Zur Eigenart der Rationalität von Aussagen über Gott. Hinweise zur systematischen Auswertung von Kants KrV
Zur Eigenart der Rationalität von Aussagen über Gott.
Hinweise zur systematischen Auswertung von Kants KrV

Abstract

Kants Auffassung der Rede von Gott in KrV kann auf zweierlei Weisen interpretiert werden. Einmal so, dass Kant aufgrund einer Beschränkung der Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung philosophische Gotteslehre aus den Wissenschaften verbannt. Eine zweite Zugangsweise ergibt sich daraus, Kants Auffassung als Begründung einer neuen Art der Rationalität der Rede von Gott zu reflektieren. Ziel vorliegenden Beitrags ist es, KrV dem zweiten Weg entsprechend zu interpretieren. So kann man die Relevanz der KrV für eine systematische Theorie von Aussagen über Gott und eine differenzierende Sichtweise der Rationalität von Gotteslehre und Naturwissenschaften andeuten. Unter drei Gesichtspunkten führe ich das aus: 1) Die unterschiedliche Funktion von Naturwissenschaft und Gotteslehre für eine philosophische Theorie der Erfahrung. 2) Die unterschiedliche formale Struktur und die verschiedenen Methoden der Rechtfertigung von naturwissenschaftlichen Aussagen und Aussagen über Gott. 3) Die Eigenarten von naturwissenschaftlichen („funktionalen“) Erklärungen bzw. („integrativen“) Erklärungen durch Rückgriff auf den Gottesbegriff.

Table of contents

    1. Kants „Gotteslehre“ in der Kritik der Reinen Vernunft (KrV)

    Kants Auffassung der Rede von Gott in KrV kann auf zweierlei Weisen interpretiert werden. So, dass Kant aufgrund einer Beschränkung der Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung philosophische Gotteslehre aus den Wissenschaften verbannt. Eine zweite Zugangsweise ergibt sich daraus, Kants Auffassung als Begründung einer neuen Art der Rationalität der Rede von Gott zu reflektieren. Ziel vorliegenden Beitrags ist es, KrV entsprechend des zweiten Weg zu deuten, und die Relevanz einer solchen Interpretation für eine systematische Gotteslehre anzudeuten. Dazu zwei Vorbemerkungen. Erstens wird es hier nicht möglich sein, die allgemeinen Charakteristika der theoretischen Philosophie Kants, über eine kurze Skizze hinaus, aufzurollen. Ich muss also sehr viel Kant voraussetzen. Zweitens beanspruche ich hier keine Kant-Exese. Ich möchte mit Kant philosophieren, ihn systematisch auswerten, nicht im Original darstellen. „Das hat Kant so nicht gesagt!“ kann also nur bedingt als Einwand gegen meine Überlegungen vorgebracht werden.

    Kants Wende in der Erkenntnistheorie, der zu folge sich unsere Erkenntnis nicht nach Objekten zu richten habe, sondern eben die Objekte nach unserer Erkenntnis, sprich unseren subjektiven Erkenntnisvermögen, bringt die Einschränkung des Gegenstandsbereichs („wissenschaftlicher“) Erkenntnis auf die Erfahrungswelt mit sich. (B XVIIf) Das erkennende Subjekt setzt nicht „Objekte oder Dinge an sich“, sondern gemäß den reinen Formen der Sinnlichkeit und den Kategorien des Verstands aus empirischen Empfindungen Objekte der Erfahrung. Kant gibt allerdings deutlich zu verstehen, dass die damit gegebene Grenzziehung zwischen dem empirischen und dem transempirischen Bereich der Dinge an sich für die Bestimmung des letzteren nicht nur negative, sondern durchaus positive Folgen habe. Er eröffnet eine neue Weise der Rechtfertigung der Rede über diesen Bereich im allgemeinen und über Gott im besonderen (KrV B 395), auch wenn diese nicht durch den (bei Kant sehr engen) Rekurs auf wissenschaftliche Erkenntnis geschieht. Aussagen v.a. über Gott werden nur dann sinnlos, wenn man sie auf derselben Diskursebene wie Urteile ansiedelt, deren Gültigkeitsbereich mit der Welt der Erfahrung beschränkt ist. Kants Unterscheidung zwischen der Welt der Erfahrung und dem transzendenten Bereich führt also keineswegs zum Verzicht auf philosophische Aussagen über den letzteren. Genau das Gegenteil ist der Fall. Seine Kritik trifft vielmehr solche Auffassungen, die nur ein einziges Maß der Rationalität anerkennen. Dies führt in „geschwätzige Seichtigkeit“. Durch eine Untersuchung des Erkenntnisvermögens kann aber, wie Kant sagt, derselben „die Wurzel abgeschnitten werden.“(KrV B XXXIV) KrV kann somit als Versuch gewertet werden, die Rationalität der Rede über Gott von jener (natur-)wissenschaftlicher Untersuchungen abzugrenzen und ihr so einen neuen Stellenwert zu sichern.

