Abstract
In unserem Referat wollen wir einige Thesen aus Wittgensteins Tractatus verteidigen, die heute eher unpopulär sind. Wir werden argumentieren, dass die Weise, in der Wittgenstein in seinem Tractatus die Natur der Logik sieht, im Wesentlichen korrekt ist. Die Thesen, die wir verteidigen wollen, sind die folgenden: 1. Die logischen Gesetze bilden einen wesentlichen Teil des Mechanismus, mittels dessen sich die Sprache auf die Welt bezieht. 2. In Zusammenhang damit sind die logischen Gesetze in einem gewissen Sinne nicht "über die Welt". Sie berichten nicht über die Tatsachen, sondern spiegeln die Form wider, in der die Tatsachen abgebildet werden - "die Form der Abbildung". 3. Die Logik ist konsequenterweise in einem philosophisch wichtigen Sinne inhaltlich leer. Sie schliesst keine möglichen Tatsachen (keine Situationen) aus. 4. Indem jedoch die Logik mit keinen Tatsachen in Widerspruch stehen kann, ist sie in einem anderen Sinne doch "über die Welt", und zwar in dem Sinne, dass sie auf jede erdenkliche Welt "passt". Jede Welt muss mit der "logischen Form" übereinstimmen. Die Logik setzt "die Grenzen der Welt".
Table of contents
- 1. Die Auffassung der Logik in Wittgensteins Tractatus
- 2. Synthetisch und analytisch
- 3. Die Struktur der Sprache
- 4. Die logischen Thesen als eine implizite Definition der logischen Zeichen
- 5. Der sprachliche Behaviorismus
- 6. Die informativ leere Interpretation
- 7. Die Grammatik als eine "transzendental" gültige Form der Abbildung
- 8. Mehrsprachigkeit
1. Die Auffassung der Logik in Wittgensteins Tractatus
In unserem Referat wollen wir einige Thesen aus Wittgensteins Tractatus verteidigen, die heute eher unpopulär sind. Wir werden argumentieren, dass die Weise, in der Wittgenstein in seinem Tractatus die Natur der Logik sieht, im Wesentlichen korrekt ist. Die Thesen, die wir verteidigen wollen, sind die folgenden:
1. Die logischen Gesetze bilden einen wesentlichen Teil des Mechanismus, mittels dessen sich die Sprache auf die Welt bezieht.
2. In Zusammenhang damit sind die logischen Gesetze in einem gewissen Sinne nicht "über die Welt". Sie berichten nicht über die Tatsachen, sondern spiegeln die Form wider, in der die Tatsachen abgebildet werden - "die Form der Abbildung".
3. Die Logik ist konsequenterweise in einem philosophisch wichtigen Sinne inhaltlich leer. Sie schliesst keine möglichen Tatsachen (keine Situationen) aus.
4. Indem jedoch die Logik mit keinen Tatsachen in Widerspruch stehen kann, ist sie in einem anderen Sinne doch "über die Welt", und zwar in dem Sinne, dass sie auf jede erdenkliche Welt "passt". Jede Welt muss mit der "logischen Form" übereinstimmen. Die Logik setzt "die Grenzen der Welt".
2. Synthetisch und analytisch
Diese Thesen sind heute, wie gesagt, unpopulär. Prominente Philosophen, wie Tarski (1987) und Quine (1953), haben argumentiert, dass man keine scharfe Grenze zwischen dem Analytischen und Synthetischen ziehen kann. Die Autorität der Logik (und aller Wissenschaften, die wir als analytisch betrachten) erweist sich auf dem Boden dieser Auffasung von pragmatischer Natur. Nicht die einzelnen Sätze, sondern erst die ganzen Theorien werden mit der Erfahrung konfrontiert. Alle Sätze der Theorie können also als im genau gleichen Sinne "empirisch" betrachtet werden. Wenn wir einen Teil einer solchen Theorie isolieren und die dazugehörigen Sätze als "analytisch wahr" bezeichnen, tun wir es nur deswegen, weil es gewisse Thesen gibt, auf die wir nur sehr ungern verzichten würden, und zwar deswegen, weil ein solcher Verzicht eine zu grosse Umstrukturierung unseres ganzen Überzeugungssystems bedeuten würde. Die besten Beispiele für derartige Thesen bilden die logischen und mathematischen Theorien, die praktisch in allen unseren Folgerungen involviert sind. Wir sind geneigt, solche von uns immunisierten Theorien eher als ein formales Gerüst der Wissenschaft, die "von den Tatsachen" handelt, zu betrachten, denn als eine Wissenschaft, die selbst die Tatsachen betrifft. Das ändert aber nichts daran, dass der Unterschied zwischen synthetisch und analytisch ein gradueller und im Grunde ein konventioneller, pragmatisch begründeter Unterschied ist. Auch die Thesen der Logik haben also einen "empirischen Gehalt", so dass sie auf Grund der Erfahrung eines Tages revidiert werden können.
