Abstract
Der Beitrag vertritt 5 Thesen: 1. Wittgensteins Philosophie hat im Spätherbst 1936 einen radikalen Wandel durchgemacht. 2. Die von Wittgenstein im Spätherbst 1936 vollzogene Wende kann sinnvoll als Wende vom "Buchkonzept" zum "Albumkonzept" charakterisiert werden. 3. Die 1936 entwickelte Albumform der Untersuchungen war von Wittgenstein gewollt und wurde von ihm als die seinem Werk adäquate Form angesehen. 4. Die Philosophischen Untersuchungen wurden 1936 teilweise als ein philosophisches Streitgespräch mit mehreren Stimmen konzipiert. 5. Die Frage der "richtigen" Lesart der Untersuchungen ist eine Frage des Interesses an den Untersuchungen.
Table of contents
- 1. Wittgensteins Philosophie hat im Spätherbst 1936 einen radikalen Wandel durchgemacht.
- 2. Die von Wittgenstein im Spätherbst 1936 vollzogene Wende kann sinnvoll als Wende vom "Buchkonzept" zum "Albumkonzept" charakterisiert werden.
- 3. Die 1936 entwickelte Albumform der Untersuchungen war von Wittgenstein gewollt und wurde von ihm als die seinem Werk adäquate Form angesehen.
- 4. Die Philosophischen Untersuchungen wurden 1936 teilweise als ein philosophisches Streitgespräch mit mehreren Stimmen konzipiert.
- 5. Die Frage der "richtigen" Lesart der Untersuchungen ist eine Frage des Interesses an den Untersuchungen.
1. Wittgensteins Philosophie hat im Spätherbst 1936 einen radikalen Wandel durchgemacht.
Es gibt die Ansicht, dass Wittgensteins Philosophie 1936 einen Wandel durchgemacht hat, und diese Ansicht ist schon alt. Spätestens 1966 wurde sie von George Pitcher ausdrücklich formuliert, der vier Phasen in Wittgensteins philosophischer Entwicklung unterscheidet: "Tractatus period" 1913-1929; "Transitional period" 1929-1935; "¨Investigations period" 1936-1951; "Later philosophy of mathematics" 1936-1944 (1966: Wittgenstein. The Philosophical Investigations, S.v-vi). In der nachfolgenden Wittgensteinliteratur ist diese Auffassung aber unter Beschuss geraten und man hat u.a. damit begonnen, die Wende zur "Spätphilosophie" und auch zur "Investigation period" mehr und mehr vorzudatieren und den Neubeginn von 1936 nur noch als weiteres Glied einer bereits früher vollzogenen Wende zu sehen (z.B. Hintikka 1986: Investigating Wittgenstein und Kienzler 1997: Wittgensteins Wende). Ich vertrete nun die These, dass Wittgensteins Philosophie im Jahre 1936 nicht nur einen wichtigen Wandel durchgemacht hat, sondern dass damals eine derart radikale Wende stattgefunden hat, dass sie in ihrem Charakter und Einfluss in der gesamten philosophischen Entwicklung Wittgensteins einzigartig ist. Die von mir angesprochene Wende passiert mit dem textund formgenetischen Übergang vom Braunen Buch zu den Philosophischen Untersuchungen, und fällt also mit dem Beginn an den Philosophischen Untersuchungen zusammen. Die These, dass die Untersuchungen im Spätherbst 1936 begonnen wurden, ist durchaus verträglich mit der inzwischen allgemein akzeptierten These, dass die einzelnen Bemerkungen der Untersuchungen z.T. schon viel früher entstanden sind.
