Wittgenstein und die österreichische experimentelle Poesie
Wittgenstein und die österreichische experimentelle Poesie

Abstract

Ich werde im folgenden auf einen frühen Aufsatz des "experimentellen" Dichters Gunter Falk mit dem Titel Experimentelle Literatur (Falk 197?) zurückgreifen. Die in der Wiederlektüre seines Aufsatzes formulierbaren Fragen zum "Experiment in der Literatur" werden mit Überlegungen zum Einfluß der Philosophie Ludwig Wittgensteins auf eine sprachorientierte Literatur in Österreich nach 1945 verknüpft.

Table of contents

    Ich werde im folgenden auf einen frühen Aufsatz des "experimentellen" Dichters Gunter Falk mit dem Titel Experimentelle Literatur (Falk 197?)1 zurückgreifen. Die in der Wiederlektüre seines Aufsatzes formulierbaren Fragen zum "Experiment in der Literatur" werden mit Überlegungen zum Einfluß der Philosophie Ludwig Wittgensteins auf eine sprachorientierte Literatur in Österreich nach 1945 verknüpft.

    Falk kommt in dem erwähnten Aufsatz zu folgendem Befund für eine experimentelle Literatur:

    Planmäßige Isolierung, Kombination und Variation: Man geht rational vor, nach einem Plan, das Material wird ausgesucht, isoliert und wird irgendwelchen, schon vorher geplanten Einflüssen oder Variationen unterworfen. Dieses Verfahren ist in der Literatur sehr wohl denkbar; die Permutation eines Textes wäre ein Beispiel. Aber was bezweckt man mit dem Experiment? Man will Beobachtungen anstellen, diese Beobachtungen, Protokollsätze, sollen durch ein Gesetz, das man aufstellen wird, erklärt werden. 'Das Experiment ist eine Frage an die Natur, das Gesetz ihre Antwort', sagen die Physiker gerne. Verfolgt der experimentierende Literat solche Absichten? Will er Gesetzmäßigkeiten aufzeigen? Offenbar nicht. Aber auch das wissenschaftliche Experiment wäre in dieser Form unvollständig. (Falk 197?)

    Unvollständig deshalb, weil zwei gegenläufige Prinzipien - jenes der Erklärung und jenes der Verifikation - in den Wissenschaften wechselweise angewandt werden. D.h., daß zuerst eine Hypothese gebildet wird, die zur Erklärung der Protokollaussagen2 dienen soll, und daß dann aus dieser Hypothese noch nicht bestehende Protokollaussagen abgeleitet werden. Mittels Experimenten ermittelt man den Wahrheitswert dieser bislang noch nicht technisch überprüften Protokollaussagen, man verifiziert oder falsifiziert sie. Erweisen sie sich als wahr, so gilt die Hypothese, aus der sie abgeleitet wurden, als bestätigt, sie wird Gesetz. Die dem Experiment vorausliegende Hypothese reguliert demnach die Art, die Richtung und den Gegenstandsbereich des experimentierenden Forschens, "ein Experimentieren ohne eine leitende Hypothese ist nicht denkbar". (Bochensky 1993, zit. n. Falk 197?)

    Man geht also von einer Hypothese aus, man hat bereits eine bestimmte Vorstellung, Meinung, wenn man zum Experiment schreitet, man hat eine Theorie, wie wir verallgemeinernd, wenn auch terminologisch unrichtig [es müßte wohl: Hypothese heißen, TE], sagen wollen. Diese Theorie soll im Experiment bewiesen und widerlegt werden. (Falk 197?)