Die Auffassung der Logik, die uns Wittgenstein in seinem Tractatus vorschlägt, widerspricht diesem Bild. Die Logik ist Wittgenstein zufolge nicht "über die Welt". Die Thesen der Logik schliessen keine möglichen Situationen aus und können deshalb durch keine solche Situation falsifiziert werden. Wir versuchen zu zeigen, wie sich diese Auffassung der Logik mit der behavioristischen Theorie des Spracherwerbs, auf die sich die Kritiker des Begriffs der Analytizität stützen, vereinbaren lässt.
3. Die Struktur der Sprache
Stellen wir uns zunächst eine künstlich konstruierte Sprache - wie etwa eine Sprache für die Prädikatenlogik erster Stufe - vor. Eine solche Sprache enthält folgende Elemente:
- A. Syntax:
- 1. Die primitiven Zeichen:
- a. deskriptiven
- b. nicht deskriptiven (logischen).
- 2. Die (metasprachlichen) Formierungsregeln (die rekursive Definition der wohlgeformten Formeln).
- B. Logik:
- 3. Axiome.
- 4. Die (metasprachlichen) Folgerungsregeln.
- C. Interpretation:
- Die durch die Elemente 1.-4. bestimmte Sprache wird interpretiert, d.h. es wird
- 5. ein Universum für die Sprache bestimmt und
- 6. eine Funktion - die sogenannte "Interpretationsfunktion" - festgelegt, die den Elementen von 1.a. Werte relativ zu 5. zuordnet.
Z.B.: einem Namen - einen Gegenstand, einem n-stelligen Prädikat - eine Menge von geordneten n-Tupeln von Gegenständen). - 7. Von einer solchen Definition ausgehend, kann der Wahrheitsbegriff definiert werden:
Beispiel: ein Satz der Form "Fa" ist dann und nur dann wahr in einem Modell, wenn der Gegenstand, der durch die Interpretationsfunktion dem Namen "a" zugeordnet wird, zur Menge gehört, die durch die Interpretationsfunktion dem Prädikat "F" zugeordnet wird. (Vgl. dazu Tarski 1933)
Die Punkte 1.-4. betreffen die Sprache als ein uninterpretiertes (rein syntaktisches) System. Im Rahmen dieses Systems kann man (dank 3 und 4) gewisse Thesen beweisen, die "analytisch" bzw. "tautologisch" genannt werden. Die Interpretation der Sprache muß so durchgeführt werden, dass diese Thesen in jedem Modell wahr sind. Aufgrund der Bedingung, dass die Interpretationsfunktion mit den Punkten 3 und 4 übereinstimmen muß, gelten sie also unabhängig davon, wie die Welt, von der man spricht, beschaffen ist.
4. Die logischen Thesen als eine implizite Definition der logischen Zeichen
Es gibt bekanntlich viele verschiedene logische Systeme. Verschiedenen Philosophen erscheinen verschiedene Intuitionen als "die Wichtigsten". In der klassischen Logik haben wir z.B. das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten: "p ∨ ¬p", in der intuitionistischen Logik gilt es hingegen nicht. Angesichts solcher Diskrepanzen sind grundsätzlich zwei Typen von Erklärungen möglich.
(i) Man kann annehmen, dass die Anhänger der klassischen und der intuitionistischen Logik verschiedene Ansichten bezüglich dessen, was der Gegenstand der Logik ist, haben. Ein klassischer Logiker behauptet, dass von diesem Gegenstand das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten gilt, was ein Intuitionist bestreitet.
