Abstract
Russells Theorie des Urteilens (Glaubens), die 1910 in Principia Mathematica und 1913 in Manuskript über Erkenntnistheorie entwickelt wird, wird von Wittgenstein kritisiert. Wittgenstein behauptet, daß diese Theorie die Existenz von Propositionen impliziert, die nicht Wahrheitsfunktionen von ihren Teilpropositionen sind. Unter dem Einfluß dieser Kritik verzichtet Russell auf seine Theorie des Glaubens in der Form, in der diese 191013 formuliert wurde, und ersetzt sie 1919 durch eine neue. Zugleich zeigt er die Möglichkeit einer solchen Auffassung der Propositionen über propositionale Einstellungen, die Wittgensteins Forderung erfüllt, daß jede Proposition eine Basis für Wahrheitsfunktionen sein soll. Es besteht die Möglichkeit, eine Proposition der Form "A glaubt (daß) p" ("A believes p") auf solche Weise zu analysieren, daß das Produkt dieser Analyse p als seinen Bestandteil nicht enthält und deshalb eine Wahrheitsfunktion von p nicht sein kann. Der wichtige Faktor bei einer derartigen Analyse ist die Struktur von p, und dieser Faktor macht den Wahrheitswert solcher Propositionen abhängig von etwas anderem als dem Wahrheitswert von p. Diese Idee kann später bei Carnap gefunden werden.
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Russells Theorie des Urteilens (Glaubens), die 1910 in Principia Mathematica und 1913 in Manuskript über Erkenntnistheorie entwickelt wird, wird von Wittgenstein kritisiert. Wittgenstein behauptet, daß diese Theorie die Existenz von Propositionen impliziert, die nicht Wahrheitsfunktionen von ihren Teilpropositionen sind. Unter dem Einfluß dieser Kritik verzichtet Russell auf seine Theorie des Glaubens in der Form, in der diese 191013 formuliert wurde, und ersetzt sie 1919 durch eine neue. Zugleich zeigt er die Möglichkeit einer solchen Auffassung der Propositionen über propositionale Einstellungen, die Wittgensteins Forderung erfüllt, daß jede Proposition eine Basis für Wahrheitsfunktionen sein soll. Es besteht die Möglichkeit, eine Proposition der Form "A glaubt (daß) p" ("A believes p") auf solche Weise zu analysieren, daß das Produkt dieser Analyse p als seinen Bestandteil nicht enthält und deshalb eine Wahrheitsfunktion von p nicht sein kann. Der wichtige Faktor bei einer derartigen Analyse ist die Struktur von p, und dieser Faktor macht den Wahrheitswert solcher Propositionen abhängig von etwas anderem als dem Wahrheitswert von p. Diese Idee kann später bei Carnap gefunden werden.
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Vor 1905 betrachtet Russell das Urteilen oder Glauben (judgement, belief) als eine Relation zwischen dem erkennenden Subjekt, das man mit einer Menge von Vorstellungen und Propositionen (Wissenseinheiten) identifizieren kann, und einem komplexen Objekt der Erkenntnis, das auch als eine Proposition charakterisiert wird. Die letztere ist wahr oder falsch und wird vom urteilenden Subjekt behauptet oder negiert, nachdem es diese Proposition wahrgenommen hat. Problematisch für diese Theorie ist die Frage nach den Gründen für die Behauptung oder Verneinung einer Proposition. Wenn das Wahrgenommene unstrukturiert ist, und das Wahrnehmen nicht irreführen kann (was Russell dem Wahrnehmen zuschreibt), können die Gründe für die Behauptung oder Verneinung einer Proposition nur in der analysierenden Tätigkeit des Subjekts liegen, denn nur durch diese Tätigkeit wird der wahrgenommene Komplex gegliedert. Urteilen läßt sich also nicht als eine zweistellige Relation erklären und muß mehr als zwei Objekte aufeinander beziehen, sonst kann man nicht die analysierende Tätigkeit des Subjekts auf eine nicht-psychologistische Weise auffassen.
