Setzungen: Wittgensteins Stil im Tractatus
Setzungen: Wittgensteins Stil im Tractatus

Abstract

Die Ungewöhnlichkeit des Stils, die Eigenwilligkeit der Anordnung der einzelnen Sätze, der fast völlige Verzicht auf eine Argumentation in Wittgensteins Tractatus sind oft bemerkt worden. Kaum jemals ist jedoch die innere Beziehung zwischen Stil und der Sprachphilosophie Wittgensteins zum Thema gemacht worden. Die Analysen beschränken sich vornehmlich auf die formale Organisation der Sätze, ihre Strukturierung nach ihrem "logischen Gewicht"; gleichwohl stehen die einzelnen Aussagen da wie Monolithen, geschöpft aus der Einsamkeit der Reflexion. Der Text scheint, abgesehen von einigen Hinweisen und Andeutungen, ohne Bezug zur Tradition. Er geriert sich - darin typisches Produkt der ästhetischen Moderne - mit der kompromißlosen Geste eines radikalen Neubeginns. Das Verlangen nach einem "anderen Anfang" der Philosophie spiegelt sich so vor allem in der Form. Doch erklärt dies noch nicht die spezifische "Form" dieser Form, ihre einzigartige Gestalt, der fast verfügende Tonfall und die gleichsam "ursprungslose" Schreibweise, die die Linearität des Textes, seine fortlaufende Lesbarkeit sprengen und dem Leser nurmehr einzelne Sentenzen oder Aphorismen darbieten. Der Tractatus unterbricht die gewöhnliche Lektürepraxis, indem er deren Sukzession und damit auch ein kontinuierliches Verstehen vereitelt - vergleichbar dem Verfahren der Montage. Der Text bedient sich somit, wie man sagen könnte, einer besonderen performativen Technik. Keineswegs folgt sein Aufbau, wie Wittgenstein nahelegte, einer logischen Konsequenz - die Textarbeit innerhalb der Kriegsjahre belegt vielmehr, daß Wittgenstein immer wieder Passagen umstellte oder neu ansetzte, daß er die Gewichte verlagerte und alternative Numerierungen vornahm.

Table of contents

    1.

    Die Ungewöhnlichkeit des Stils, die Eigenwilligkeit der Anordnung der einzelnen Sätze, der fast völlige Verzicht auf eine Argumentation in Wittgensteins Tractatus sind oft bemerkt worden. Kaum jemals ist jedoch die innere Beziehung zwischen Stil und der Sprachphilosophie Wittgensteins zum Thema gemacht worden. Die Analysen beschränken sich vornehmlich auf die formale Organisation der Sätze, ihre Strukturierung nach ihrem "logischen Gewicht"; gleichwohl stehen die einzelnen Aussagen da wie Monolithen, geschöpft aus der Einsamkeit der Reflexion. Der Text scheint, abgesehen von einigen Hinweisen und Andeutungen, ohne Bezug zur Tradition. Er geriert sich - darin typisches Produkt der ästhetischen Moderne - mit der kompromißlosen Geste eines radikalen Neubeginns. Das Verlangen nach einem "anderen Anfang" der Philosophie spiegelt sich so vor allem in der Form. Doch erklärt dies noch nicht die spezifische "Form" dieser Form, ihre einzigartige Gestalt, der fast verfügende Tonfall und die gleichsam "ursprungslose" Schreibweise, die die Linearität des Textes, seine fortlaufende Lesbarkeit sprengen und dem Leser nurmehr einzelne Sentenzen oder Aphorismen darbieten. Der Tractatus unterbricht die gewöhnliche Lektürepraxis, indem er deren Sukzession und damit auch ein kontinuierliches Verstehen vereitelt - vergleichbar dem Verfahren der Montage. Der Text bedient sich somit, wie man sagen könnte, einer besonderen performativen Technik. Keineswegs folgt sein Aufbau, wie Wittgenstein nahelegte, einer logischen Konsequenz - die Textarbeit innerhalb der Kriegsjahre belegt vielmehr, daß Wittgenstein immer wieder Passagen umstellte oder neu ansetzte, daß er die Gewichte verlagerte und alternative Numerierungen vornahm.