(ii) Man kann jedoch auch argumentieren, dass die Anhänger der klassischen und der intuitionistischen Logik die logischen Zeichen (hier Disjunktion "∨" und Negation "¬") in verschiedenen Bedeutungen verwenden. Ein klassischer Logiker versteht unter der Disjunktion und der Negation etwas anderes als ein Intuitionist. (Vgl. dazu Quine 1960, 58f)
Das Wittgensteinsche Modell folgt der Intuition (ii). Nach Wittgenstein können die Anhänger verschiedener logischer Systeme verschiedene Ansichten bezüglich des Gegenstands der Logik schon aus diesem Grund nicht vertreten, weil es keinen solchen Gegenstand gibt. Was sie tatsächlich tun, ist eher, verschiedene Sprachen vorzuschlagen. Die logischen Thesen, die im Rahmen eines bestimmten Systems gelten, sind in Wirklichkeit implizite Definitionen der logischen Zeichen. Die logischen Thesen zeigen, wie die logischen Symbole verstanden werden. Wenn also eines Tages eine logische These ihre Gültigkeit verliert, haben wir es nicht mit einer Änderung der Ansichten, sondern vielmehr mit einer Änderung der Sprache zu tun.
5. Der sprachliche Behaviorismus
Der sprachliche Behaviorismus, so wie wir hier diesen Terminus verstehen wollen, behauptet, dass die Bedeutung unserer Worte sich in den systematischen, konventionell geregelten Weisen des sprachlichen Verhaltens erschöpft. Die Bedeutung der Sprachelemente hängt davon ab, wie wir unsere verbalen Antworten mit den öffentlich beobachtbaren Situationen verbinden.
Wie wir zumindest seit Quine wissen, favorisiert eine solche Theorie eher eine Anti-Wittgensteinsche Auffassung der Logik. Die Analytizität, die man den Thesen der Logik zuschreiben will, hat auf dem Boden des Behaviorismus keinen klaren Sinn, weil der Begriff der Bedeutung, der die Unterscheidung zwischen synthetisch und analytisch legitimieren könnte, keinen klaren Sinn hat.
Bedeutung - behauptet ein Behaviorist - ist etwas, was jeder kompetente Sprecher kennt. Da er aber die Bedeutung nur auf dem Weg über die Verstärkung der "richtigen" verbalen Reaktionen lernen kann, darf die Bedeutung der Termini nichts enthalten, was sich auf diesem Weg nicht manifestieren könnte. Die traurige Tatsache ist nun, dass die einzigen eindeutigen Verbindungen zwischen den beobachtbaren Situationen und den verbalen Antworten höchstens für die einfachsten "Beobachtungssätze" bestehen. (Quine 1960, 32-43) Spätestens wenn wir Satzteile unterscheiden und eine Grammatik konstruieren, tritt eine unvermeidbare behaviorale Unbestimmtheit auf. (Quine 1960, 68-73)
Das Fazit scheint also zu sein, dass wir keinesfalls die Bedeutung solcher Worte wie "oder" und "nicht" so genau kennen können, dass die Entscheidung, ob das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten gilt, auf Grund dieser Bedeutungen getroffen werden kann. Ob dieses Prinzip gilt, hängt davon ab, ob die analytischen Hypothesen, die zu ihm führen, richtig sind - und das ist nicht nur eine empirische Frage, die aufgrund der zusätzlichen Erfahrungsdaten eines Tages anders beantwortet werden kann, sondern eine Frage, die vielleicht überhaupt keine eindeutige Antwort hat. Denn die Unbestimmtheit, von der Quine spricht, soll semantisch und nicht bloß epistemisch sein. (Quine 1960, 73)
6. Die informativ leere Interpretation
Die Verteidigung der Wittgensteinschen Auffassung der Logik, die wir unternehmen wollen, will die These, dass eine Zurückweisung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten auf jeden Fall eine Änderung der Sprache bedeutet, aufrechterhalten. Auf dem Boden des sprachlichen Behaviorismus läßt sich diese Position vertreten, wenn wir uns auf die Tatsache der pragmatischen Immunisierung gewisser Teile der Theorie, die selbst Quine betont, konzentrieren. Die analytischen Sätze sind - argumentiert er - nur in dem Sinne analytisch, dass wir die Entscheidung treffen, eher jede andere, denn eine als "analytisch" eingestufte These zu revidieren.