Aus diesem Grund definiert Russell das Urteilen als eine mehrstellige Relation (Whitehead, Russell 1978). Die Terme einer solchen Relation sind folgende. Erstens ist einer dieser Terme das erkennende Subjekt. Zweitens sind unter diesen Termen die Objekte, die aufeinander bezogen einen Komplex bilden, der mit dem Denotat eines wahren Satzes zusammenfällt. Schließlich ist unter diesen Termen die Relation zu finden, durch welche diese Objekte zu einer komplexen Einheit verbunden sind. Werden die Zeichen für die Objekte zweiter und dritter Art vom Subjekt im Kontext einer Behauptung gebraucht, wird die Kollektion von Bedeutungen dieser Zeichen zu einer komplexen Bedeutung (meaning). Diese Bedeutung wird von Russell als eine Proposition bezeichnet. Explizit definiert wird aber nicht die Proposition als ein selbständiges Objekt, sondern Relation dieselbe Bedeutung zu haben. 1913 erweitert Russell die Liste von Termen einer kognitiven Relation (Urteilen eingeschlossen) noch um einen - die logische Form des Komplexes, der aus Objekten und einer Relation besteht (Russell 1984). Die logische Form eines Komplexes kann man in Zeichen verkörpern, indem man bezeichnende Bestandteile einer Proposition durch Variablen ersetzt. Die logische Form muß einfach sein, sonst wird jede kognitive Relation schon auf einer anderen kognitiven Relation beruhen, und zwar auf derjenigen, die für das Heranziehen einer logischen Form notwendig ist. Wenn jede kognitive Relation ein solches Heranziehen voraussetzt, braucht man immer wieder eine weitere logische Form, um Kenntnis von einer, die z.B. zum Urteilen gebraucht wird, zu erlangen. Ohne die Kenntnis von einer logischen Form kann aber die Erkenntnis sich nicht realisieren. Denn man muß logische Formen kennen, um die Propositionen zu fassen, die dem Subjekt durch Bekanntschaft nicht gegeben sind.
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Russellsche Theorie des Urteilens wird von Wittgenstein kritisiert (Wittgenstein 1964,1961). Seine Gegenargumente kann man folgendermaßen zusammenfassen.
- Die Bejahung eines Satzes kann ihm nicht einen Sinn geben, was Russellsche Theorie impliziert, wenn sie die Behauptung eines Satzes mit einer synthesierenden Tätigkeit des Subjekts gleichsetzt, durch die ein behaupteter Satz eine Bedeutung bekommt. Bejaht in einem Satz wird gerade sein Sinn, also muß jeder Satz schon einen Sinn haben (Wittgenstein 1964, 4.064).
- Der Sinn eines Satzes ist das, was jeder Satz außer Tatsache (seiner Bedeutung) hat, und was erlaubt, den Satz zu verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr oder falsch ist, also ohne jegliche Bekanntschaft mit der durch diesen Satz beschriebenen Tatsache (1964 4.023, 4.024). Des Wissens von einer logischen Form bedarf man dabei nicht, weil sie erst durch den Gebrauch des Zeichens definiert wird (1964 3.327). Die logische Form einer Tatsache spiegelt sich im Satz, sie muß und kann nicht dargestellt und begriffen werden, um das Begreifen eines Satzes zu ermöglichen (1964 4.12, 4.121). Sie ist ein logisches Gerüst, mit Hilfe dessen der Satz ein Modell der Wirklichkeit bildet (1964 4.01, 4.023). Aber dieses Gerüst existiert nicht außerhalb des Satzes. Es ist die Form, in der der Satz existiert, eine Gegliedertheit des Satzes (1964 3.1432, 4.032).
- Der Sinn des Satzes ist dann bestimmt, wenn die Umstände bestimmt sind, unter welchen der Satz wahr ist (1964 4.063). Die Wahrheit und Falschheit eines Satzes besteht in der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit (1964 2.222, 4.2). Der Satz hat "Bipolarität" und die Annahme dieser Bipolarität des Satzes zwingt Wittgenstein zu der Behauptung, daß jeder Satz eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze ist (1964 5). Der Satz kommt also in einem anderen Satz nur als Basis der Wahrheitsoperationen vor (1964 5.54), nie als Relatum einer Relation zu einem Subjekt, was Russell von den Sätzen der Form "A glaubt (daß) p" annimmt (1964 5.541). Urteilend daß p glaubt das Subjekt, daß der Satz "p" wahr oder falsch ist, also ist das Urteilen eine Relation zwischen zwei Tatsachen. Der Satz "A sagt p" ist in Wirklichkeit von der Form "'p' sagt p" (1964 5.542).
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Unter dem Einfluß dieser Kritik ändert Russell seine Auffassung des Urteilens (des Glaubens). Er verwendet die Idee Wittgensteins, von der Gegenüberstellung des Subjektiven dem Objektiven abzusehen, und betrachtet nun das Glauben nicht als eine Relation zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand (oder Gegenständen) des Glaubens. Das Glauben ist für Russell ein Komplex, der vollständig durch seine Komponenten beschrieben wird (Russell 1971). Diese sind der Inhalt des Glaubens (die Proposition, die nun auch eine Tatsache ist), die Beziehung der Proposition zu einer anderen Tatsache, die die Proposition wahr oder falsch macht, und das Glauben selbst im engeren Sinne dieses Wortes genommen. Das ist eher eine bestimmte Art des Glaubens - Zweifel, Behauptung, Überzeugung z.B., die alle einen und denselben Inhalt haben können. Diese Art des Glaubens wird im Satz ausgedrückt. Das ist das Zusätzliche, was der Satz außer dem Glaubensinhalt wiedergibt.