    Weil es unentscheidbar sei, was vorgängig ist: die durch Experiment bzw. Erfahrung gewonnenen Beobachtungsdaten, die das Bilden von Hypothesen erst ermöglichen, oder die Hypothese, die Beobachtungen und Experimentanordnungen leitet, scheinen (experimentelle) Literatur und exakte Naturwissenschaft sich in dieser Hinsicht einander anzunähern. Denn weder ist die Naturwissenschaft so frei von Zufall und Spekulation, wie sie es gemäß ihrer Selbstdefinition gern sein möchte, noch ist die Dichtung ausschließlich Resultat einer unerklärlichen Inspiration und bloß eine Kumulation von versprachlichten Assoziationen. Gerade für das Schreiben "experimenteller Literatur" sieht Falk rationale Operationen als konstitutiv an, auch wenn er die unumschränkte Dominanz der Rationalität relativiert:

    Wir würden also festlegen, daß man insoweit von experimenteller Literatur sprechen kann, als ihr Herstellungsprozeß vorwiegend rational vor sich gegangen ist, der Autor von einer bestimmten Vorstellung, Theorie über das, was er erreichen will und wie er es erreichen will, ausgeht und das vorgegebene Material nach einem aus der Theorie ableitbaren Verfahren behandelt. Das Ziel des Prozesses ist jedoch nicht das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten der Autor will ja einen Text produzieren, der wohl irgendwelchen Gesetzen, syntaktischen etwa, gehorchen wird, im übrigen aber wieder Besonderes, Gegenstand, nicht Allgemeines, Gesetz, ist. Bestenfalls wird er seine Theorie verifizieren wollen. Doch letztlich wird er beabsichtigen - einen Text herzustellen. [...] Wir haben vorhin die Forderung nach Rationalität durch 'vorwiegend' eingeschränkt. Tatsächlich gibt es kaum einen Autor, der rein rational vorgeht, allein der Impuls zur Produktion wird im allgemeinen nicht rationaler Natur sein; aber, bekanntlich ließe sich der Satz Valérys, daß der erste Satz dem Autor geschenkt wird, für das Weitere man jedoch selbst sorgen muß, auch für die Wissenschaft verwenden. Wir sehen als Zeichen von Rationalität die Entstehung des Textes aus einer Hypothese, Theorie an, bzw. im Akt der Analyse: die Möglichkeit einer Rückführung in die Hypothese, bzw. einer Erklärung durch die Hypothese. (Falk 197?)

    Die angeführten Ähnlichkeiten zwischen naturwissenschaftlichem und literarischem Experiment dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es zwischen beiden eminente Unterschiede gibt. Diese Diskrepanzen rühren vor allem aus dem Umstand her, daß der Künstler in anderer Weise als der Naturwissenschaftler Teil des Experiments und des Erlebens während der Produktion (und auch Rezeption) von künstlerischen Experimenten ist. Der wohl in diesem Zusammenhang auch auf Falk enormen Einfluß ausgeübt habende Oswald Wiener, dessen literarischnaturwissenschaftliche Entwicklung ihrerseits exemplarisch und konkurrenzlos für die Beziehung von Kunst und Wissenschaft steht, bringt dieses Dilemma auf den Punkt. Wiener sieht die Aussichten des literarischen Experiments limitiert durch folgenden Umstand: Die Naturwissenschaften sind im Lauf ihrer Entwicklung

    immer dezidierter darauf verpflichtet worden, die Wirklichkeit als außerhalb des Bewußtseins liegend [...] darzustellen, [...] und das Bewußtsein aus der Beziehung der Konstrukte (Aussagesysteme) zu dem durch sie Darzustellenden möglichst herauszuhalten. Demgegenüber arbeitet die Kunst über dem Umstand, daß Menschen Inhalte erleben. Inhalte werden erlebt, weil das einzelne Bewußtsein mit einer jeweiligen Struktur, auf welche die Wahrnehmung projiziert wird, identisch ist. [...] Inhalt ließe sich durch intersubjektive Zeichen in genügend eindeutiger Weise nur ersetzen, wenn man konsequent von der Existenz des Bewußtseins absehen könnte. (Wiener 1979, 182)

    Die daraus resultierende Crux des künstlerischen Experiments - wenn man es aus der Sicht der Naturwissenschaften betrachtet - liegt nach Wiener in einer fehlenden Unterscheidungsmöglichkeit begründet: Weil Menschen bei Kunstproduktion und rezeption Inhalte konkret erleben und nicht wie ein unbeteiligter Beobachter außerhalb des Bewußtseins liegende Abbildungen des Erlebten konstruieren, können sie im künstlerischen Experiment nicht unterscheiden zwischen "Theorie" und "Wahrnehmungsdaten, auf welche sich die Theorie bezieht". Sie können aber auch nicht unterscheiden zwischen der "Theorie" und weiteren "Verfahrensweisen", mittels deren die "Wahrnehmungsdaten" auf die "Theorie" bezogen werden. (Wiener 1979, 182)