    Um dies fortzuführen, müssen wir dem Gottesbegriff der KrV („transzendentales Ideal“, TI) kurz nachgehen. TI ist eine konkretisierte oder „hypostasierte“ Idee. Ideen sind Leitprinzipien der Vernunft, die dazu beitragen, die Vielfalt einzelner Erkenntnisse in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Wie wohl Kant betont, dass TI nicht als Gegenstand der Erfahrung, somit als Erkenntnisobjekt aufgefasst werden dürfe, hebt er seine epistemischen Funktionen hervor. Zwei Aspekte sollen hier angesprochen werden: 1) gilt Kant die Bestimmung eines Gegenstands nur dann als vollständig, wenn von jeder möglichen Eigenschaft geklärt ist, ob sie ihm zukommt oder nicht. Ein Ding muss in Hinsicht auf alle Eigenschaften untersucht werden. Dies setzt aber voraus die Idee eines Alls von Eigenschaften. Die aber entspricht TI, einem „Ding“, dem alle Eigenschaften zukommen, das „omnitudo realitatis“ ist. Somit ist TI Voraussetzung einer vollständigen Gegenstandsbestimmung (KrV B 604). 2) Zur Systematisierung von theoretischen Erkenntnissen sind Ideen im allgemeinen und TI im besonderen unabdingbar. Am ausführlichsten erörtert dies Kant im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“. Dort wird zunächst einmal deutlich, dass der System-Gedanke im Kontext der KrV eine entscheidende Rolle spielt (B 673f). Ohne Systematisierung keine Einheit von Wissen, ohne Einheit kein Zusammenhang einzelner Erkenntnisse, ohne Zusammenhang einzelner Erkenntnisse keine Wissenschaft(, ja nicht einmal einzelne Theorien, verstanden als systematische Verbindung von Erkenntnissen). Und es wird deutlich, dass ohne TI keine Systematisierung von Wissen möglich ist. Und zwar deshalb, weil TI der einzig möglicher Grund eines solchen Systems ist (als „Urgrund systematischer Einheit des Mannigfaltigen im Weltganzen“, siehe B 706). Damit wird TI oder „Gott“ zum Zentralbegriff von Kants Erkenntnistheorie, ohne dass Gott jemals erfahren, erkannt oder Aussagen über ihn Elemente des Systems selbst sein könnten.

    2. Was können wir daraus lernen?

    Kants Lehre kann zu einer differenzierenden Sicht von Wissen bzw. Wissenschaften und zu deren jeweils gesondert zu betrachtender Rechtfertigung führen. Seine „Gotteslehre“ gibt deutliche Hinweise sowohl zur Trennung der einzelnen Wissensbereiche als auch für ihren Dialog, ohne den Anspruch auf Rationalität für einen davon zu reservieren. Dies soll im folgenden unter drei Rücksichten kurz angedeutet werden.