Diese Veränderung epistemologischer Ansichten Russells ist aber nicht die einzige, die durch Ideen Wittgensteins hervorgerufen war.
Propositionen der Form "A glaubt (daß) p" wurden in Principia ursprünglich als intensionale Funktionen von Funktionen charakterisiert. Der zweiten Auflage des Buches (1927) wird ein Anhang C zugefügt, in dem die Frage nach dem intensionalen Charakter solcher Propositionen erneut aufgeworfen wird. Der Idee Wittgensteins folgend wird nun verlangt, daß jedes Vorkommen einer Funktion in einer Proposition nur durch ihren Wahrheitswert erfolgt. Jede Funktion von einer Proposition muß also extensional sein. Weil Propositionen der besagten Form ein evidentes Beispiel der Propositionen liefern, die diese Forderung nicht erfüllen (für einen und denselben Wahrheitswert von p können sie sowohl wahr als auch falsch sein), fragt es sich, ob diese Forderung sich immer erfüllen läßt, und ob die gegebenen Ausnahmefälle tatsächlich gegen diese Forderung verstoßen.
Um dieses Problem zu erörtern, unterscheidet Russell zwischen der Proposition als einer Tatsache und der Proposition als einem Vermittler (vehicle) eines Wahrheitswertes. Proposition als Vermittler eines Wahrheitswertes, wie sie in der Logik betrachtet wird, wird folgendermaßen charakterisiert.
- Alle Propositionen können nach bestimmten Regeln in zwei Klassen eingeteilt werden - in wahre und falsche.
- Eine eindeutige Zuordnung einer dieser Klassen ist nur für molekulare Propositionen möglich, d.h. für Propositionen, die eine Struktur haben (oder Funktionen von atomaren Propositionen sind). Eine Proposition, die Feststellung deren Wahrheitswertes von außerlogischen Tatsachen abhängt, kann nicht behauptet werden (d.h., kann kein logisches Theorem sein).
- Der Wahrheitswert einer Proposition hängt nicht nur von dem Wahrheitswert atomarer Propositionen ab. Entscheidend ist auch die Form der Proposition, unter der Russell offensichtlich eine Beziehung zwischen dem Bestand zweier Propositionen meint. Man darf nämlich eine Aussagenvariable durch einen funktionalen Ausdruck ersetzen, und wenn man Gleichgestaltetes für Gleichgestaltetes substituiert, bleibt der Wahrheitswert der Proposition unverändert. Haben wir aber eine Proposition, deren Teilpropositionen Funktionenausdrücke sind, dann geht die Ersetzung dieser Ausdrücke durch Aussagenvariablen nicht immer, denn Aussagenvariablen sind "unempfindlich" in bezug z.B. auf Verschiedenheit der Argumente von einer und derselben Funktion. Bei einer solchen Ersetzung kann z.B. ein Theorem an Tragweite seiner Folgen verlieren. Dieses Argument liegt der Behauptung zugrunde, daß in fraglichen Propositionen eine Proposition als Vermittler eines Wahrheitswertes gar nicht vorkommt. Russell betrachtet einige Beispiele und gibt ihre mögliche Analyse, die ihrerseits zeigt, daß eine Proposition in den zu analysierenden Propositionen gar nicht vorkommt. Nehmen wir z.B. den Satz "A sagt, daß Sokrates Grieche ist". Man betrachtet die Wörter "Sokrates", "ist" und "Grieche" als Klassen ähnlicher Geräusche, und das einzelne Vorkommen jeden Wortes als ein Geräusch, das zu einer solcher Klassen gehört. Die Person A wird als eine Reihe von Ereignissen aufgefaßt, und eine solche Reihe ist auch die Folge der Geräusche, die A in seiner Behauptung von sich gibt. Geht man von einer solchen Auffassung aus, dann hat man als "richtige" Form des Satzes die Behauptung, daß es solche x, y und z gibt, so daß sie einer der Klassen "Sokrates", "ist" und "Grieche" angehören, und daß die Folge dieser einzelnen Geräusche der Reihe der Ereignisse angehört, welche die Person A ausmachen. Also haben solche Propositionen eine andere Struktur als es angenommen wird. Bei einer solchen Proposition, die in einer anderen als Objekt einer propositionalen Einstellung vorkommt, muß es folglich um Proposition als eine Tatsache handeln.