    Diese Nichtunterscheidbarkeit zwischen Erleben und Gegenstand, die das künstlerische Experiment vom naturwissenschaftlichen scheidet, kann aber dort zur "Chance" des künstlerischen Experiments werden, wo auch die exakten Wissenschaften es mit einem weitgehenden Zusammenfallen von Beobachter und beobachtetem Gegenstand zu tun haben: wenn es um eine wissenschaftliche Beschreibung von Verstehen, Bewußtsein, Selbst etc. geht, also im weitesten Sinne um das Verhältnis von mentalen und physischen Phänomenen. Oswald Wiener fordert aus seiner naturwissenschaftlich akzentuierten Perspektive auch für die Literatur: "Literatur scheint mir nur mehr beachtenswert, insofern sie sich dem großen, dem einzigen Thema unserer Epoche zuwendet: dem Begreifen der elementaren Mechanismen des Verstehens." (Wiener 1998, 95)

    Falk, der diese Thesen mit einer theoretischen Fixiertheit auf den Primat der Sprache vor dem Inhalt entwickelt, rekurriert auf die informationstheoretische, numerisch-statistische Ästhetik Benses, der die Eigenwelt in der Interaktion des Sprachmaterials vor der sogenannten Außenwelt der Texte akzentuiert:

    Der ästhetische Zustand eines Textes, sofern er ein sprachlicher Zustand ist, kann nur sprachlich realisiert sein, d.h. er gehört ganz und gar der sprachlichen Eigenwelt der Texte an, nicht ihrer sprachlichen Außenwelt, also nicht dem, worüber gesprochen wird. (Bense 1969, 104)

    Wenn diese restlose Absage an eine Textaußenwelt im folgenden bezweifelt wird, so soll nicht einem überkommenen Inhaltsdenken das Wort geredet werden, das vom literarischen Kunstwerk eine angemessene Relation zu einer vorgängig fixierten äußerlichen Erlebenswelt fordert. Auch der folgenden Sentenz Benses ist mit einer allerdings wesentlichen - Einschränkung zuzustimmen:

    Das Verhältnis der identifizierenden (redundanten) zur innovativen (informationellen), der wahrscheinlichen zur unwahrscheinlichen Ordnung definiert die numerische Graduierung des ästhetischen Zustandes in einem statistischen Sinne, der erkennen läßt, wie sehr der ästhetische Zustand kein wirkliches, sondern nur ein wahrscheinliches Sein besitzt, das fragil und in höchstem Maße unbestimmt ist, ausschließlich abhängig von der Distribution der selektierten Elemente über dem selektierbaren Repertoire. (Bense 1969, 107)

    [...]
    Besonders an Texten lassen sich solche statistischen Ausmessungen oder Auszählungen relativ leicht durchführen, und zwar [...] in allen Schichten der den Text konstituierenden Elemente, von bloßen Materialien bis zu erklärten Bedeutungen. (Bense 1969, 106)

    Die Einstellung auf die Botschaft als solche für die ästhetische - oder mit Roman Jakobson - für die poetische Funktion von Texten zu halten3 ist jenes unschätzbare Verdienst der Poetik der Moderne, jener Wurf, der auch in Max Bense und der Stuttgarter Schule (Mon, Harig, Esser, Döhl etc.) bedeutende Mit-Konstrukteure gefunden hat. Benses generalisierende Annahme aber, daß sich statistische Auszählungen in allen Schichten des Texts, von der materialen bis zur Bedeutungsebene vornehmen lassen, ist zumindest aus heutiger Sicht problematisch. Denn Bense baut auf die von Claude Elwood Shannon formulierte Theorie der Automaten bei seiner Bedeutungserschließung, obwohl Shannon immer wieder betont hat, daß derartige Formalisierungen keinerlei Bezug auf "Inhalte" oder die "Bedeutungs"-ebene haben.4