    2.1 „Erfahrung“

    In der KrV wird Erfahrung verstanden als „strukturierte sinnliche Empfindung“. Da aber jene (subjektiven) Strukturen, die Empfindungen im allgemeinen ordnen, jene sind, welche nach Kant die Apriorität, somit die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bedingen, kann man Kants Erfahrungsbegriff auch als „naturwissenschaftlichen“ verstehen. Kant verwendet diesen Begriff strikt univok. Es gibt keinen anderen Erfahrungsbegriff in der KrV. Damit schließt er, aus begrifflichen Gründen, „Gotteserfahrung“ oder „religiöse Erfahrung“ aus.

    Dennoch kann man über diesen („naturwissenschaftlichen“) Erfahrungsbegriff in der KrV wichtige Differenzierungen zwischen den Wissensbereichen Naturwissenschaft und Gotteslehre in den Blick bekommen. Und zwar deshalb, weil jene subjektiven Erkenntnisvermögen, welche für Naturwissenschaft, und jene, die für Gotteslehre maßgeblich sind, für das theoretische Verständnis von Erfahrung unterschiedliche Funktion haben. Der eine Aspekt einer Erfahrungstheorie ist jener der „Konstitution“ von Erfahrung. Wie kommt Erfahrung überhaupt zustande? Wenn man so will, ist dieser Aspekt der Anteil der Naturwissenschaften. Was nämlich nach Kant Erfahrung ermöglicht, sind jene apriorischen Voraussetzungen von Urteilen („Kategorien“, v.a. Kausalität und Wechselwirkung), welche für die Naturwissenschaften eine entscheidende Rolle spielen. Und zwar deshalb, weil sie deren allgemeingültigen („notwendigen“) Charakter ausmachen. So gibt jede naturwissenschaftliche Theorie, bei Kant hauptsächlich die Newtonsche Physik, Aufschluss über die Konstitution von Erfahrung. Und zwar deshalb, weil ihre apriorischen Voraussetzungen, wie gesagt, Erfahrungs-konstitutiv sind. Unsere Empfindungen sind nach apriorischen Voraussetzungen der Newtonschen Mechanik strukturiert. Wir können die Welt gar nicht anders erfahren denn als „Newtonsche“ Welt.

    Aufgabe der Gotteslehre, bzw. jener für sie maßgeblichen subjektiven Vermögen, ist keinesfalls eine Klärung von Erfahrungskonstitution. Ihre Sache ist aber, die Möglichkeit einer Systematisierung von Erfahrungen zu begründen. Diese Systematisierung braucht es, weil wir ohne eine solche „projektierte Einheit“ aller Erfahrung (B 675) auch die systematische Verbindung von Erfahrung, folglich auch von Urteilen über Erfahrungen, nicht verstehen könnten. Unser theoretisches Verstehen von Erfahrung, auch im Sinne von naturwissenschaftlicher Erfahrung, bliebe unvollständig. TI ist aber, aufgrund seiner bereits erwähnten besonderen Funktion als „Urgrund systematischer Einheit alles Mannigfaltigen“, einzig möglicher Grund eines solchen Systems. Somit kommt ihm für das theoretische Verstehen von Erfahrung eine irreduzible, d.h. von den einzelnen Naturwissenschaften nicht zu leistende Funktion zu.

    Die Grundlegung sowohl der Naturwissenschaft als auch der Gotteslehre münden also in eine Theorie der Erfahrung. So gesehen stehen Naturwissenschaft und philosophische Gotteslehre hier in keinem Konkurrenzverhältnis, sondern fungieren als dialogfähige „Partner“ ohne exklusiven Rationalitätsanspruch.