    Mehr noch: Das Repertoire der Sentenz, des Aphorismus und die Durchnumerierung einzelner Abschnitte behält Wittgenstein auch später bei - freilich in aufgelockerter Form und ohne den Anspruch und das Pathos logischer Gewichtung. Gleichwohl gibt es - zumindest in bezug auf die für den Druck vorbereiteten Philosophischen Untersuchungen - ähnliche Variationen in der Gestaltung, so daß die Textur ihren endgültigen Abschluß verwehrt. Die Untersuchungen erwecken den Eindruck einer losen Sammlung von Überlegungen und Beispielen, die - obzwar präzise komponiert -, ihrer inneren Notwendigkeit entbehren und nach einer Fortsetzung ersuchen. Das gilt für den Tractatus so nicht. Satz 7 scheint ihn definitiv abzuschließen und keinen Weg - außer dem Schweigen und den Übergang zur ethischen Tat - offenzulassen. Anders als die dialogischen Philosophischen Untersuchungen handelt es sich um diskontinuierliche Setzungen, deren Gliederung konzentrischen Kreisen ähneln, die ihre Tiefe fortwährend vergrößern, indem sie sich gleichsam in der Mitte zusammenziehen: Von der Beziehung zwischen Tatsache und Welt zum Verhältnis zwischen Gedanke und Sachverhalt, vom im Satz ausgedrückten Gedanken bis zum Elementarsatz und seinen Wahrheitsfunktionen. Doch gibt es am Ende dieser Klärungsarbeit einen plötzlichen, unmotiviert scheinenden Themenwechsel, der unversehens ins Metaphysische umschlägt und zu den großen Themen der Ethik, Ästhetik und des Mystischen überleitet - Erwägungen, die eher hastig und aperçuhaft zusammengestellt wirken, um zum Schluß mit der Gebärde der Selbstverwerfung in ein grandioses Paradox zu münden, das nicht nur sämtliche Sätze und das ganze Unternehmen, sondern gleichermaßen alle Philosophie ans Ende bringt, indem es sie einem generellen Unsinnigkeitsverdacht aussetzt. Der Schlußpunkt hat entsprechend etwas Fatales, etwas Nichtfortsetzbares: Er atmet, wie die übrigen Sentenzen der Abhandlung, das gleiche autoritative Dogma der Verfügung, das von weit her zu kommen scheint: Hier verkündet jemand letzte Wahrheiten - ganz im Gegensatz zu den Untersuchungen, die lediglich aufzuweisen suchen - zu fragen, zu zeigen oder mittels "Erfindung von Beispielen" den Leser als Gesprächspartner in diese oder jene Richtung zu lenken.

    2.

    Das Autoritative der Verfügung demonstriert zunächst den Setzungscharakter des Tractatus. Jeder einzelne Satz erscheint, wie aus Stein gemeißelt, unverrückbar, endgültig. Die Nichtlinearität der Schreibweise macht ihn innerhalb des Textes zum Ereignis. Das stilistische Mittel der Abhandlung beruht so auf dem Ereignis der Setzung. Jede Setzung bildet einen "Einsatz": Sie markiert einen Anfang, einen "Ur-Sprung", wovon Lévinas treffend gesagt hat, daß er in seinem zeitlichen Modus "Augenblick" sei, der "nur auf sich selbst verweist": "(D)ie Setzung ist das eigentliche Ereignis des Augenblicks qua Gegenwart." (Lévinas, 1997, 87, 89) Sie stellt sich außerhalb der Tradition. Die Diskontinuität der Reihung macht dann aus jedem Satz einen Akt, eine Tat, die ihn von jedem anderen Satz, jeder anderen Tat unterscheidet. Sprechen bedeutet: Anfangen, d.h. Ein-setzen, die mit jedem Akt der Setzung die Sprache als Ordnung zugleich aufruft und zerschneidet. Die Numerierung markiert darum nicht in erster Linie eine logische Struktur, sondern das Prinzip der Schnitts, des Unterschieds.