Nun ist die ganze Interpretation der Sprache gewissermaßen eine Entscheidung, die wir treffen, indem wir die Sprache als Sprache benutzen. Das Phänomen, dass einige Sätze in dieser Weise immunisiert werden, wird also aus diesem Grund in keinem Sinne zu einem Phänomen, das wesentlich subjektiver oder in einem größeren Maße von der Pragmatik der Sprache abhängig ist, als es die ganze Semantik der Sprache ist. Das Phänomen der Analytizität besteht darin, dass wir im Rahmen der Interpretation einen Teil der Sprache isolieren, der sozusagen informativ leer interpretiert wird. Die Interpretation der Sprache ist auf dem Grund des Behaviorismus dadurch bestimmt, wie die Sprache benutzt wird, und die Sätze, die wir als analytisch klassifizieren, werden genau so benutzt, dass sie sich auf keinen Fall in einem Konflikt mit der Wirklichkeit finden können. In diesem Sinne werden sie als informativ leer interpretiert. Keine mögliche Welt kann sie falsifizieren.
Das alles können wir, wie es scheint, ohne Probleme auf dem Boden des Behaviorismus sagen. Wir sprechen, wie es scheint, nur darüber, wie wir gewisse Sprachstrukturen benutzen. Insbesondere brauchen wir den Begriff der Bedeutung nicht.1
Der nächste Schritt würde darin bestehen, dass wir unsere Grammatik und die Regeln der Folgerung so bestimmen, damit diese Entscheidung dadurch legitimiert wird. Das Prinzip des semantischen Holismus wird also dabei nicht verletzt. Die Interpretation, die den analytischen Teil der Theorie immunisiert, muß auf jeden Fall die ganze Sprache betreffen. Um z.B. von einer klassischen zu einer intuitionistischen Logik überzugehen, müssen praktisch in allen semantischen Verbindungen des Sprachsystems mit der Wirklichkeit gewisse subtile Verschiebungen auftreten. In diesem Licht bilden übrigens die Grammatik und die Logik real untrennbare Aspekte eines theoretischen Ganzen, die nur sehr künstlich (und konventionell) auseinander gehalten werden können - genau so, wie es Wittgenstein wollte. Im Folgenden werden wir also diesen ganzen Komplex Grammatik nennen.
7. Die Grammatik als eine "transzendental" gültige Form der Abbildung
Wir wollen behaupten, dass die interpretative Entscheidung, die in die Sprache eine derartige Grammatik einbaut und konsequenterweise einige Sätze als analytisch wahr immunisiert, für die Subjekte von einer endlichen kognitiven Kapazität keine zufällige Tatsache ist. Wir glauben, dass jeder "endliche" Geist, der über eine interpretierte Sprache verfügen will, diese Sprache auf eine solche Weise benutzen muß, dass man in ihr eine solche Grammatik finden kann.
Erstens braucht er einen Mechanismus, der ihm erlaubt, potentiell unendlich viele sinnvolle Weltbeschreibungen zu konstruieren, von denen er zunächst nicht weiß, ob sie richtig sind. Der Begriff der Grammatizität und Widerspruchsfreiheit erledigt diese Aufgabe. Wenn man von der Welt denkt (bzw. spricht), bestimmt man, wie die Welt sein muß, damit der Gedanke (bzw. der Satz) wahr ist. Man schließt einige mögliche Szenarien aus - nämlich diejenigen möglichen Welten, in denen der Satz falsch wäre. Damit das jedoch alles funktionieren kann, muss der Rahmen der Möglichkeit bereits bestehen. Dafür ist eben jener Aspekt der Sprache, den wir (mit Wittgenstein) "Grammatik" genannt haben, verantwortlich.
Noch deutlicher tritt die Notwendigkeit der Grammatik hervor, wenn wir annehmen, dass unser Subjekt ein rationales Subjekt ist. Wenn es in seiner Denktätigkeit nicht nur nach den sinnvollen Gedanken, sondern auch nach der epistemischen Begründung strebt, braucht es nämlich auf jeden Fall gewisse "rationalisierende" bzw. "evidentmachende" Relationen zwischen Beschreibungen, die bestimmte Annahmen als im Licht gewisser anderer Annahmen rational bzw. begründet oder umgekehrt als irrational bzw. widerlegt klassifizieren lassen. Ein rationales Subjekt braucht also eine Logik, unabhängig davon, ob es außer der deduktiven Logik eine "Logik der Induktion" bzw. noch eine andere epistemische Logik, deren Gesetze über diese zwei hinausgehen (vgl. Chisholm 1989), gibt. Wenn unsere Argumentation richtig ist, hat es eine solche Logik zumindest in der Form der als analytisch interpretierten Formeln. Wenn hingegen jede Entscheidung, welche der Formeln revidiert werden sollen, wie es Quine will, empirisch sein muß, dann ist es sehr schwierig zu verstehen, worin die gewünschte empirische Begründung überhaupt bestehen könnte.