    2.2. Formale Struktur und epistemische Rechtfertigung der Rede von Gott

    Um die formale Struktur und die epistemische Rechtfertigung der Rede von Gott nach KrV in den Blick zu bekommen, möchte ich sie in Kontrast setzen zu Kants Auffassung der Rede über den Bereich der sinnlichen Erfahrung. Grundlegend für letztere ist, dass Erfahrungsurteile formal nach den reinen Verstandesbegriffen („Kategorien“) strukturiert sind. Diese sind Instanzen in unserem Verstand, die, vorab („a priori“) der Anwendung auf sinnliche Empfindungen, die „reine“ Form von Urteilen bedingen. So sind sie logische Voraussetzung dafür, die Vielfalt der sinnlichen Anschauung zur Einheit der Erkenntnis in einem Urteil zu bringen. Für die Naturwissenschaften besonders maßgeblich ist hier die Kategorie der Kausalität (siehe B 106). Die formale Struktur naturwissenschaftlicher Kausalurteile beruht auf diesem Verstandesbegriff, nach dem verschiedene Sinneseindrücke zu Erkenntnissen über kausale Zusammenhänge synthetisiert werden. „Die laufende Billardkugel verursacht den Abprall der ruhenden“ beruht, logisch gesehen, darauf, dass unser Verstand in der Lage ist, bestimmte Eindrücke, etwa zweier Kugeln und der Bewegung, im Sinne einer Kausalrelation zu ordnen. Logische Voraussetzung dieser Ordnung oder dieser Synthesis ist der reine Verstandesbegriff der Kausalität.

    Wie ist das aber mit der Rechtfertigung von solchen Erfahrungsurteilen, z.B. den angesprochenen Kausalurteilen? Kants Augenmerk liegt dabei nicht auf der Frage der Verifikation einzelner Urteile. Das ist Sache der empirischen Einzelwissenschaften. In der philosophischen Erkenntnistheorie geht es vielmehr darum zu zeigen, dass Urteile über Erfahrungszusammenhänge überhaupt allgemeingültig oder „notwendig“ sein können, wie es nach Kant ihre Wissenschaftlichkeit erfordert. Kants Antwortstrategie ist die der transzendentalen Deduktion (B 129-169). Urteile über Erfahrungen sind allgemeingültig, weil jene Instanzen, eben die Kategorien, welche Erfahrungen konstituieren, ihrerseits allgemeingültige, weil apriorische Strukturen dieser Urteile sind. Die Allgemeingültigkeit von Erfahrungsurteilen liegt also in ihren Strukturen, d.h. in ihrer Form begründet. Etwas genauer: Ohne apriorische Strukturen von Erfahrungsurteilen keine Erfahrung. Es gibt aber Erfahrung, also muss es auch apriorische Strukturen von Erfahrungsurteilen geben. Gibt es apriorische Strukturen von Erfahrungsurteilen, so auch allgemeingültige Erfahrungsurteile, weil Apriorität der Strukturen der Erfahrungsurteilen deren Allgemeingültigkeit notwendig bedingt. Warum ist z.B. das Urteil „Immer wenn eine laufende Billardkugel x auf eine ruhende Kugel y trifft, prallt y ab“ allgemeingültig? – Dieses Urteil ist allgemeingültig, weil die Erfahrung der Kugeln und ihrer Bewegung durch eine Kategorie konstituiert ist, die ihrerseits allgemeingültig, weil apriorisch ist.