    Ähnlich formuliert Max Bense zur semantischen Seite der Textproduktion (für den Fall, daß diese nicht-aleatorisch, d.h. nicht-zufällig und nicht-willkürlich verläuft):

    Aber die Selektion kann auch nicht-aleatorisch, nicht rein zufällig sich abspielen; in diesem Falle ist sie gesteuert, mehr oder weniger determiniert, und dann gehören auch nichtmateriale Elemente zum Repertoire, Regeln, Grammatik, semantische Kategorien, Semanteme. [...] Man schreibt, wenn man schreibt, sowohl auf der Graphemebene der Texte wie auf der Semantemebene. (Bense 1969, 101)

    Literarisches Schreiben bedeute also sowohl eine Selektion der Materialien wie auch eine Selektion der Semanteme, womit wir uns aber vor dem Problem der Formalisierung von Inhalt und Bedeutung, mithin im Zirkel der nicht-umgehbaren Bedeutungsinterpretation und mitten im Strudel der nicht-umschiffbaren Frage nach der Textsemantik, für die die numerische Ästhetik nur wenig befriedigende Formalisierungsund Generierungsversuche anbietet, befinden. Bense legt selbst seinen analytischen Finger auf die Wunde seiner ästhetischen Theorie, wenn er der Metapher in seinen Überlegungen besondere Bedeutung beimißt. Grob gesprochen versucht er auch deren formalistische Fixierung, nachdem ihre eminente Rolle für die Literatur literarhistorisch nachgewiesen ist. Generell sei die Metapher eine Übertragung eines Wortes aus natürlichem, frequentem Zusammenhang in einen künstlichen, niederfrequenten. In ein funktionales Schema gebracht, könne die Metapher als Abbildungsschema der Texttopologie verstanden werden. Die Metapher gehöre dem Bereich der Metasprache an, also jenem Sprachbereich, in dem man über die Sprachverwendung, die sich auf nicht-sprachliche Gegenstände bezieht (die sogenannte Objekt-Sprache), spricht und diese charakterisiert - so zweifelhaft die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache für natürliche Sprachen auch ist.5 Nun geht Bense davon aus, daß es in der Objektsprache, also im Reich der nicht-metaphorischen Formulierungen, eine unendliche Anzahl von Wörtern gibt, daß diese jedoch prinzipiell abzählbar ist. (Bense 1969, 117ff.) Man zählt und zählt und kann immer noch ein weiteres Wort dazugeben, alle diese Wörter sind deutlich voneinander geschieden - diskret, wie es so schön heißt. Für die Metapher nun verhalte es sich anders: Die metaphorischen Bedeutungen seien zwar auch unendlich, jedoch unter der Zusatzannahme, daß diese Unendlichkeit nicht abzählbar ist, so wie eine geometrische Linie aus unendlich vielen Punkten besteht, die ihrerseits nicht voneinander diskret sind. Damit sind die Bedingungen einer Formalisierung zumindest erschwert. Denn wie sollte eine statistische, numerische Methode auf nicht-diskrete, also nicht voneinander abgrenzbare Größen angewendet werden? Bense wählt den Ausweg eines Analogieschlusses: Er vergleicht die Funktionsweise der Metapher mit der nicht-aristotelischen Seinsthematik Gotthard Güntherscher Prägung. Ohne dieses Günthersche Modell, das eine nicht-aristotelische, dialektische Logik (Günther 1991) insinuiert, hier im Detail zu beschreiben, fällt doch die Strategie Benses auf: Analogieschluß, Vergleich, Übertragung zur Erklärung der Metaphorik entstammen dem selben Bereich wie das zu Erklärende. Sollte sich also die Metapher als die basale Operation der Bense'schen Beweisführung erweisen? Als basale Operation - könnte man der Bense'schen Ästhetik gerafft vorwerfen -, die zudem aus dem Bereich der exakten Wissenschaften z.B. informationstheoretische oder kybernetische Modelle auf ästhetische Phänomene so überträgt, daß der Erkenntnisund Wahrheitswert solcher Übertragungen nicht über den Status des Metaphorischen hinausreicht und damit im Bereich des Literarischen bleibt, auch wenn er kraft der gewählten Terminologie auf seine "Wissenschaftlichkeit" und mithin Wörtlichkeit verweisen möchte.

