erfahrung interpretativ zu bewältigen, sondern aus der Forderung, die Spannung zwischen dem Nicht-Wissen des Anderen und der Vertrautheit, dem philosophisch motivierten Ausbruch aus den normalen Sprachspielen und die Annahme der kontingenten, menschlichen Lebensform zu artikulieren.

    II.

    Wenn das Verstehen fremder Äußerungen auf keine festen Grundlagen in Gestalt stabiler Bedeutungen mehr vertrauen kann, also Deutungsabhängig bleibt, wie kann dann ein Sprecher wissen, was der andere meint?2 Man könnte hier die Gegenfrage stellen: Wenn die Verständigung in der Sprache doch meistens blind funktioniert, warum soll sie dann einer zusätzlichen Versicherung bedürfen? Der Hermeneutiker kann diese Frage mit dem Hinweis beantworten, daß den Handlungen und Aussagen eines Individuums verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden können und demnach anscheinend keinerlei neutrales Faktum zu identifizieren ist, das es erlaubt, die Bedeutung dessen festzulegen, was ein Individuum meint, sagt oder tut. Bezieht man diese Überlegungen auf Wittgensteins Erörterung des Regelfolgens, kann man das Problem so formulieren, daß jede Anwendung eines Zeichens ebenso vereinzelt dasteht wie das Zeichen selbst, das in zukünftigen Fällen wiederum verschieden aktualisiert werden kann. Das würde bedeuten, daß erst in dem Moment klar ist, was es heißt, eine Regel korrekt fortzusetzen, wenn das Zeichen auf bestimmte Weise interpretiert wurde. Die Unterscheidung zwischen Anwendungen, die mit der Bedeutung des Zeichens übereinstimmen und solchen, die das nicht tun, ist nur auf der Grundlage einer adäquaten Interpretation möglich. Mit dieser Auffassung wird zugleich der Bedeutungsbegriff im Sinne einer stabilen Entität in Frage gestellt, denn wenn Verstehen Interpretieren heißt, dann bedarf jede Interpretation wiederum einer Interpretation, um einen bestimmten Zeichengebrauch determinieren zu können. Wittgenstein hat dies bekanntlich als Paradox formuliert: "Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Anwendung mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch." (PU § 201). Die Idee der Übereinstimmung löst sich hier selbst auf, denn durch den von Wittgenstein bemerkten Interpretationsregreß läßt sich jede Handlung in Übereinstimmung mit jeder Interpretation der jeweiligen Regel bringen. In jedem Fall müßte eine neue Entscheidung getroffen werden. Daraus folgt nicht nur, daß Regeln keine Garantien für adäquates Verstehen gewähren, sondern auch, daß der Regelbegriff verabschiedet werden kann.3

    Der Verzicht auf den Regelbegriff als sprachphilosophische Kategorie und die Dynamisierung des Bedeutungsbegriffs führen den Hermeneutiker allerdings nicht in die semantische Anarchie. Sprachlicher Sinn stellt sich in der gemeinsamen Interaktion her und bildet sich aus im Prozeß der Kommunikation. Dabei wird vorausgesetzt, daß Sprecher über eine Menge gemeinsamer wahrer Überzeugungen verfügen, die Verständigung durch progressive Annäherung der Perspektiven prinzipiell ermöglichen. Der konstitutive Wahrheitsbezug des Sprechens sowie die hermeneutischen Präsumtionsregeln sollen das unendliche Spiel der Interpretationen, der wechselseitigen Korrektur von Sinnzuschreibungen vor dem Abgleiten in Beliebigkeit bewahren. Verstehen ist dann das Ereignis, in dem die in Vorgriffen sedimentierten Interpretationsstrategien der Kommunizierenden anläßlich einzelner Äußerungen zur Deckung gelangen.

    III.