    Wie können wir aber die Rede von Gott oder vom TI verstehen? Über ihre formale Struktur können wir, ausgehend von KrV, zunächst negative Aussagen machen. Aussagen über Gott sind nicht Sache des Verstandes, wenn wir mit Kant unter „Verstand“ das Vermögen zu urteilen nach Kategorien verstehen. Urteile kann es in Kants Sinn nur über Erfahrungszusammenhänge geben. So gesehen sind Aussagen über Gott auch keine Urteile. Heute würden wir sagen, sie haben nicht die Form deskriptiver Aussagen. (Zu dieser These siehe Muck 1999, u.a. 28ff) Wenn wir die Rede über Gott wie deskriptive Aussagen verstehen, machen wir, so Kant, einen schweren logischen Fehler. Sprechen wir, um bei Kausalität zu bleiben, von Gott z.B. als Ursache der Schöpfung und verstehen diese Aussage im Sinne einer (naturwissenschaftlichen) Kausalaussage, ist das weder wahr noch falsch, sondern aus logischen Gründen sinnlos. Hat die Rede über Gott oder über das TI deshalb überhaupt keine logische Struktur? Ist sie sinnlos? Diesen Schluss kann man nach KrV nicht ziehen. Die Rede über Gott hat nach KrV eine eigene Struktur, eine spezifische „logische Form“ (B 386). Entscheidend ist, dass die Rede über Gott bzw. das TI nicht auf Begriffen des Verstandes, sondern der Vernunft beruht. Sache der Vernunft bzw. von Vernunftbegriffen aber ist es, (syllogistisch) zu schließen (B 386), und, nach bestimmten Regeln, episyllogistische Reihen fortzusetzen. Diese können aber nicht ins Unendliche gehen. Auf diese Weise kommt sie von einzelnen bedingten Erkenntnissen („Prämissen“), entsprechend der Regeln der Vernunft (ihrer „Begriffe“ Seele, Welt, Gott, siehe B 391), auf das Unbedingte. Im Hinblick auf TI eben auf eine „absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt“ (ebd.). Reden wir theoretisch von Gott, sprechen wir also von der Bedingung der Einheit aller Erkenntnisse („Gegenstände des Denkens“). Aber nicht in dem Sinne, dass wir über Gott urteilen. Wir erkennen Gott nicht. Wir sagen nichts von ihm aus. Führen wir Gott in unsere wissenschaftliche Terminologie ein, tun wir das, weil wir annehmen, dass alle Gegenstände unseres Denkens in einer letzten Einheit verbunden sein müssen, z.B. um systematisch erfasst werden zu können.

    Hinsichtlich der Rechtfertigungsproblematik ist zu vermerken, dass Kant durchaus auch davon spricht, Vernunftbegriffe, somit auch TI, hätten „objektive Gültigkeit“ (B 368). Es geht aber auch hier nicht um die Verifikation einzelner Aussagen über Gott. Das mag Sache der Theologie sein. Es geht um eine allgemeine „Deduktion“ von TI. Um eine solche Deduktion zu bekommen, muss man auf die angesprochene epistemische Funktion rekurrieren. Diese liegt, wie gesagt, nicht auf der Konstitution von einzelnen Erkenntnissen, sondern deren Einheit und Ordnung. Aussagen über TI können also insofern epistemisch gerechtfertigt werden, als sie der Funktion von TI in diesem Ordnungsvorgang entsprechen. (In Analogie zu Verstandesbegriffen, die „deduziert“ werden, wenn ihre Funktion für die Urteilskonstitution gezeigt ist). So gesehen ist eine Gotteslehre dann gerechtfertigt, wenn sie berücksichtigt, dass „Gott“, in seiner theoretischen Funktion gesehen, letzte Bedingung der Möglichkeit der Einheit aller Erkenntnisse („Gegenstände des Denkens“) ist. (Zur modernen Diskussion der Eigenart der Verifikation der Rede über Gott: Muck 1999, u.a. 20-25.)

    Wir können festhalten, dass KrV Aufschlüsse darüber erlaubt, inwiefern sich die Struktur von Aussagen über Gott von jenen der Erfahrungsurteile abhebt. Aus dieser Diskrepanz folgt freilich nicht, dass Aussagen über Gott nicht die Form sinnvoller Sätze hätten. Dieser Sinn ist nur anders zu bestimmen. Genauso verhält es sich mit deren Rechtfertigung. Die Sätze einer Gotteslehre sind nicht so zu rechtfertigen wie naturwissenschaftliche Sätze. Daraus folgt nicht, dass sie überhaupt nicht gerechtfertigt werden könnten.

    2.3 Erklärungen durch Rekurs auf Gott

    Als dritten Aspekt möchte ich die Weise, wie man durch Rückgriff auf TI zu Erklärungen kommen kann, ansprechen; und zwar wieder in der Art eines Vergleiches damit, wie man nach KrV naturwissenschaftlich erklärt.