Ich will im folgenden zu zeigen versuchen, dass es richtig ist, den Beginn der Philosophischen Untersuchungen 1936 anzusetzen, und dass es richtig ist, diesen Beginn als die eigentliche Wende zu Wittgensteins Spätphilosophie anzusehen; die These, dass die Bemerkungen der Untersuchungen schon ab 1929 entstanden sind, werde ich darin einordnen. Der Ausgangspunkt für mein Vorhaben ist folgende Stelle aus einem der ersten Untersuchungen-Vorwortentwürfe: "Ich beginne diese Veröffentlichung mit dem Fragment meines letzten Versuchs, meine philosophischen Gedanken in eine Reihe zu ordnen. Dies Fragment hat vielleicht den Vorzug, verhältnismässig leicht einen Begriff von meiner Methode vermitteln zu können. Diesem Fragment will ich eine Masse von Bemerkungen in mehr oder weniger loser Anordnung folgen lassen." (Ts225, August 1938) Die zitierte Stelle ist der sprachliche Schlüssel zum Faktum, dass im Spätherbst 1936 - genau gesagt: beim Übergang von der deutschen Umarbeitung des Brown Book (im zweiten Teil von Ms115) zu der Manuskriptversion des ersten Teils der Frühversion der Untersuchungen (Ms142 Anfang) November 1936 etwas passiert ist, was die Bezeichnung "radikale Wende" verdient. Das Fragment, von dem Wittgenstein spricht, ist der Text ebendieses Ms142 (November 1936 - Frühjahr 1937) oder seiner maschinengeschriebenen Fassung Ts220 (diktiert im Sommer 1937); mit der "Masse von Bemerkungen in mehr oder weniger loser Anordnung" meint Wittgenstein den Text von Ts221. Der Text von Ms142/Ts220 ist ein "Fragment" vom letzen von Wittgenstein veranstalteten Versuch einer linearen Anordnung der ab 1929 entwickelten Gedanken. Bei dem "letzten Versuch" handelt es sich meiner Auffassung nach (Pichler 2000: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album) um nichts anderes als die schon oben genannte Ende August 1936 begonnene und Anfang November 1936 abgebrochene deutsche Umarbeitung des Brown Book. Die radikale Wende, von der ich spreche, ist die Wende von diesem "letzten Versuch" zum "Fragment"; ich habe für diese Wende die Bezeichnung "Wende vom Buch zum Album" gewählt.
2. Die von Wittgenstein im Spätherbst 1936 vollzogene Wende kann sinnvoll als Wende vom "Buchkonzept" zum "Albumkonzept" charakterisiert werden.
Es ist einigermaßen akzeptiert, dass Wittgenstein spätestens ab dem November 1930 das Vorhaben hatte, ein - nach dem Tractatus - zweites Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. Ich vertrete die Auffassung, dass dieses Projekt bis zum Spätherbst 1936 als ein "Buchprojekt" nach weitgehend traditionellem Muster konzipiert war, dass es aber 1936 bewusst zu einem "Albumprojekt" umgestaltet wurde. Wittgensteins "Buchprojekt" hatte zum Ziel, die Ergebnisse seiner philosophischen Arbeit und die dazugehörenden Argumente in einer linearen und kohärenten Weise in einem Buch zusammenzufassen und damit dem Benutzer so etwas wie einen philosophischen Baedeker in die Hand zu geben. Hauptstufen des Buchprojekts waren die Arbeit an den Philosophischen Bemerkungen, am Big Typescript und am Brown Book; Höhepunkt und zugleich Schlusspunkt war die deutsche Umarbeitung des englischen Brown Book im zweiten Teil von Ms115. Diese Umarbeitung kann man nicht anders denn als einen gelungenen Versuch ansehen, das Konzept einer linearen und kohärenten Darstellung der Wittgensteinschen Ansichten in die Tat umzusetzen, und damit als einen gelungen Versuch, das Buchprojekt auszuführen, indem Wittgenstein es unternimmt, in einer linear vom Einfachen zum Komplexen fortschreitenden und stark anaphorisch arbeitenden Entwicklung von "Sprachspielen" nach und nach das Ganze unserer Sprache vorzuführen.
Das Brown Book stand unter der Leitidee von linearem Erkenntniszuwachs und verfuhr gemäß der Auffassung: "We see that we can build up the complicated forms from the primitive ones by gradually adding new forms." (The Blue and Brown Books 1969:S.17). Tatsache ist aber, dass gerade dieses Projekt von Wittgenstein im Spätherbst 1936 ausdrücklich verworfen wird, noch ehe es vollends zu Abschluss gebracht werden konnte: Anfang November 1936 bricht Wittgenstein den "Versuch" in Ms115 abrupt ab und bezeichnet ihn als "nichts wert" (Ms115:S.292) Dann beginnt Wittgenstein jenes Werk, das wir heute als "Philosophische Untersuchungen" kennen. Es ist auffallend, dass bei diesem Neubeginn das Buchprojekt u.a. gerade um jenes Element gestutzt wird, dem es wesentlich seine Linearität und philosophische Kohärenz verdankte: die Sprachspielmethodik. Beim Übergang vom Braunen Buch zu den Philosophischen Untersuchungen entdecken wir also das Abgehen von einem Verfahren, das als eine Hauptingredienz der Wittgensteinschen Spätphilosophie gehandelt wird: Denn gerade die Sprachspielmethodik wurde auf dem Weg zur ersten Fassung der Untersuchungen "fragmentarisiert". "Fragment" ist ein Wort, das Wittgenstein in der Endfassung des Vorwortes nicht mehr gebraucht; dort sagt er stattdessen "Album". Obwohl die "Album"-Bezeichnung also erst später (frühestens 1945) auftritt, scheint es mir nicht falsch, bereits das 1936-37 entstandene "Fragment" als "Album" zu bezeichnen und von dessen Form als einer "Albumform" zu sprechen. Worin diese Albumform genauer besteht, werde ich im folgenden weiter ausführen.