    Gunter Falk folgt in den weiteren Ausführungen seines Vortrags, die um das Verhältnis von literarischem Text und Wirklichkeit, zwischen Sprache und Welt kreisen, wiederum Max Bense, aber er folgt auch René Wellek und Austin Warren und rekurriert mit diesen auf Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus6 (Wittgenstein 1984):

    Die Literatur, das literarische Kunstwerk ist Darstellung, Bild der Welt, einer Welt, sei sie fiktiv oder real, und diese Sprache-Welt-Relation ist für den Bereich der wirklichen Welt von Wittgenstein im 'Tractatus logico-philosophicus' klassisch formuliert worden […] (Zit. n. Falk 197?)

    Falk spielt auf die von Wittgenstein im Tractatus entworfene realistische Referenzsemantik an (der Satz sei ein Bild der Welt7, es gebe eine Isomorphie zwischen der - logischen - Form des Satzes und den Gegenständen/Sachverhalten der Welt), er zitiert8Wittgenstein:

    2.16 Die Tatsache muß, um Bild zu sein, etwas mit dem Abgebildeten gemeinsam haben.

    2.161 In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.

    2.17 Was das Bild mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie auf seine Art und Weise - richtig oder falsch - abbilden zu können, ist seine Form der Abbildung.

    2.171 Das Bild kann jede Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat. (Wittgenstein 1984, 15f.)

    Und Falk weiter:

    Ein literarisches Kunstwerk, ein Sprachkunstwerk würde mit Wittgenstein also, für den Bereich der Wirklichkeit die Form von logischen Sätzen annehmen, doch ist die Welt, die im literarischen Werk abgebildet wird, nie die Realität an sich, sondern eine fiktive Welt, die mehr oder weniger Bezug zur Realität haben kann. (Im Surrealismus, der eine surreale Welt vorgibt, kennen wir die berühmten alogischen Sätze.) [...] Diese Abbildungsfunktion der Literatur, wie ja der Sprache an sich, hat vielfach zu falschen Auffassungen über die Seinsweise des Sprachkunstwerks geführt. So verlegten die klassischen Ästhetiken das Schöne in den Bereich des Abzubildenden, der Gegenstände, Sachen, Personen, Handlungen, und als 'schön' wurde etwa nicht das Wort 'rose' angesehen, sondern der Gegenstand, die Rose selbst. [...] Der Großteil der Mißverständnisse über moderne und neue Literatur hat im Verkennen der Abbildungsfunktion mit dem Abgebildeten seine Wurzel. Wenn man über Joyce spricht, spricht man vielleicht über die Problematik der Psychoanalyse statt über die Problematik der Sprache. (Falk 197?)

    Wenn es bei Wittgenstein im Tractatus weiter heißt: "Seine Form der Abbildung kann das Bild nicht abbbilden; es weist sie auf" (2.172) (Wittgenstein 1984, 16) und "Das Bild stellt dar, was es darstellt, unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit, durch die Form seiner Abbildung" (2.22) (Wittgenstein 1984, 16), und damit der oft mißverstandene Unterschied zwischen "Sagen" und "Zeigen" ("4.1212 Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden" [Wittgenstein 1984, 34]) entwickelt wird, so führt dies Bense in seiner Textästhetik zu der Ableitung, daß "die ästhetische Botschaft eines Textes [...] nicht anders als in ihm verwirklicht werden [kann], denn sie zeigt sich nur mit der Realisierung des Textes" (Bense 1982, 296). Für die Unterscheidung zwischen semantischen und ästhetischen Texten rekurriert Bense abermals auf Wittgenstein:

    der semantische Text besteht aus Sätzen, die wahr oder falsch sind und 'die Wahrheitsbedingungen bestimmen den Spielraum, der den Tatsachen durch den Satz gelassen wird', wie es [...] im 'Traktat' (4.463) heißt. [...] In einem ästhetischen Text nun verengen die Schönheitsbedingungen der verknüpften Sätze den Spielraum der Wahrheitsbedingungen für den Spielraum, der den Tatsachen durch den Satz gelassen wird [...]; ästhetisch [...] ist der Spielraum eines Satzes nur er selbst, identisch mit sich, weder größer noch kleiner als seine materielle Realisation, ästhetisch sagt der Satz nur, was er zeigt. Ästhetische Sprache geht im Prinzip der Objektsprache voraus, so wie die Metasprache dieser nachfolgt. (Bense 1982, 297f.)