    Hinsichtlich naturwissenschaftlicher Erklärungen ist er’stens zu sagen, dass sie nach Kant auf der Bezugsetzung von Erfahrungen zu Naturgesetzen beruhen. Ich sehe, dass der Apfel vom Baum fällt. Ich erkläre dies daraus, dass Newtons Gravitationsgesetz auf das Verhältnis Apfel – Erde anwendbar ist. Naturwissenschaftliche Erklärungen sind, zweitens, (wenn sie zutreffen, d.h. wenn der Bezug zu einem Naturgesetz tatsächlich gelingt) notwendigerweise wahr, weil Naturgesetze allgemeingültig sind. Warum das so ist, haben wir gesehen: Sie beruhen auf apriorischen Strukturen unseres Verstandes. Und naturwissenschaftliche Erklärungen sind, drittens, (deshalb) prognostisch, in dem Sinne, dass sich der Verlauf natürlicher Ereignisse vorhersagen lässt. Weil Newtons Gesetz gilt, wird dieser Apfel vom Baum zur Erde fallen, sobald sich sein Stiel vom Ast löst. In Zusammenfassung dieser drei Aspekte könnte man naturwissenschaftliche Erklärungen auch (frei nach Muck 1999, u.a. 247) als „funktionale“ bezeichnen.

    Erklärungen unter Rekurs auf den Gottesbegriff können in diesem Sinne nicht funktional sein. Hat „Gott“ oder die Anführung des TI somit überhaupt keinen Erklärungswert? Auch dieser Schluss ist m.E. unzulässig. Berücksichtigt man die bereits dargestellten epistemischen Funktionen von TI, kann man eine eigentümliche Weise, wie man durch Bezug auf TI zu erklären vermag, feststellen. Gewährleistet nämlich TI Einheit und Ordnung allen Wissens, kann man daraus folgern, dass durch Bezug auf TI jede Wissenschaft, letztlich auch jeder Teilbereich derselben, ja sogar jede einzelne Theorie ihren „Ort“ im Ganzen des Wissens erhält. Erklären unter Bezug auf TI kann man somit nicht einzelne empirische Fakten. Aber man kann erklären, warum z.B. naturwissenschaftliche Theorien über diese Fakten einen anderen „Ort“ im System des Wissens haben als etwa metaphysische Theorien darüber, wie Fakten überhaupt als Erfahrungen wahrgenommen werden können. Darüber hinaus kann man erklären, wie sich etwa physikalische Theorien zu ethischen verhalten (das kann man v.a. auch in Kants praktischen Schriften nachlesen), wie ethische Auffassungen zu ästhetischen in Verhältnis zu setzen sind (darüber handelt die Kritik der Urteilskraft). Den „Ort“ einer Theorie im Ganzen des Wissens kann man nur durch Bezug auf das durch TI fundierte System allein bestimmen. Unter dieser Rücksicht ist TI theoretisch unverzichtbar. Die Art von Erklärungen unter Bezug auf TI aber mag man, unter Berücksichtigung dieser Überlegungen, auch (frei, weil nur auf den Bereich theoretischer Erkenntnis beschränkt, nach Muck 1999, u.a. 227, 250) „integrativ“ nennen. Einzelnes Wissen wird ins Ganze eingefügt, und so sowohl in seiner Eigenart bestimmt als auch in seinem Verhältnis zu anderem Wissen.

    Im Anschluss an Kants Ausführungen über „Gott“ lassen sich Unterscheidungen hinsichtlich Erklärungsweisen gewinnen. Es sollte deutlich werden, dass der Naturwissenschaft eine Erklärungsweise entspricht, die sich nicht auf den Bereich der Gotteslehre übertragen lässt. Daraus folgt nicht, dass nicht auch der letzteren eine eigentümliche, nämlich „integrative“ Erklärungskraft zukommt.

    Literatur

    1. Kant, I. 1968 Kritik der Reinen Vernunft. Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd III, Berlin: Walter de Gruyter & Co.
    2. Muck, O. 1999 Rationalität und Weltanschauung. Philosophische Untersuchungen. Hrsg. v. W. Löffler, Innsbruck, Wien: Tyrolia.
    Christian Kanzian. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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