Was charakterisiert Proposition als eine Tatsache, wenn sie in einer anderen Proposition vorkommt?
- Russellsche Analyse zeigt Folgendes. Obwohl jede Proposition ein einzelnes Vorkommen hat, und somit eine akustische oder geographische Tatsache ist, besteht Proposition, die in einer anderen vorkommt, aus Klassen ähnlicher Vorkommen (von Zeichen) und ist selbst auch als eine solche Klasse zu betrachten. Nur diese Betrachtungsweise erlaubt es, Propositionen der Form "A glaubt (daß) p" als wahre oder falsche einzuschätzen. Eine Proposition, die einen Wahrheitswert vermittelt, ist dagegen selbst ein einzelnes Vorkommen und enthält einzelne Vorkommen ihrer Teilpropositionen.
- Das Vorkommen eines Propositionszeichens "p" in einer Proposition der Form "A glaubt (daß) p" ist nicht "transparent". Das bedeutet, daß das Zeichen "p" nicht gebraucht wird, um über durch es Bezeichnetes zu sprechen. Es wird gebraucht, um über das Symbol selbst oder über den Inhalt des Glaubens zu sprechen. Das Vorkommen einer Proposition, die einen Wahrheitswert vermittelt, ist dagegen immer "transparent".
Mit dieser Charakterisierung erkennt Russell die Existenz einer absoluten Grenze (gulf) zwischen den Wahrheitsfunktionen und Nicht-Wahrheitsfunktionen (not-truthfunctions) an, d.h. zwischen Behauptung einer Proposition und Behauptung über eine Proposition. In einer Behauptung über eine Proposition kommt diese Proposition einfach nicht vor. In dieser Beziehung besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen solchen unvollständigen Symbolen wie Beschreibungen und den fraglichen Propositionszeichen. Durch eine Analyse der Propositionen, in denen derartige Symbole vorkommen, werden sie einfach eliminiert, und der Wahrheitswert der sie enthaltenden Propositionen wird in Abhängigkeit von der Existenz solcher Individuen gebracht, welche die Funktionen erfüllen, durch die im Fall von Propositionszeichen die Bestandteile einer angeblichen Proposition und somit ihre Struktur gegeben sind. So gesehen ersetzt diese Theorie der logischen Form einer Proposition über eine propositionale Einstellung die Russellsche frühere Theorie der logischen Form einer kognitiven Relation. Daß die Individuen, auf die man bei der Verifizierung der Propositionen der besagten Form zurückgreifen muß, auch Vorstellungen und Bilder sein können, ist nun nach der Anerkennung einer Proposition als einer Tatsache, selbst wenn sie aus Bildern besteht (image-proposition), unwesentlich. Daß die Proposition, die in einer Behauptung über sie vorkommt, die Existenz von Nicht-Wahrheitsfunktionen zu bestätigen scheint, widerspricht nicht der Idee Wittgensteins, daß jede Proposition nur in einer Wahrheitsfunktion vorkommen kann, wegen der Eliminierung von Propositionszeichen durch eine entsprechende logische Analyse. Durch diese Idee widerlegt Russell einen der wichtigsten Punkte Wittgensteins Kritik.
Russellsche Idee der Abhängigkeit des Wahrheitswertes einer Proposition der Form "A glaubt (daß) p" von der Struktur und Bestandteilen von p findet ihre weitere Entwicklung insbesondere in dem Begriff des intensionalen Isomorphismus Carnaps (Carnap 1970).
Zitierte Arbeiten
- Carnap, R. (1970), Meaning and Necessity: A Study in Semantics and Modal Logic. Chicago and London: The University of Chicago Press.
- Russell, B. (1971), "On Propositions: What They Are and How They Mean", in B. Russell, Logic and Knowledge. Essays 1901-1950. London: George Allen & Unwin LTD, New York: The Macmillan Company.
- Russell, B. (1984), "The Theory of Knowledge. The 1913 Manuscript" in E. R. Eames mit K.Blackwell (Hrsg.), The Collected Papers of Bertrand Russell 7. London, Boston, Sydney: George Allen & Unwin.
- Whitehead, A. N., Russell, B. (1978), Principia Mathematica 1. Cambridge, London, New York, Melbourne: Cambridge University Press.
- Wittgenstein, L. (1961), Notebooks 1914-1916. New York.
- Wittgenstein, L. (1964), Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
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