3. Die 1936 entwickelte Albumform der Untersuchungen war von Wittgenstein gewollt und wurde von ihm als die seinem Werk adäquate Form angesehen.
Die Zustimmung zu dieser These ist abhängig von einer bestimmten Deutung des letzten Abschnittes des Vorwortes: "Ich hätte gerne ein gutes Buch hervorgebracht. Es ist nicht so ausgefallen; aber die Zeit ist vorbei, in der es von mir verbessert werden könnte." Wie ist diese Unzufriedenheitsbekundung zu verstehen? Auf die "Album"-Bemerkung bezogen, bieten sich im Grunde folgende vier Deutungsmöglichkeiten an: (1) Die Unzufriedenheitsbekundung ist nicht echt; Wittgenstein pflegt hier vielmehr den Bescheidenheitstopos. Wittgenstein ist zwar der Auffassung, dass sein Buch "nur ein Album" ist, ist damit aber völlig zufrieden. (2) Die Unzufriedenheitsbekundung ist nicht echt; Wittgenstein pflegt hier vielmehr den Bescheidenheitstopos. Wittgenstein ist tatsächlich der Auffassung, dass sein Buch mehr als "nur ein Album" ist und einen Text mit linear-argumentativem und systematischem Charakter enthält. (3) Wittgensteins Unzufriedenheitsbekundung ist echt; der Grund für Wittgensteins Unzufriedenheit ist die negative Bewertung, dass das Buch "nur ein Album" ist. Tatsächlich handelt es sich aber dabei um eine falsche Einschätzung Wittgensteins, denn das Buch ist mehr als "nur ein Album". (4) Wittgensteins Unzufriedenheitsbekundung ist echt; der Grund für Wittgensteins Unzufriedenheit ist der, dass das Buch "nur ein Album" ist, was auch tatsächlich der Fall ist. (5) Wittgensteins Unzufriedenheitsbekundung ist echt; der Grund für Wittgensteins Unzufriedenheit ist aber nicht der, dass das Buch "nur ein Album" ist, sondern ein anderer. Sehr populär ist Deutung (4): Wittgenstein sieht den "Album"-Charakter des Buches als ein gerne vermiedenes Übel an, dem leider wegen seiner besonderen Schreibnatur nicht abzuhelfen war; es handelt sich also um ein "personal shortcoming" (Hilmy 1987: The Later Wittgenstein S.22), das mit Inhalt und Methode der Untersuchungen in keinerlei positivem Zusammenhang zu sehen ist. Kurz gesagt: Man tut Wittgenstein und den Untersuchungen einen großen Gefallen, wenn man von ihrem besonderen Stil absieht und versucht, den Text der Untersuchungen in einen Text zu übersetzen, der in seiner Argumentation kohärent und linear ist, und, was damit zusammenhängt, in seinem Inhalt ein System von Thesen aufstellt.