Für einen endlichen Geist scheint also eine solche Grammatik eine transzendental notwendige Form zu sein, die jedes Repräsentationssystem, mittels dessen sich der Geist auf die Welt bezieht, beinhalten muß. Da diese Form als informativ leer interpretiert wird, kann sie von der Welt nicht falsifiziert werden. In diesem Sinne ist eine solche Grammatik eine "transzendental gültige" Form der Abbildung - "eine Form der Erfahrung die zugleich eine Form der Erfahrungsgegenstände ist".
Zum Schluß bemerken wir nur, dass wir nicht argumentieren wollen, dass die Logik unveränderlich ist. Es ist klar, dass die Logik modifiziert werden kann. Unseres Erachtens erhält man jedoch ein saubereres Bild, wenn man eine solche Modifikation als eine Modifikation der Sprache interpretiert. Wenn das oben Gesagte im Wesentlichen korrekt ist, kann auch ein sprachlicher Behaviorist dieses Bild akzeptieren.
Eine Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist allerdings, was eigentlich geschieht, wenn wir tatsächlich zu einer anderen Logik übergehen. Behauptet ein Intuitionist, indem er das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten verwirft, nicht doch etwas anderes als ein Anhänger der klassischen Logik. Unsere Antwort ist: Nein! Ein Intuitionist verwendet eine andere Sprache und wenn wir seine Ansichten mit den Ansichten einer Anhänger der klassischen Logik vergleichen wollen, müssen wir zuerst ihre Thesen in dieselbe Sprache übersetzen. Der Satz "p oder nicht-p" ist nun in der klassischen Sprache informativ leer und er darf keineswegs in die intuitionistische Sprache als "p oder nicht-p" übersetzt werden, denn der letzte Satz ist in der intuitionistischen Sprache informativ (er kann sich unter Umständen als falsch erweisen).
8. Mehrsprachigkeit
Eine Konsequenz, die dieses Bild wesentlich kompliziert, ist allerdings, dass auf dem Boden unserer Theorie kaum ein Subjekt seine kognitive Tätigkeit mittels einer einzigen Sprache durchführt. Denn bemerken wir, dass im Rahmen einer Sprache jedes Subjekt gewissermaßen eine logische Unfehlbarkeit besitzt. Wenn es nämlich etwas gegen die Gesetze der Logik spricht oder denkt, hört es auf, diese Gesetze leer zu interpretieren. Es ändert demgemäß seine Grammatik und springt zu einer anderen Sprache über.
Um also unser Bild plausibel zu machen, müssen wir annehmen, dass ein typisches Subjekt in Wirklichkeit immer über ein Bündel von Sprachen verfügt und dass es sich darüber hinaus dieser Tatsache sehr oft völlig unbewußt ist. Typische Subjekte sind Polygloten, ohne das zu wissen. Die sogenannten "logischen Fehler" resultieren aus einer unbewußten Vermengung von mehreren Sprachen. Sie haben also viel kompliziertere Struktur als man gewöhnlich meint. Die epistemische Disziplin, die man während der Logikkurse mehr oder weniger meistert, besteht im Wesentlichen darin, dass man solche Vermengungen zu vermeiden lernt - man versucht, mit anderen Worten, in jeder gegebenen kognitiven Situation nur eine einzige Sprache zu benutzen.
Literatur
- Chisholm, Roderick M. (1989) Theory of Knowledge, 3rd ed. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.
- Quine, Willard V. O. (1953) From a Logical Point of View, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
- Quine, Willard V. O. (1960) Word and Object, Cambridge, Mass.: The MIT Press.
- Tarski, Alfred (1933) Pojecie prawdy w jezykach nauk dedukcyjnych, Warszawa; englische Version in: Tarski 1956, 152-277.
- Tarski, Alfred (1956) Logic, Semantics, Metamathematics. Papers from 1923 to 1938, Oxford: Clarendon Press.
- Tarski, Alfred (1987) "A Philosophical Letter of Alfred Tarski", The Journal of Philosophy, 84 (1987), No 1, 28-32.
- Wittgenstein, Ludwig (1922) Tractatus logico-philosophicus, London: Routledge & Kegan Paul.
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