Inferentialismus und Erfahrung
Inferentialismus und Erfahrung

Abstract

Robert Brandom hat in Making It Explicit (1994) eine systematische Neubegründung philosophischer Sprachbetrachtung vorgeschlagen. Im Wesentlichen zielt sein Ansatz darauf, repräsentationalistische semantische Grundbegriffe zu verabschieden, um sie im Rahmen eines „semantischen Inferentialismus“ durch eine funktionalistische Betrachtungsweise der Bedeutung von Ausdrücken zu ersetzen, die sich auf deren inferentielle Rolle in Praktiken des materialen Schlussfolgerns konzentriert.

Neben einer Präzisierung dieses weitreichenden Vorhabens soll eine immanente Kritik seiner Durchführung geleistet werden, indem das in Making It Explicit erarbeitete inferentialistische Alternativmodell auf seine Plausibilität hin geprüft wird. Zu zeigen ist, dass Brandom augrund seiner (von Wilfrid Sellars übernommenen und weitgehend übereilten) Absage an empirische Merkmale der Begriffsverwendung nicht imstande ist, ein adäquates Modell des alltäglichen Sprachgebrauchs zu etablieren. Anhand des Kontrasts zu intuitiven Aspekten der normalen Sprache sollen jene Schwierigkeiten aufgezeigt werden, die eine Ausgrenzung jeglicher begrifflichen „Empirizität“ zugunsten einer strikt inferentialistischen Bestimmung des Begrifflichen zur Folge hat.

Table of contents

    Robert Brandom (1994, 2000a) hat unlängst unter dem Etikett des „semantischen Inferentialismus“ eine systematische Neubegründung philosophischer Sprachbetrachtung vorgeschlagen. Im Wesentlichen zielt sein Ansatz darauf, den semantischen Grundbegriff der Referenz und damit die Idee einer den sprachlichen Ausdrücken eigenen Intentionalität zu verabschieden. Seinem Lehrer Wilfrid Sellars folgend, zieht Brandom hierzu eine funktionalistische Betrachtungsweise dessen heran, was als Bedeutung eines Ausdruckes firmieren könnte: nämlich seiner inferentiellen Rolle in Praktiken des materialen Schlussfolgerns

    Nach einer Präzisierung dieses weitreichenden Vorhabens soll eine immanente Kritik seiner Durchführung bei Brandom geleistet werden, indem das von ihm erarbeitete inferentialistische Alternativmodell auf seine Plausibilität hin geprüft wird. Hierbei ist zu zeigen, dass Brandom (wie auch Sellars) aufgrund einer – zumal weitgehend übereilten – Absage an empirische Merkmale der Begriffsverwendung nicht imstande ist, ein adäquates Modell des Sprachgebrauchs zu etablieren. Die Ausgrenzung jeglicher begrifflichen „Empirizität“ zugunsten einer strikt inferentialistischen Bestimmung des Begrifflichen zieht einige Schwierigkeiten nach sich, von denen hier vornehmlich die Rede sein soll.

    1.

    Der inferentialistische Ansatz lässt sich als Beantwortung der Frage, was ein Begriff sei, verstehen; sie wird dadurch beantwortet, dass das Beherrschen eines Begriffs bestimmten Fähigkeiten angeglichen wird. Brandoms (hier nicht en détail zu entfaltendes) Modell des sprachlichen Kontoführens stützt sich konsequent auf eine solche pragmatistische Auffassung, zumal es sich nicht an repräsentationalistischen Wort-Welt-Relationen oder Referenzvorstellungen bemisst, sondern die Fähigkeit rationaler Diskursteilnehmer, auf diverse Reize mit angemessenem sprachlichem Verhalten zu reagieren, in den Mittelpunkt stellt. Einen Begriff zu beherrschen komme demnach zwei Arten von Fähigkeiten gleich, die in Anlehnung an Sellars’ Skizze eines semantischen Funktionalismus (Sellars 1974) einerseits die Tätigkeit des materialen Folgerns zwischen bestimmten Äußerungen sowie andererseits den Übergang zu nichtsprachlichen Anknüpfungspunkten, die perzeptorischer oder praktischer Natur sein können, umfassen sollen.