Ich vertrete die Ansicht, dass die Form der Untersuchungen, ihr Albumcharakter, in einem inneren Zusammenhang mit dem Inhalt und der Methode der Untersuchungen steht. Die Auffassung, dass Wittgenstein einer linearen und systematischen Entwicklung und Darstellung von Thesen nicht fähig war, und dass er sich deswegen dazu genötigt sah, mehr oder weniger mit einer Sammlung von Bemerkungen vorlieb zu nehmen, ist nicht richtig. Richtig ist, dass Wittgenstein 1936 einsah, dass sein bisheriges Unternehmen, das sich mit der Buchform verband (und umgekehrt), weder seiner Schreibnatur noch seinem philosophischen Programm angemessen war. Die Albumform war daher nicht nur von der Schreibnatur des Verfassers gefordert, sondern auch von der Natur des Gegenstandes und der Untersuchung: "Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen." (Untersuchungen, Vorwort) Die Untersuchung hatte spätestens seit dem Sommer 1931 undogmatisch sein sollen; tatsächlich war Wittgenstein bisher aber nicht undogmatisch, sondern durchaus dogmatisch verfahren. Er war für bestimmte (wenn auch im Laufe der Zeit verschiedene) Theorien eingetreten und hatte für diesen Zweck bestimmte Argumente entwickelt. Obwohl das "Philosophie"-Kapitel des Big Typescript (1933) sich den Kampf gegen den Dogmatismus auf die Fahnen geschrieben hatte, hatte Wittgenstein selbst Dogmen vertreten. Im Spätherbst 1936 erkannte Wittgenstein, dass sein philosophisches Projekt nicht nur eine epoché verlangte, sondern dass er sich von der auktorialen Erzählerperspektive der Buchform überhaupt verabschieden und sich auf die Rolle des Regisseurs zurückziehen musste. Dafür bot sich die Albumform an, in der die auktoriale Stimme des Autors von einer (im Sinne Bachtins) polyphonen Vielfalt abgelöst ist. Diese Form würde nun auch vom Leser verlangen, "kreuz und quer, nach allen Richtungen hin" zu verfahren, anstatt ihm das Denken zu ersparen (vgl. Untersuchungen, Vorwort). Der Wandel, den Wittgensteins Philosophie und Werk in diesem Zusammenhang 1936 mitgemacht haben, ist im Vergleich mit allen anderen Wandeln der Wittgensteinschen Philosophie derart fundamental, dass er als ein Wandel in der Wittgensteinschen Philosophie verstanden werden muss, welcher frühere "Wenden zur Spätphilosophie" als Wandlungen, die immer noch dem Dogmatismus verbunden blieben, in den Schatten stellt.
Ich schlage damit vor, als Datum des Beginns von Wittgensteins "Spätphilosophie" den Wandel von 1936 anzusehen, der als eine Wende im Sinne der klassischen Skepsis verstanden werden kann: Wittgenstein verbindet sein therapeutisches Programm mit einer pyrrhonischen Darstellung, die an die Stelle des Dogmas die epoché setzt und anstelle Fixierung von Wahrheit die beständige Öffnung des Denkens für die Komplexität der Dinge anstrebt, die fortwährende Suche nach der Wahrheit.
4. Die Philosophischen Untersuchungen wurden 1936 teilweise als ein philosophisches Streitgespräch mit mehreren Stimmen konzipiert.
Ich vertrete die These, dass die Philosophischen Untersuchungen - wenn wir sie im Sinne ihres Verfassers lesen wollen - als ein polyphones Werk zu lesen sind, das, metaphorisch gesprochen, auf einer Bühne vor sich geht, von der sich Wittgenstein auf die Position des Regisseurs zurückgezogen hat, "directing from the wings". Wittgenstein meinte 1948 von sich, er schriebe fast immer "Selbstgespräche" (Vermischte Bemerkungen 1994, 26.12.1948); dies hat auch schon früher gegolten. Der Unterschied zu früher liegt aber darin, dass er bis zum Spätherbst 1936 durchwegs bemüht gewesen war, die verschiedenen Stimmen der philosophischen Selbstgespräche aus der Warte eines olympischen Erzählers im sprachkritisch gereinigten Ausdruck miteinander zu "versöhnen", und dass das Ziel seiner Arbeit nicht die Inszenierung eines offenen und mehrstimmigen philosophischen Gesprächs gewesen war, sondern der autoritative Monolog des Buches. 1936 erklärte Wittgenstein das bisherige Vorhaben als für die von ihm angestrebte philosophische Therapie "nichts wert". Das bedeutete aber nicht, dass das bisher geschaffene Material zu verwerfen war; es galt allerdings, dieses Material in eine neue Form zu gießen. Auf diese Art wurde es Wittgenstein möglich, auf Bemerkungen zurückzugreifen, die entstehungs- und gedankenmmäßig viele Jahre zurücklagen und aus verschiedenen argumentativen Kontexten stammten - um sie eben jetzt als parts eines Dialogs in ein philosophisches Gespräch einzufügen. Die Untersuchungen sind daher u.a. in dem Sinne ein Album, als Wittgenstein in ihnen den Leser durch eine Ausstellung von philosophischen Aufnahmen führt, die zur Respons auffordert und provoziert. Die Aufnahmen, die z.T. von Wittgenstein selbst (es sind auch Tractatus-Aufnahmen dabei) und z.T. von anderen (z.B. Augustinus) stammen, können von sehr verschiedener Form und sehr verschiedenem, z.T. sogar widersprüchlichem, Inhalt sein; hier sind sie wie in einem echten Album zusammengestellt und zueinander in Beziehung gesetzt.