    Der Stil der Ausführungen folgt der Attitüde der Differenz. Sie betont jede Setzung als einzig, einmalig und singulär. Zwischen den einzelnen Aussagen klafft entsprechend eine Distanz, eine Lücke. Der Tractatus enthüllt diese Kluft: Er weist sie auf, indem er Übergänge, Gründe oder syntaktische Verkettungen verweigert. Seinem Stil eignet mithin eine Weise des Zeigens: Das Zeigen der Setzung als Differenz. Im Zusammenspiel von Stil und Aussage des Tractatus geht so bereits die für die Sprachphilosophie Wittgensteins maßgebliche Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen ein, wie ich sie in einem Beitrag vor zwei Jahren auszubuchstabieren versucht habe. (Mersch 1999, 40-46) Danach sagt ein Satz nicht nur etwas, er hat nicht nur einen propositionalen Gehalt; er zeigt in seinem Sagen seine Darstellungsweise: "Er weist sie auf". (Trac. 4.121) Der Sprache inhäriert diese Duplizität von Bedeuten und Struktur, von Inhalt und "logischer Form". Beide sind miteinander verwoben: Indem die Sprache spricht, offenbart sie sich; sie stellt sich im Sprechen selbst aus, doch so, daß sie ihre Form nicht mitsagen kann: Sie bleibt ihr - unaussprechlich - mitgängig. Der entscheidende Gedanke ist, daß der Satz seine "logische Form" performiert, ohne ihn zu explizieren. So spricht jeder Satz von oder über etwas, aber er sagt nicht, wie er spricht. Dann besteht zwischen Sagen und Zeigen ein Hiatus, ein Riß, der nicht wiederum im Sagen auflösbar ist. Deswegen heißt es auch: "Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden". (Trac. 4.1212) Anders ausgedrückt: Für die Sprache ist mit jeder Äußerung eine unaufhebbare Spaltung konstitutiv. Die Proposition, die Aussage, der Inhalt eines Satzes oder das Semantische sind eines; ein anderes deren Performanz, die Art und Weise ihres Ausdrucks, der Stil, das Ästhetische: Diese zeigen sich. Dabei kann die Sprache nicht umhin, sich im Sprechen zu enthüllen - und in der Weise ihrer Selbstenthüllung manifestiert sich die Irreduzibilität des Stils.

    Ähnliches hatte Jean François Lyotard seinem Entwurf einer Sprachphilosophie, die sich in wesentlichen Teilen sich Wittgenstein beruft, und zwar sowohl auf den Tractatus als auch auf die Sprachspielkonzeption der späteren Untersuchungen, zugrundegelegt. In den Streitgesprächen, Sätze bilden 'nach Auschwitz' heißt es: "Ein Satz stellt ein Universum dar. Was immer seine Form sein mag, er führt ein 'Es gibt' mit, das in der Form des Satzes markiert ist oder auch nicht. Was ein Satz mitführt ist, was er darstellt. (...) Die Darstellung ist, daß es ein Universum gibt. Es gibt so viele Universen wie Sätze, so viele Situationen der Instanzen wie Formen der Satz-Universen, d.h. Formen der Sätze. (...) Die in einem Satz mitgeführte Darstellung wird nicht in dem von ihm dargestellten Universum dargestellt, ein anderer Satz kann sie darstellen, doch führt dieser wiederum eine Darstellung mit, die er nicht darstellt." (Lyotard 1997, 32, 33) Dies läßt sich mit Rücksicht auf die performative Struktur der Sprache auch so ausdrücken: Jeder Satz verbirgt, was er tut; er sperrt sich der Explikation seiner performativen Rolle, weil die Performanz erst seine Intentionalität konstituiert, nicht umgekehrt. Der Schluß bietet die genaue Inversion jener Theorie sprachlicher Performanz, wie sie Searle, Apel und Habermas von Austin her entwickelt haben. Dort wird die Performativität einer Äußerung wesentlich aus der Illokution gelesen, die, wie ich es wiederum in einem anderen Vortrag zu entwickeln versucht habe, sowohl Identität als auch Intentionalität voraussetzt: Wir verfügen, während wir sprechen, über das, was wir dabei tun. (Mersch, 1997, 621-628) Hingegen markiert die Duplizität von Sagen und Zeigen oder von Aussage und Stil ein Unverfügbares in der Sprache: Die Sprache zeigt sich im Sprechen, ohne sich ihres Zeigens eigens bemächtigen zu können: Das Zeigen geschieht. Sie ist darum, wie Heidegger es ausgedrückt hat: eine "Zeige". (Heidegger, 1975, 253)

    3.