    Unter materialem Schlussfolgern habe man sich dabei die Kompetenz nichtlogischen Schließens zwischen bestimmten Ausdrücken vorzustellen, wie sie durch die Folgerungs- und Inkompatibilitätsstrukturen zwischen etwa „Dies ist rot“ und „Dies ist farbig“ bzw. „Dies ist blau“ illustriert werden. Brandom erweitert nun Sellars’ Argumentation, dass die Beherrschung derartiger Inferenzregeln ein essentielles Charakteristikum des Gebrauchs natürlicher Sprachen darstellt (Sellars 1953: 336), indem er den Begriff der materialen Inferenz – verstanden als von bestimmten Normen geprägte Tätigkeit – zur Fundierung einer alternativen semantischen Konzeption heranzieht. Im Kontrast zu repräsentationalistischen Referenz- und/oder Bedeutungstheorien sei die Bedeutung eines Ausdrucks in seiner inferentiellen Rolle zu suchen; seine maßgebliche inferentielle Gliederung reiche damit für die Vorstellung einer „specifically conceptual contentfulness“ (Brandom 1994: 131) hin, wobei die damit umschriebene „strong inferentialist thesis“ allerdings auf einer weiten Vorstellung von inferentieller Gliederung gründe.

    Mit dem Zusatz des weiten Verständnisses von inferentieller Gliederung ist zugleich die zweite Kompetenz angesprochen, die neben der materialen Folgerungstätigkeit als Voraussetzung für Brandoms Modell dient. Während materiale Inferenzen auf den innersprachlichen Bereich, d.h. auf Übergänge zwischen verbalen Äußerungen beschränkt sind, habe man überdies Wahrnehmungs- und Handlungskontexte zu berücksichtigen, die mit sprachlichen Aktivitäten in enger Beziehung stehen. Da für die vorliegende Argumentation nur die empirische Komponente des Begriffsgebrauchs ausschlaggebend ist, werden sich die weiteren Ausführungen jedoch auf die Eigenart des inferentialistischen Wahrnehmungsbegriffs beschränken. Brandom referiert hier wiederum Sellars’ Ansichten, wenn er das Verfügen über empirische Begriffe (etwa „Dies ist rot“) von zwei Bedingungen abhängig macht: Einerseits habe man über verlässliche Dispositionen zu verfügen, auf bestimmte Umweltreize angemessen zu reagieren, während diese Reaktion andererseits als Bestandteil eines praktisch beherrschten inferentiellen Netzwerkes fungieren können muss. Auf diese Weise meint Brandom sowohl eine inferentialistische Rekonstruktion des Verstehens der betreffenden Begriffe zu leisten, als auch die Verbindung zur erfahrbaren Welt aufrecht zu erhalten, zumal die erwähnten Reaktionsdispositionen eine Art von „basalem Empirismus“ beinhalten würden (Brandom 2000b: 600).

    Der folgende Abschnitt setzt sich mit den Schwierigkeiten auseinander, die sich angesichts der Kombination eines solchen „basalen Empirismus“ und der methodischen Absage an eine repräsentationalistische Konzeption von Sprache und Welt einstellen. Denn wenn eine funktionalistische Theorie des Gehalts von Ausdrücken nicht nur vom Begriff der Referenz, sondern auch von substantielleren empirischen Merkmalen (den traditionellen „Bedeutungen im Kopf“) gesäubert werden soll, so ist nicht mehr ersichtlich, was an empirischen Begriffen empirisch oder kognitiv relevant sein soll resp. wie sich eine Verbindung zwischen Welt und Sprachpraxis etablieren könnte, die etwas zum Gehalt letzterer beitragen könnte. Zu behandeln sind hier vornehmlich die Frage des Erwerbs und der Kritik von empirischen Begriffen sowie die Plausibilität des inferentialistischen Sprachmodells, wie es von Brandom präsentiert wird. Schließlich wird noch zu klären sein, ob die Bescheidung auf einen „basalen Empirismus“ durch zwingende Gründe motiviert ist.

    2.