    Bense referiert hier nochmals die schon oben angedeutete Vorrangigkeit der sprachlichen Eigenwelt eines Textes vor der außersprachlichen Außenwelt, wenn es um ästhetische Zusammenhänge geht, er schlägt damit auch abermals in die philosophische Kerbe Gotthard Günthers, wie sich in dem Bense-Zitat, das Falk in seinem Vortrag bringt, deutlich zeigt:

    Gotthard Günther hat in seinem fundamentalen Werk 'Ideen und Grundriß einer nichtaristotelischen Logik' zwischen einer ersten Art von Reflexion, die sich auf Objekte, also auf Welt und einer zweiten Art, die sich auf sich selbst, ihren eigenen Vorgang bezieht, unterschieden. in der ersten sind die Probleme der Transzendenz, in der zweiten die Probleme der Transzendentalität enthalten. Denkt man nun daran, daß sich jede Reflexion nur sprachlich vollziehen kann, also auch ein Zeichenprozeß ist und daß die Zeichen einer Sprache in 'Zeichen für…' und 'Zeichen von …' eingeteilt werden können, so fällt es nicht schwer, die Günthersche Differenzierung in aristotelische Logik 'für' Welt und nichtaristotelische Logik 'des Denkens des Denkens' zur Idee einer weiteren neuen Unterscheidung auszunützen, und zwar von aristotelischen Texten für… und nichtaristotelischen Texten von … (Bense 1960, 115, zit. n. Falk 197?)

    Falk kommentiert diese Abkehr von der Vorstellung, "die Welt zu dichten" und die Hinwendung zu einem "Dichten des Dichtens" mit einer Rückbindung der zweiten Reflexion Gotthard Günthers an "experimentelle Texte":

    Die Abbildungsfunktion ist für sie [für nicht-aristotelische Texte von... , TE] nicht mehr relevant. Damit ist nicht gesagt, daß die Worte (und die Texte) keine Bedeutungen mehr tragen können, jedoch müssen sie es nicht länger, womit die Möglichkeit von Lautgedichten gegeben wird, im weiteren bedeuten und bezeichnen Bedeutungen, wenn sie auftreten was im allgemeinen der Fall sein wird - nicht länger Welt, sie bedeuten Sprache, sie bedeuten Bedeutung. Sie bedeuten - und auch so können wir uns ausdrücken, das ist eine Sache der Terminologie -, sie bedeuten Denken. (Falk 197?)

    Damit vollzieht Falk eine Wendung von der Abbildtheorie und der realistischen Referenzsemantik des frühen Wittgenstein zu dessen Spätwerk: zu den Philosophischen Untersuchungen, in denen Wittgenstein - grob gesagt - zu einer Gebrauchstheorie der sprachlichen Bedeutung in verschiedenen Sprachspielen, die man während des Spracherwebs durch Abrichtung erlernt, gelangt. Gunter Falk faßt zusammen:

    Ich möchte nochmals wiederholen: Was ein Wort bedeutet, lernt man, indem man sieht, wie es gebraucht wird.
    Und hat man auch seinen Gebrauch kennengelernt, so hat man auch gelernt, was es bedeutet. [...]
    Hiermit ist nun zugleich gesagt, daß das, was das Wort benennt, nicht seine Bedeutung sein kann. (Falk 197?)