    Um Umstand inhäriert indessen eine doppelte Kontur. Sie läßt sich erneut nach dem Schema von Sagen und Zeigen unterteilen: Zeigen des Sagens und Zeigen des Zeigens. Erstere betrifft die Selbstenthüllung der Struktur der Sprache, das System ihrer Referenz oder die "logische Form" in der Rede, letztere ihrer Performativität als Rede. Es gibt die Sprache als Weltverhältnis und als Selbstverhältnis; diese meint ihre Ordnung, jene ihre Praxis, ihren Vollzug. Zwar verläßt diese Bestimmung das Vokabular des Tractatus, doch kommt sie bei Wittgenstein durch die nochmalige Unterscheidung zwischen Zeigen und Sichzeigen zum Ausdruck. Die Äquivokationen der Bedeutung von "Zeigen" im Tractatus ist diesem doppelten Gebrauch geschuldet: Einerseits gibt es ein transitives Zeigen, ein Zeigen von "etwas": der Verweis auf die Abbildstruktur der Sprache, ihre Isomorphie; andererseits kennt Wittgenstein auch eine intransitive Verwendung von "Zeigen", ein Zeigen ohne "etwas", vielmehr ein Selbstverweis des Sprechens auf sich, seine Performanz, seine Ästhetik. Es weist ins "Mystische" -es ereignet sich. (Trac, 6.522) Beschrieben wird so jener weite Bereich, der ebenso Ethik und Ästhetik umspannt, wie das "Daß" von Sprache und Welt. (Trac, 6.44; auch Mersch, 2001) Es berührt deren "Wunder" (thaumaton). Das Wunder der Sprache ist das Sprechen, das Ereignis der Setzung als ihrer performativen Struktur. Es beruht auf der Prozessierung von Differenzen. Sie macht aus jedem Satz ein Ereignis. Der Stil des Tractatus stellt dieses fortwährende Ereignen zur Schau.

    Desgleichen hatte wiederum Lyotard im Widerstreit ausgeführt: "Ein Satz 'geschieht'". (Lyotard, 1989, 10) In Opposition zu den Grundlinien des Strukturalismus wird das Zeichen, die Artikulation der Bedeutung nicht von der Wiederholung, sondern von deren Ereignischarakter her gefaßt: "Ein Satz ist ein Ereignis, ein Fall, a token." (Lyotard, 1997, 32) D.h.: "Es gibt nur einen Satz 'auf einmal', (...) nur ein einziges aktuelles 'Mal'." (Lyotard, 1989, 227) Das "Nur-Einmal", die Einzigkeit, das "singulare tantum" der Setzung, das gleichermaßen Heidegger mit dem Ausdruck "Ereignis" assoziierte (Heidegger, 1978, 25), wirft freilich die Frage nach der Möglichkeit von Übergang und Fortschreibung auf. Tangiert ist so das "Anschlußproblem", wie es ebenfalls für Luhmann zentral war, das bei Lyotard aber eine ganz andere Wendung erfahren hat, weil es immer zugleich auch das Problem der Unterbrechung tangiert. Denn es ist keineswegs so, daß es stets nur eine Serie von Anschlüssen gibt; vielmehr diskontinuiert der Anschluß in jedem Augenblick das Fortgesetzte, unterbricht das zugehörige System. Dem entspricht die Feststellung, daß die Setzung eines Satzes als Anfang die Sprache ebenso voraus-setzt, wie sie sie spaltet. Es handelt sich nicht nur um eine gleitende Transformation, sondern um eine "Unübersetzbarkeit", die gestattet, von divergierenden Bewegungen zu sprechen, welche miteinander in "Widerstreit", in Aus-einander-setzung, wie Heidegger das Wort zerlegt hat, geraten können, ohne daß ihr polemos durch eine Begründung befriedet werden könnte. Folglich heißt einen Satz auf einen anderen folgen lassen, zwischen beiden eine Lücke, eine Differenz entstehen zu lassen. Jede Verkettung schließt diese Differenz mit ein. Deswegen sagt Lyotard auch, daß die Sprache "zwischen den Sätzen auf dem Spiel steh(t)" (Lyotard 1987, 11): Sie bleibt ständig prekär: Nicht nur ihr Ein-Satz, ihr Anfangenkönnen, sondern auch ihre Fortführung, ihre Fort-Setzung erscheint jederzeit problematisch. Der Tractatus zeigt in seiner besonderen Darstellungsweise, was jeweils "auf dem Spiel steht".

    Beglaubigt wird damit zugleich die Unüberwindlichkeit der Differenz: Jede Fort-Setzung ist schon Setzung, mithin selbst Ereignis. Nichts anderes hatte im übrigen gleichsam von einem anderen Ort her - Derrida in Signatur Ereignis Kontext auf die Formel der "Iteration" als "Alteration" gebracht: Alle Wiederholung unterliegt als Wieder-Holung in einem anderen Kontext bereits einer grundlegenden Verschiebung: Die Zeichen fluktuieren im Gebrauch. (Derrida 1999, 333) Die Weise ihrer Fluktuation ist nicht markierbar: Sie verharrt im Unterschied. Setzung als Differenz demonstriert dann, daß es im Grunde keinen kausalen oder notwendigen Übergang gibt; daß sich jede Fortsetzung allererst dieses Unterschieds verdankt, daß er der Kluft des "Unter-Schieds" (Heidegger), der "différance" (Derrida) entspringt.