    Wittgenstein nimmt eine andere Perspektive ein: Die Praxis geht dem Regelfolgen voraus und das Zeichenhafte der Sprache wird umgekehrt hin zu dem transzendiert, was sich in der Praxis zeigt. Gerade weil die Auffassung des Regelfolgens als Deutung in einen Regreß von Regeln für Regeln führt, so der springende Punkt seiner Argumentation, ist auch nicht jede Handlungsweise mit einer Deutung der Regel zu vereinbaren.4 Nach Wittgenstein wird eine Sprache nicht so gesprochen wie sie gesprochen wird, weil die Sprecher bestimmten Regeln folgen. Der sprachliche Ausdruck 'Regel' muß vielmehr in Zusammenhang gebracht werden mit einer erlernten Reaktionsweise, die wiederum in einer dazugehörigen Praxis verankert ist.5 Erst die Anwendung der Regel ist ein Kriterium dafür, daß ihr jemand tatsächlich folgt. Der Verweis auf bestehende Gepflogenheiten, und die Charakterisierung des Regelfolgens als Institution fassen diese Einbettung des Gebrauchs von Regelausdrücken in von ihnen bestimmte Handlungsweisen zusammen.6 Die Kluft zwischen der Regel und ihrer Anwendung, muß demnach nicht durch Interpretationstheorien überbrückt werden. Das bedeutet auf der anderen Seite, daß jede Anwendung einer Regel mit einer grundlegenden Ungewißheit behaftet ist, die nur dadurch abgefedert wird, daß der Handelnde sich zugleich immer auf etwas verläßt: "Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt 'auf etwas verlassen kann'.)" (ÜG § 509). Die ergänzende Bemerkung markiert die Differenz zu einem Denken, das sich von dieser abgründigen Fragilität der Sprachspiele beunruhigen läßt, indem sie die Ungewißheit herausstellt, die jedem Vertrauen innewohnt und jeder Diskursivität innerhalb des Sprachspiels vorausgeht.

    Das Faktum des Mißverstehens, erscheint bei Wittgenstein vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. Regeldeutung wird zu einem semiotischen Phänomen, bei dem ausschließlich Regelbeschreibungen ineinander überführt werden. Die Frage, was ein Sprecher mit einer Äußerung gemeint hat, wird "durch einen Satz beantwortet, der den unverstandenen Satz ersetzt." (PG § 3) Etwas pointiert könnte man daher sagen, daß das wahrheitsbezogene, auf Wissen gerichtete hermeneutische Spiel der Interpretationen bei Wittgenstein einem semiotischen Spiel der Erklärung von Zeichen durch andere Zeichen weicht: "Wenn man aber sagt: 'Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen', so sage ich: 'Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen." (PU § 504) Ausdrücke wie 'Bedeutung' oder auch 'Regel' sind insofern diskursive Phänomene als sie an den Begriff der 'Erklärung' gebunden sind.7 Die Sprache selbst ist jedoch kein diskursives Phänomen. Eine Regel, sofern sie in Anwendungskontexten relevant ist, ist demnach von der Formulierung der Regel in Interpretationssituationen abzugrenzen. Im Rückgriff auf Wittgensteins Unterscheidung zwischen sagen und zeigen kann man dann behaupten, daß Regeln sich nur zeigen, aber nicht formuliert werden. Geschieht dies doch, dann in Situationen kommunikativer Disharmonie. In solchen Fällen sind die Sprecher aber wiederum auf eine Übereinstimmung angewiesen, die nicht gleichzeitig zur Disposition gestellt werden kann, und ihre dabei vorgebrachten Erklärungen sind keine Erklärungen ihrer Praxis insgesamt.8

    Auf diese Weise kann Wittgenstein dem Begriff der Übereinstimmung ein Recht verleihen, nachdem dieser Begriff sich durch das Interpretationserfordernis der Hermeneutiker aufzulösen drohte und der Stabilität gerecht werden, die unsere Urteile bisweilen haben mögen.

    IV.

    Die von Wittgenstein betonte Kontingenz und Endlichkeit der Regeln sowie die Fragilität des Sprachspiels sind ebensowenig Indiz für das Scheitern des Regelbegriffs wie die Sprache dadurch grundsätzlich unzuverlässig wird, daß sie auf bloßer Übereinstimmung beruht.9 Übereinstimmung ist aber nicht nur eine hinzunehmende Gegebenheit der endlichen menschlichen Lebensformen. Der Verweis auf die Lebensformen ist zudem Notwendig, weil eine strikte Trennung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln unmöglich ist. Der Zeichencharakter der Sprache wird ausgeweitet, indem Sprachverwendung nicht auf den Wortgebrauch eingeschränkt, sondern als ein Zusammenspiel von sprachlichen und nicht-sprachlichen Ausdrucksphänomenen gedacht wird, bei dem Gestik, Mimik, Klang, Blick usw. zu berücksichtigen sind. Wenn Wittgenstein daher am Ende der Begründungen konstatiert: "So handle ich eben" (PU § 217), dann überschreitet das so die Sprache hin zu dem, was sich als Ausdrucksphänomen zeigt und auf das andere Sprecher reagieren, wenn sie damit konfrontiert werden. Demnach wäre, wie Stanley Cavell hervorgehoben hat, das Verstehen bei Wittgenstein weniger ein kognitives als ein Phänomen der Reaktion auf Expressivität.10 Die sich einstellende Kenntnis der anderen ist daher in starkem Maße von dem abhängig, was sie ausdrücken und wir unsererseits anerkennen: "[M]einen ist, wie wenn man auf jemanden zugeht." (PU § 457). Durch die Forderung der Anerkennung wird der Sprecher auf eine Verantwortung zurückgeworfen, der er sich weder durch Berufung auf eine Regel noch durch die Sicherheit eines als solches bestimmtes Verstehens entbinden kann.11