    Für genuine Beobachtungsberichte sei es also neben der Beherrschung der jeweiligen Rolle in materialen Folgerungszusammenhängen notwendig, Sprachteilnehmer dahingehend zu konditionieren, dass sie auf bestimmte Umweltreize mit angemessenem sprachlichem Verhalten reagieren. Das konforme Vorbringen von Behauptungen wie „Dies ist rot“ wird, wie Sellars (1969) ausführt, in bestimmten Kontexten antrainiert, ohne dass man hierzu ihrer Bedeutung in einem vorsprachlichen Sinn gewahr sein müsste. Der Konditionierungsprozess bilde, so lässt sich mit Brandoms „starkem Inferentialismus“ ergänzen, nämlich nur die notwendige Voraussetzung für die Verankerung der Sprachpraxis in der Welt, während genuines Begriffsverständnis davon herrühre, dass sich der Sprachlernende langsam als Subjekt sprachlicher Handlungen begreift, dessen Äußerungen bestimmten (inferentiellen) Normen unterliegen.

    Auffällig an dieser Konzeption ist nicht nur, dass die Beherrschung eines Begriffs mit richtigem Wortgebrauch gleichgesetzt wird, sondern auch der Umstand, wonach sich die erforderliche empirische Kompetenz und Wahrnehmungsgabe eines Sprachteilnehmers nicht wesentlich von der eines Messinstruments oder eines entsprechend abgerichteten Papageis unterscheidet. Letztere dürften zwar nie in den Genuss der Beherrschung inferentieller Übergänge zwischen ihren Äußerungen gelangen, teilen aber die verlässlichen Reaktionsdispositionen mit genuinen Sprachteilnehmern. Diese Beobachtung legitimiert zwar noch nicht die Folgerung, dass genuine Begriffe dem inferentialistischen Verständnis zufolge keine empirischen Aspekte beinhalten, worunter man etwa Sinnesdaten, Vorstellungsbilder, Assoziationen, Qualia o. Ä. verstehen könnte. Sellars wie auch Brandom (2000b: 608) behaupten jedoch explizit, dass Begriffe keinen kognitiven Inhalt besitzen würden, der als vorsprachliche Erfahrung oder „immediate experience of facts“ (Sellars 1963: 335) zu qualifizieren wäre. Ohne noch die Gründe für diese Zurückweisung zu diskutieren, was im letzten Abschnitt geleistet werden möge, sind zunächst die Konsequenzen einer solchen Vorgehensweise zu beachten. Die Ersetzung empirischer Komponenten eines Begriffs durch die bloße Aktivierung verlässlicher Dispositionen zu seiner verbalen Äußerung und deren inferentieller Handhabung verzerrt nämlich einige der intuitiv vorausgesetzten Aspekte des Sprachgebrauchs, da sich die Anwendungsmodalitäten eines empirischen Ausdrucks nicht ohne weiteres auf dessen kausale Veranlassung durch Umweltreize reduzieren lassen. Dieser Vorwurf möge anhand einer gedanklichen Konkretisierung von Brandoms Sprachmodell sowie einer genaueren Untersuchung dessen veranschaulicht werden, was Brandom unter der „empirischen Kritik“ von Begriffen (Brandom 1994: 225) versteht.

    Zunächst sei ein vereinfachter Ausschnitt einer möglichen inferentiellen Sprachpraxis, wie sie Brandoms Modell vorsieht, betrachtet. So möge beispielsweise „jynweythek ylow“ eine empirische Äußerung darstellen, die auf bestimmte äußere Umweltreize konditioniert wird – die Unbestimmtheit dieser Formulierung reflektiert dabei das dem Inferentialismus eigentümliche Fehlen eines prälinguistischen Verständnisses der betreffenden Äußerungen. Aus ihr möge weiters der Gehalt von „orban eq trx4“ material folgen, während sie mit „lornaderek“ material inkompatibel ist. Überdies sei angenommen, dass die beiden letzteren selbst Beobachtungsberichte im inferentialistischen Sinn darstellen. Sowohl die inferentiellen Übergänge als auch die dispositionale Äußerung der eingeführten Begriffe könnten ohne weiteres von einer Sprachgemeinschaft verwendet und werdenden Mitgliedern antrainiert werden. Mit der Annahme dieses Szenarios soll nun weniger behauptet werden, dass es eine plausible mögliche Sprachpraxis darstellt, als vielmehr eine Konkretisierung von Brandoms Modell geleistet werden, die nicht vom alltäglichen Verständnis der normalen Sprache Gebrauch macht, das sie ja aus methodologischen Gründen vernachlässigen zu können beansprucht.