    Entsprechend basiert die Verbindung zwischen Sätzen auf keiner "logischen" oder rationalen Verknüpfung: Die Sprache funktioniert nicht als Schluß, als Syllogismus, vielmehr beruht sie auf Abbreviaturen, Enthymemen, Figuren. Wäre sie ausschließlich logischer Art, wäre sie keine Sprache mehr: Die Logizität der Verkettungen machte aus ihr eine Mathematik, eine Syntax. Ebensowenig läßt sie sich aber auf rhetorische Prinzipien zurückführen: Diese postulieren gerade die Möglichkeit einer "Anschlußfähigkeit", die sich gewisser Regeln oder Tropen bedient, die es zu begründen, zu klassifizieren oder zu kodifizieren gilt. Treffend bezeichnete deshalb Roland Barthes die Praktiken antiker Rhetorik als eine "Maschine", ein "'Programm' zur Diskurserzeugung" (Barthes, 1988, 19): Es unterstellt noch das Kontinuum sprachlicher Performanz. Wittgensteins Technik der Setzung weist dagegen auf anderes: Die Übergänge zwischen den Sätzen oder Sprechakten fußen nicht auf Fortsetzungen, sondern auf Sprüngen. Der Sprung bedeutet immer einen Dissens, einen grundlegenden Bruch mit dem Vorangehenden. Der Stil des Tractatus legt solche Sprünge offen. Er macht das Diskontinuum inmitten des Diskurses durch die Gleich-Gültigkeit der Ziffernfolge sichtbar - nicht nur als die negative Anzeige einer Unmöglichkeit diskursiver Verkettung, sondern als Aufweis von Differenz als Quelle jeden Sprechens.

    4.

    Indem jeder Satz "geschieht", wie Lyotard gesagt hat, bildet er gleichzeitig ein eigenes "Universum aus Referent, Sender, Empfänger, Sinn". (Lyotard, 1997, 32) Nicht relevant ist die Stichhaltigkeit der Termini; vielmehr schreibt die These jeder Äußerung eine absolute Singularität zu, die sie von jeder anderen abtrennt. Der Gedanke verweist auf die spezifisch jüdische Namenstheorie, deren Bedeutung auch für Wittgenstein unterstellt werden darf: In jedem Satzzeichen steckt etwas von einem "Eigennamen", der ihm seine Einzigartigkeit sichert - eine Operation, die keineswegs nur für Elementarsätze gilt. Auch dies wird bei Wittgenstein durch die Strategie der Numerierung angedeutet: Zwar erhält nicht jeder Satz eine eigene Ziffer, doch so, daß es überall eine Leitbestimmung gibt, der manchmal Erläuterungen folgen, die rudimentäre argumentative Strukturen entstehen lassen, die gleichwohl von den folgenden numerierten Passagen wieder zäsuriert werden. Der Tractatus, seine lesbare Form, wird von diesen Zäsuren durchschnitten. Sie zwingen den Leser selbst zu Sprüngen. Die Zäsuren und Sprünge gehören dabei mit zur Abhandlung. Nicht nur geht der Text im Gesagten auf, sondern er besteht gewissermaßen zu gleichen Teilen aus Sätzen und Leeren: Sprache und Nichtsprache. Man könnte sagen: Der Tractatus enthält ebenso viele Sätze wie Nichtsätze, wie Lücken, wie Schweigen; das Buch ist nach der Ordnung von Satz und Nicht-Satz bzw. Sprache und Nichts organisiert, und zwar so, daß jede Sentenz von der Leere, dem Zwischenraum zwischen ihnen zerteilt wird. Anders gesagt: Indem der Tractatus die Übergänglichkeit, die Sequenzierung der Sätze zurückweist, betont er zwischen den einzelnen Sentenzen den Unter-Schied - mithin das Nichts, das die Sätze ebenso trennt wie ordnet. Die Lücken zwischen den Abschnitten sind - Chiffren von Setzung und Differenz - Elemente des Diskurses: Sie bilden nicht das Produkt der Rede, sondern den Ort ihres Herkommens. Man könnte darum pointieren: Der Tractatus mündet nicht nur in Schweigen; er ist gleichsam überall umhüllt oder durchdrungen von Schweigen: Er spricht aus dem Schweigen zwischen den Sätzen.