    Das Erstaunen über die Tiefe der Übereinstimmung und über die Beruhigung, die von dem gewährt wird, worauf man sich verläßt, kann die Erfahrung irreduzibler Fremdheit daher auch niemals überdecken. Obwohl Wittgenstein die Gemeinsamkeit der menschlichen Handlungsweise als letzten Bezugspunkt betont hat, war er sich der Tatsache Bewußt, daß die Reaktionen und Wahrnehmungen des (sprachlichen) Verhaltens anderer problematisch sein können, und zwar gerade deshalb, weil dieses Verhalten expressiv ist. Dieser Fall ist aber kein Mißlingen von Erkenntnis, das Scheitern einer Hypothese, sondern ein Scheitern der Anerkennung, das, wie bei der Zuschreibung psychischer Zustände generell, mit der Unfähigkeit zutun hat, den anderen als lebendigen Körper, als menschliches Wesen zu sehen: "Meine Einstellung zu ihm ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, daß er eine Seele hat" (PU II, S. 495).12 Oder aber es hängt mit unüberbrückbaren Unterschieden zusammen und der Feststellung, daß wir nicht auf die gleiche Art leben, vielleicht nicht einmal in derselben Welt. Dort, wo die Begründung ein Ende hat, wird immer auch eine Grenze gezogen und der Einzelne bleibt mit sich allein, auf sich als einzige Grundlage rückbezogen, wird gewahr, daß es kein 'wir' gibt: Ich bin jetzt hier und tue dies.13

    V.

    So wird deutlich, daß nicht nur die Regeln und die ihnen vorausgehenden Lebensformen unsicher sind; auch die Übereinstimmung selbst kann jederzeit scheitern, nicht nur im Mißverständnis, sondern in der grundlegenden Form des Rätselhaften, das eine fremde Lebensform oder ein einzelner Mensch immer sein kann: "Wir sagen von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber es ist für diese Betrachtung wichtig, daß ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man dann, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht diesen Menschen nicht. [...] Wir können uns in sie nicht finden." (PU II, S. 568). Diese Kluft zwischen Übereinstimmung und Abspaltung kann durch den hermeneutischen Gestus des Verstehenwollens ebensowenig überbrückt werden wie die Kluft zwischen Ausdruck und Identifizierung. Als solche sind die Kluft und Abspaltung aber ebenso konstitutiv für unsere endlichen Lebensformen wie die Übereinstimmung.

    Die Einsicht in die Ambivalenz der menschlichen Lebensformen bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Philosophie selbst. Sie erinnert daran, daß ein Verstehen, wenn es eines gibt, es nicht als solches bestimmt werden kann. Verstehen wäre dann, um es mit einem Wort Derridas zu umschreiben, als ein immer "suspendiertes Verhältnis" (Derrida 1999, 194) offen zu halten. Indem die Philosophie sich ihre Verankerung in der Sprache bewußt macht und darauf beharrt, daß wir beachten müssen, was mit uns und unseren Worten geschieht, wenn wir philosophieren, wird sie zum Ort, an dem das Schwanken zwischen dem Willen zur Beherrschung der Unsicherheit und die Einsicht in ihre Akzeptanz ausgetragen wird. Wittgenstein hat für dieses Ringen der Philosophie mit der Sprache und der Sprache mit sich selbst in der Philosophie eindrucksvolle Bilder gefunden: "Hier ist es schwer, gleichsam den Kopf oben zu behalten, - zu sehen, daß wir bei den Dingen des alltäglichen Lebens bleiben müssen, um nicht auf den Abweg zu geraten, wo es wir doch wieder mit unsern Mitteln gar nicht beschreiben könnten. Es ist uns, als sollten wir ein Spinnennetz mit unsern Fingern in Ordnung bringen." (PU § 106)