Zu behaupten, dass die Untersuchungen durchgehend oder zumindest teilweise dialogisch strukturiert sind, ist in der Wittgenstein-Forschung nichts Neues. So ist es durchaus üblich, dieses Werk als eine Auseinandersetzung zwischen Wittgenstein und seinem Opponenten zu lesen, wobei man manchmal bereit ist, offen zu lassen, ob jetzt gerade der Opponent oder Wittgenstein das Wort hat (das "Wer-spricht-Problem", Von Savigny 1988: Ein Kommentar für Leser S.1ff). In kritischer Distanz zu dieser Lesart, die den Opponenten leicht zu einem Strohmann und Vertreter nicht haltbarer Ansichten verkommen lässt, kann man die Auseinandersetzung als einen inneren Monolog verstehen und in Wittgenstein selbst hineinverlegen (Binkley 1973: Wittgenstein's Language) oder sagen, dass der "Opponent" auch nichts anderes ist als ein Teil des philosophischen Ichs Wittgensteins (Cavell 1966: "The Availability of Wittgenstein's Later Philosophy"). So kann das Streitgespräch mit Cavell als ein authentischer Wortwechsel zwischen zwei gleichberechtigten "Stimmen" verstanden werden, der Stimme der "Versuchung" ("voice of temptation") und der Stimme der "Zurechtweisung" ("voice of correctness"). Außer Cavells Zwei-Stimmen-Sicht haben die Auffassungen zur dialogischen Struktur der Untersuchungen allgemein aber nicht viel mehr zu bieten als eben die Wittgenstein-Gegner-Struktur, ob der Gegner nun Wittgenstein selber ist oder ein anderer Philosoph, mit dem Wittgenstein eine fiktive Debatte führt. Nicht nur aber ist die Wittgenstein-Gegner-Sicht den Untersuchungen nicht angemessen, sondern auch Cavells Zwei-Stimmen-Sicht greift zu kurz, denn die Gesprächsstruktur der Untersuchungen ist eine polyphone Struktur, die über zwei Stimmen hinausgeht.
5. Die Frage der "richtigen" Lesart der Untersuchungen ist eine Frage des Interesses an den Untersuchungen.
1933 hatte Wittgenstein im Big Typescript festgehalten: "Die Unruhe in der Philosophie kommt daher, dass die Philosophen die Philosophie falsch ansehen, falsch sehen, nämlich gleichsam in (unendliche) Längsstreifen zerlegt, statt in (endliche) Querstreifen. Diese Umstellung der Auffassung macht die grösste Schwierigkeit. Sie wollen also gleichsam den unendlichen Streifen erfassen, und klagen, dass dies nicht Stück für Stück möglich ist. Freilich nicht, wenn man unter einem Stück einen endlosen Längsstreifen versteht. Wohl aber, wenn man einen Querstreifen als ganzes, definitives Stück sieht." (Ts213:S.432f) Mit dem Brown Book wurde die neue Methode der "Querstreifenphilosophie", das Feld der philosophischen Probleme "Stück für Stück" abzugrasen und so jeweils mit einem Erfolgserlebnis und einem vorzeigbaren Tageswerk stoppen zu können, vortrefflichst vorexerziert. Diese Methode war aber der Komplexität des Gegenstandes nicht angemessen; und sie war nicht vereinbar mit der tief verwurzelten Auffassung Wittgensteins, dass es in der Philosophie keine absoluten Haltestellen gibt, von denen man auf "bereits Erledigtes" zurückblicken kann. Die Querstreifenphilosophie wollte linearen Fortschritt und handfeste Resultate und war also dogmatisch; für die Untersuchungen musste diese Methodik daher wieder untergraben und anstatt des Querstreifenverfahrens ein repetitiver Kreuz und Quer-Kurs eingeschlagen werden, der sich nicht scheute, dasselbe Terrain noch einmal aus anderer Perspektive durchzugehen: "Die eine Bewegung baut & ergreift einen Stein um den andern, die andere greift immer wieder nach dem Selben." (Vermischte Bemerkungen 1994, 6.11.1930)
Die Formen der Polyphonie erlaubten es, sowohl philosophische Positionen und Argumente zu bringen, sie mit gegnerischen Stimmen zu kontrastieren und auch wieder zu sabotieren, ohne sich dogmatisch festzulegen zu müssen, als auch Wege zu zeigen, die hinter das Problem zurückführten und an dessen Eingang auch einen Ausweg aufzeigen konnten, ohne damit einen Schlusspunkt setzen zu müssen. Das polyphone Gespräch war auch der natürlichste Ort dafür, eine Untersuchung vorzuführen, die kreuz und quer laufen muss, um eine Therapie durchführen zu können, die kreuz und quer heilen muss.