    In seiner Wittgenstein-Exegese geht Falk schließlich so weit, daß er für seinen Vortrag das rhetorische Mittel Wittgensteins einer "Mäeutik an sich selbst" anwendet, wenn er mehrere Sprachspiele anhand von Beispieltexten sich selbst (und damit den Höreren) im fragespielenden Dialog zu erklären versucht. Er schließt mit der Zusammenfassung:

    Dieses Spiel ließe sich nun eine hübsche Zeitlang weiterführen; ich möchte es abbrechen. Halten wir fest: Sprache ist kein Sammelsurium von Namen, mit denen die Dinge belegt werden, auf daß man über sie sprechen könne. Sprache im Sinne von langue, langage, ist ein sinnvolles Zeichengefüge, in dem etwas mitgeteilt werden kann. Die Bedeutung der Zeichen ist nicht extensional, eindeutig festgelegt. Die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich aus seinem Gebrauch, sie ist der Gebrauch des Zeichens. Wenn ich ein Zeichen, Sprachzeichen, gebrauche, gebrauche ich es in einem bestimmten Zusammenhang. Dieser Zusammenhang, in dem das Zeichen gebraucht wird, bestimmt seine Bedeutung. (Falk 197?)

    Zitierte Arbeiten:

    1. Bense, M. (1969) Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
    2. Bense, M. (1960), Programmierung des Schönen. Allgemeine Texttheorie und Textästhetik. aestetica IV. Baden-Baden: Agis.
    3. Bense, M. (1982), "Begriff der Textästhetik" in Bense, M. AESTHETICA. Einführung in die neue Ästhetik. Baden-Baden: Agis, 291-299.
    4. Bochenski, I. M. (1993), Die zeitgenössischen Denkmethoden. 10. Aufl. [1. Aufl. 1954], Tübingen, Basel: Francke.
    5. Günther, G. (1993), Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Hamburg: Meiner.
    6. Hammerschmid, M. (1998), Forschungsbericht zum Nachlaß von Gunter Falk. Wien: ÖLA [unveröff.].
    7. Jakobson, R. (1979), "Linguistik und Poetik" in Jakobson, R. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 83-121.
    8. Mittelstraß, J. et al. (1995), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie,. Hg. v. Jürgen Mittelstraß et al. Stuttgart, Weimar: Metzler, Bd. 2.
    9. Priessnitz, R.; Rausch, M. (1975), "tribut an die tradition. aspekte einer postexperimentellen literatur" in Laemmle, P.; Drews, J. Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. Texte, Porträts, Analysen und Dokumente junger österreichischer Autoren. München: edition text + kritik, 159-176.
    10. Wiener, O. (1979), "Einige Gedanken über die Aussichten empirischer Forschung im Kunstbereich und über Gemeinsamkeiten in der Arbeit von Künstlern und Wissenschaftlern", in Siegfried J. Schmidt (Hg.), empirie in literatur- und kunstwissenschaft. München: Fink, 182-189.
    11. Wiener, O. (1990), "Oswald Wiener im Gespräch mit Florian Rötzer" in Der Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft. München: Matthes & Seitz, 110-119.
    12. Wiener, O. (1998), Literarische Aufsätze. Wien: Löcker.
    13. Wittgenstein, L. (1984), Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/Main: Suhrkamp [11921]. (= Werkausgabe Bd. 1; suhrkamp taschenbuch wissenschaft 501).
    Notes
    1.
    Der Falk-Text Experimentelle Literatur ist ein unveröffentlichtes, nicht paginiertes Vortrags-Typoskript, das sich im Nachlaß von Gunter Falk im Bestand desÖsterreichischen Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA) befindet und das bisher nicht genau datiert werden konnte, mit höchster Wahrscheinlichkeit jedoch aus den siebziger Jahren stammt. Dieser Aufsatz wurde zusammen mit anderen Texten Gunter Falks von Michael Hammerschmid im Rahmen eines Forschungsprojekts am ÖLA, das die Aufarbeitung des Nachlasses von Gunter Falk zum Gegenstand hatte, rekonstruiert. Um einen Einblick in diesen Text zu ermöglichen, werde ich die aussagekräftigsten Teile ausführlich zitieren; eine Gesamtedition des Textfragments liegt in dem Forschungsbericht von Michael Hammerschmid (Hammerschmid 1998) vor.
    2.