    Der Wunsch, die Probleme der Philosophie definitiv zum Verschwinden zu bringen wäre demnach Ergebnis derselben Haltung, die diese Probleme erzeugt hat. Eine philosophische Antwort ist dagegen durch die Ernsthaftigkeit und Unermüdlichkeit gekennzeichnet, mit der sie Klarheit wiederherzustellen und dabei dem Endlichen, Kontingenten und Singulären gerecht zu werden versucht. Um aber diese Alterität nicht zu verraten, muß sie die Spannung artikulieren, die beide Seiten - den Ausbruch aus dem Sprachspiel und den angestrebten Frieden in den Gedanken, Ausdruck und Identifizierung, Vertrauen und Fremdheit - unversöhnlich nebeneinander stehen läßt. Diese Spannung ist eine Negativität, die im beständigen Gegensatz zu den alltäglichen Lebensformen steht und ihnen immanent ist. Neben dem Hervorheben des alltäglichen Sprachgebrauchs verlangt Philosophie eine ihm gegenüber nachdenkliche Haltung, die stets aufmerk-sam gegenüber den eigenen Behauptungen bleibt, und die, während sie zur Restituierung der endlichen Lebensform aufruft, gleichzeitig ihren gegenwärtigen Verlust betrauert.

    Literatur

    1. Derrida, J. (1999), "Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus", C. Mouffe (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien: Passagen, 171-195.
    2. Cavell, Stanley (1999), The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, Oxford: Oxford University Press.
    3. Davidson, D. (1990), "Kommunikation und Konvention", in ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 372-393.
    4. Krämer, S. (2001), Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    5. Majetschak, S. (1995), "Der Begriff der 'Bedeutung' in Wittgensteins Spätphilosophie", in T.S. Hoffmann und S. Majetschak, Denken der Individualität: Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag, Berlin / New York: Walter de Gruyter, 367-379.
    6. Wellmer, A. (1999), "Verstehen und Interpretieren", in H. J. Schneider und M. Kroß (Hg.), Mit Sprache spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein, Berlin: Akademie Verlag, 51-76.
    7. Wittgenstein, L. (1989a), Philosophische Untersuchungen (PU), in ders., Werkausgabe Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
    8. Wittgenstein, L. (1989b), Philosophische Grammatik (PG), hg. von Rush Rhees, in ders., Werkausgabe a.a.O. Band 4.
    9. Wittgenstein, L. (1989c), Zettel (Z), hg. von G.EM. Anscombe und G.H. von Wright, in ders., Werkausgabe a.a.O., Bd. 8.
    10. Wittgenstein, L. (1989g), Über Gewißheit (ÜG), hg. von G.E.M. Anscombe und G.H. von Wright, in ders., Werkausgabe a.a.O., Band 8.
    Notes
    1.
    Wellmer (1999, 56f.).
    2.
    Ebd., 59.
    3.
    So Davidson (1990, 390f.).
    4.
    Zum Regreß vgl. PU § 86, ferner Z § 229: "Eine Deutung ist doch etwas, was in Zeichen gegeben wird. Es ist diese Deutung, im Gegensatz zu einer anderen (die anders lautet). - Wenn man also sagen wollte 'jeder Satz bedarf noch einer Deutung', so hieße das: kein Satz kann ohne einen Zusatz verstanden werden."
    5.
    Wittgenstein gebraucht in diesem Zusammenhang das Beispiel von Wegweisern, die verknüpft sind mit der Handlungsweise, ihnen in die Richtung, in die sie zeigen, zu folgen: "ich bin zu einem bestimmten Reagieren auf diese Zeichen abgerichtet worden, und so reagiere ich nun." (PU § 198).
    6.
    PU §§ 198 f. und 202.
    7.
    Vgl. Majetschak (1995, 371).
    8.
    So Krämer (2001, 129f.).
    9.
    Darauf hat Stanley Cavell (1999, 44f.) aufmerksam gemacht.
    10.
    Vgl. Cavell (1999: 241).
    11.
    Ebd., 368f. und 312.
    12.
    Dazu ausführlich Cavell (1999, 378ff.).
    13.
    Ebd., 19f.
    Jens Kertscher. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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