Wenn es richtig ist, dass die Philosophischen Untersuchungen nicht als ein Text konzipiert sind, der als Ausdruck von dogmatischen Thesen ihres Verfassers Ludwig Wittgenstein zu lesen ist, und wenn es Wittgenstein mit Pyrrhon hielt und im Unterschied zu Dogmatismus und akademischer Skepsis lieber darauf aus war, die Wahrheit in immer neuen Kontexten weiter suchen zu gehen als zu glauben, sie gefunden zu haben, so folgt daraus keineswegs, dass eine auf die Konstruktion von philosophischen Thesen ausgerichtete und daher dogmatische Lesart der Untersuchungen falsch ist. Es folgt lediglich, dass eine dogmatische Lesart nicht im Sinne des Autors der Untersuchungen ist. Wieweit sie dennoch angemessen ist, kann diskutiert werden; jedenfalls scheint sie zumindest solange nicht unangemessen zu sein, als man ein Interesse an systematischer Philosophie hat. Es handelt sich also nicht um ein kognitives Problem, sondern um, wie Wittgenstein sagen würde, "die Schwierigkeit einer Umstellung": "Widerstände des Willens sind zu überwinden" (Ts213:S.406).
[Literatur]
- [Bachtin, Mikhail (1929, 1963, 1984). Problems of Dostoevsky's Poetics. Edited and translated by Caryl Emerson. London/Minneapolis: University of Minnesota Press.]
- [Binkley, Timothy (1973). Wittgenstein's Language. The Hague: Martinus Nijhoff.]
- [Cavell, Stanley (1962, 1966). “The Availability of Wittgenstein's Later Philosophy“. In: Wittgenstein: The Philosophical Investigations: A Collection of Critical Essays. S. 151–185. Hg. von George Pitcher. Garden City (N.Y.): Anchor Books.]
- [Hilmy, Stephen S. (1987). The Later Wittgenstein: The Emergence of a New Philosophical Method. Oxford: Basil Blackwell.]
- [Hintikka, Merill B./Hintikka, Jaakko (1986, 1996). Untersuchungen zu Wittgenstein. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.]
- [Kienzler, Wolfgang (1997). Wittgensteins Wende zu seiner Spätphilosophie 1930–1932: Eine historische und systematische Darstellung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.]
- [Pichler, Alois (2000). Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album. Bergen: University of Bergen Doctoral thesis.]
- [Pitcher, George (hg.) (1966). Wittgenstein: The Philosophical Investigations: A Collection of Critical Essays. Garden City (N.Y.): Anchor Books.]
- [von Savigny, Eike (1988). Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“: Ein Kommentar für Leser, Band 1. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.]
- [Wittgenstein, Ludwig 1953 Philosophical Investigations / Philosophische Untersuchungen. Hg. von G.E.M. Anscombe und R. Rhees, übersetzt von G.E.M. Anscombe. Oxford: Basil Blackwell.]
- [Wittgenstein, Ludwig 1969 Preliminary Studies for the "Philosophical Investigations". Generally Known as The Blue and Brown Books. Second edition. Oxford: Basil Blackwell.]
- [Wittgenstein, Ludwig 1964 Philosophische Bemerkungen. Hg. von Rush Rhees. Oxford: Basil Blackwell.]
- [Wittgenstein, Ludwig 1994 Vermischte Bemerkungen. Hg. von G.H. von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman. Neubearbeitung des Textes durch Alois Pichler. Frankfurt am Main: Suhrkamp.]
- [Wittgenstein, Ludwig 2000 Wittgenstein’s Nachlass: Bergen Electronic Edition. Oxford: Oxford University Press.]
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