    Protokollsätze sind die grundlegenden Erfahrungs- und Beobachtungssätze über Sachverhalte, wie sie im Logischen Empirismus des Wiener Kreises gefordert sind, ähnlich den "Elementarsätzen" Wittgensteins.
    3.
    Vgl. Jakobson 1979, 92: "Die Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die POETISCHE Funktion der Sprache dar."
    4.
    Vgl. Oswald Wiener zu Benses und Abraham Moles empirischer Ästhetik auf dem Hintergrund der Informationstheorie (Wiener 1990, 111): "Diese Versuche sind, erstens, von allzu seichten ästhetischen Voraussetzungen ausgegangen. Man hat etwa die Ideen von Shannon herangezogen, obwohl Shannon selbst immer wiederbetont hat, daß seine Überlegungen keinerlei Bezug auf 'Inhalte' oder auf die'Bedeutungs'-Ebene haben. Eine Ästhetik ohne diese Ebene ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und zweitens hat man gleich versucht, aus diesen unzulänglichen Vorstellungern spezifische Rezepte für das Kunstmachen und konsumieren abzuleiten."
    5.
    Unter Objektsprache versteht die Wissenschaftstheorie "in theoretischen Untersuchungen über sprachliche Ausdrücke die Klasse derjenigen sprachlichen Ausdrücke, die untersucht, insbesondere erwähnt [...] werden, im Unterschied zur Metasprache als der Klasse derjenigen sprachlichen Ausdrücke, der sich die Untersuchungen selbst bedienen. [...] Gelegentlich entstehen Zweideutigkeiten, wenn 'Objektsprache' nicht als 'Sprache, die Objekt (einer Untersuchung) ist' verstanden wird, sondern als 'Sprache über nicht-sprachliche Objekte', also als die unterste Objektsprache in der Hierarchie der Sprachebenen. Natürliche Sprachen sind im Unterschied zu explizit eingeführten Wissenschaftssprachen oder auch formalen Sprachen durch eine Einheit von objektsprachlichen und metasprachlichen Ausdrücken beliebiger Stufe gekennzeichnet." Vgl. Mittelstraß et al. 1995, 1054f.
    6.
    Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1984 [11921]. (= Werkausgabe Bd. 1; suhrkamp taschenbuch wissenschaft 501).
    7.
    Vgl. auch die diesbezügliche Kritik an dem Stück kaspar Peter Handkes, die von Reinhard Priessnitz und Mechthild Rausch (Priessnitz/Rausch 1975, 147f., 152) formuliert wurde: "nun treten zwar im 'kaspar' einsager in aktion, die den spracherwerb seiner hauptfigur durch mustervorlagen steuern, anregen etc., aber ihr einsatz arbeitet vielleicht auf eine zu einseitig gesehene funktionsweise der sprache hin: nämlich auf die abbildende. ein tisch ist ein wahrer tisch, wenn das bild vom tisch mit dem tisch übereinstimmt (handke, 'kaspar') - das stimmt im falle von original und dem es reproduzierenden abbild (wenn inhaltliche ähnlichkeit festgestellt werden kann) und ist letztlich trivial, aber wenn handke damit den wittgensteinschen bildbegriff (den des tractatus) meint - und dafür spricht u.a ... ist ein wahrer tisch ... - so fasst er ihn naiv auf und wird selbst zu voreiligen folgerungen verleitet. [...] wittgensteins bild-begriff in dessen 'tractatus' ist abstrakter zu verstehen; er ist mehr von der form einer mathematischen abbildung. als naturalistisches bild wäre er ja wieder ein ding usw. (darüber gibt es ja bereits jede menge fachliteratur). - nun braucht handke, als dichter, nicht philosophische klarheit für sich in anspruch nehmen. es sollte jedoch gezeigt werden, auf welch verschiedenen wegen man zur poetisierung gelangen kann. und was sie eigentlich soll oder wem sie nützen könnte, scheint uns höchst fragwürdig."
    8.
    Falk gibt in seinem Aufsatz Experimentelle Literatur keine genauen Zitationsangaben, welche Stellen aus dem Tractatus er an dieser Stelle referiert hat. Ich halte mich im groben - mit einigen Erweiterungen - an eine Auswahl, die Michael Hammerschmid vorgeschlagen hat. Vgl. Hammerschmid 1998.
    Thomas Eder. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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