    Wie ist das zu verstehen? Der Ausgangspunkt bildet die Gleichursprünglichkeit von Sprache und Schweigen. Die Sprache geht aus dem Schweigen, dem Nichts hervor. Die Sprache spricht von ihm her; sie ent-springt ihm. Das Schweigen besteht dann nicht in der Abwesenheit von Worten - das hieße, vom Wort her zu denken und den Ausdruck, das Gesagte zu privilegieren. Dagegen bedeutet vom Schweigen her zu die Sprache zu erfassen, sie als Ereignen zu denken: Die Leere, die Differenz, die zwischen den Sätzen klafft, läßt ihr Ereignis erst zu. Sie ist - buchstäblich als Da-zwischen - die Bedingung der Möglichkeit der Rede. Man könnte sagen: Der Stil des Tractatus entspricht dieser Gleichursprünglichkeit von Sprechen und Schweigen. Die Abhandlung "performiert" ihren Inhalt. Ihr Stil bringt diese Identität zum Ausdruck: Daher die "Form" der Form, ihre besondere Schönheit.

    Einmal mehr ergibt sich darüber hinaus ein weiterer Hinweis auf die unzähligen Konvergenzen zwischen Heidegger und Wittgenstein. Dieser schreibt über das "Wesen" der Sprache, sie sei das "Geläut der Stille". (Heidegger, 1975, 30) Die Formulierung ist wörtlich zu lesen: Die Stille geht dem Sprechen, dem "Verlauten" voraus. Sie trägt die Rede als Ereignen - im Sinne eines Verbums - aus. Im Schweigen hat daher die Sprache ihr eigentlich produktives Moment. Dasselbe gilt für Wittgenstein: Die Schlußsentenz, die vom Schweigen spricht, rückt dieses in eine Exklusivität, von der nicht nur die ethische Tat ihren Ausgang nimmt, sondern auch der Tractatus selbst zu seinem Anfang zurückkehrt: Ihm wird eine positive Rolle zugemessen. Vom Ende der Abhandlung her erhellt sich dann erst seine spezifische Struktur, seine Schreibweise. Nicht der Sinn ist entscheidend, sondern sein Ereignen - eine Position, die gleichermaßen wiederum mit der Haltung Lyotards koinzidiert: "Das Schweigen als Satz. Die Erwartung des Geschieht es? als Schweigen." (Lyotard 1987, 125)

    Zitierte Arbeiten

    1. Barthes, R., 1988, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M: Suhrkamp
    2. Derrida, J., 1999, Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen, 2. überarb. Aufl.
    3. Heidegger, M, 1975, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen: Neske 5. Aufl.
    4. Heidegger, M, 1978, Identität und Differenz, Pfullingen: Neske 6. Aufl.
    5. Lévinas, E., 1997, Vom Sein und Seienden, München: Alber
    6. Lyotard, J.-F., 1997, Streitgespräche oder: Sätze bilden 'nach Auschwitz', in: Elisabeth Weber, Georg Christoph Tholen (Hsg.), Das Vergessene, Wien: Turia + Kant, S. 18-50
    7. Lyotard, J.-F., 1989, Der Widerstreit, München: Fink 2. korrig. Aufl.
    8. Mersch, D., 1999, Wittgenstein über Sagen und Zeigen, in: Metaphysik im postmetaphysischen Zeitalter. Beiträge zum 22. Internationalen Wittgenstein Symposium, Kirchberg, S. 40-46. Erweiterte Fassung: Mersch, Das Sagbare und das Zeigbare. Wittgensteins frühe Theorie einer Duplizität im Symbolischen, in: Prima Philosophia Bd. 12, Hft 4 (1999), S. 85-94; wiederabgedruckt in: Ludwig Wittgenstein, Denker des 20. Jh. Bd. 6, Cuxhaven, Dartfort: Junghans 2000, S. 125-134
    9. Mersch, D., 1997, Kommunikative Identitäten und performative Differenzen. Einige Bemerkungen zu Habermas' Theorie der kommunikativen Rationalität. In: Preproceedings of the 20th International Wittgenstein-Symposium, Kirchberg, S. 621-628
    10. Mersch, D., 2001, 'Es gibt allerdings Unaussprechliches ...' - Wittgensteins Ethik des Zeigens. In: Ulrich Arnswald, Anja Weiberg (Hsg), Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Ethik und Mystik, Düsseldorf: Parerga
    11. Wittgenstein, L., 1989, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/M: Suhrkamp
    Dieter Mersch. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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