    Betrachtet man diese fingierte Sprachpraxis, so ist zu beachten, dass sie ohne weiteres funktionieren könnte, zumal die Sprecher hinreichend auf die notwendigen Fertigkeiten konditioniert wurden und ex hypothesi auch die normativen Implikationen der Äußerung von „jynweythek ylow“ erfasst haben, nämlich den Gehalt von „orban eq trx4“, nicht aber den von „lornaderek“ material zu erzwingen. Was der Inferentialismus allerdings nicht garantieren kann, ist, dass die Sprecher auch (im alltäglichen Sinn) verstehen, was sie äußern. Wenn die Äußerung von „jynweythek ylow“ zwar kausal veranlasst wurde, nicht aber empirische Begleitumstände (etwa die Vorstellung möglicher Kontexte ihrer angemessenen Äußerung oder „jynweythek ylow“-spezifische Empfindungen) begrifflich umfasst, dann reicht auch eine Beherrschung der betreffenden materialen Folgerungen für deren genuines Verständnis nicht hin, da die gefolgerten („orban eq trx4“) und inkompatiblen Gehalte („lornaderek“) ebenso unverständlich erscheinen müssen wie die ursprüngliche Behauptung. Was einen auf „jynweythek ylow“-Reize konditionierten Papagei und ein entsprechendes Messinstrument von den Sprechern unterscheidet, ist bloß die Fähigkeit des inferentiellen Folgerns und Vorbringens weiterer Äußerungen sowie das Gespür für die Normen der Gesprächsführung. Damit wird zwar ein Abgrenzungskriterium etabliert, nicht aber eine plausible Rekonstruktion der Bedeutung sprachlicher Praktiken geleistet.

    Zudem müssten innerhalb eines brandomschen Sprachmodells sämtliche materialen Folgerungsbeziehungen und Inkompatibilitäten aus der Sicht der Sprachteilnehmer vollkommen arbiträr erscheinen, wenn keine empirischen Aspekte in die involvierten Begriffe eingehen. Dies mag zwar bei einigen materialen Übergängen (etwa zwischen „Dies ist rot“ und „Dies ist farbig“ oder „Graz liegt südlich von Wien“ und „Wien liegt nördlich von Graz“) als mehr oder weniger unproblematisch empfunden werden, lässt jedoch nicht den Schluss darauf zu, dass alle Inferenzen eines solcherart „analytischen Typs“ seien. Einige materiale Inferenzen, etwa „Es regnet, deshalb werden die Straßen nass sein“ oder „Es blitzt, deshalb wird bald Donner zu hören sein“, scheinen demgegenüber durch Erfahrungstatsachen strukturiert zu sein, was sich jedoch inferentialistisch nicht erklären lässt. Wie könnten die zugrunde liegenden Tatsachen des richtigen Schließens verständlich gemacht werden, wenn nicht durch Rekurs auf Erfahrungswissen, das mit den entsprechenden Begriffen in Verbindung steht? Dass „Die Straßen werden nass sein“ aus „Es regnet“ folgt, muss dem vorgestellten Modell gemäß als genauso unhinterfragbare wie undurchsichtige semantische Regel hingenommen werden, ebenso wie der Umstand, dass „jynweythek ylow“ zwar „orban eq trx4“, nicht aber „lornaderek“ zur materialen Konsequenz hat. Dafür, dass hier empirische Begriffe zur Debatte stehen, kann aus Sellars’ und Brandoms Perspektive zwar vorgebracht werden, dass sie kausal veranlasst werden. Warum sich allerdings zwischen ihnen materiale Übergänge etablieren sollten, bleibt genau so im Unklaren, wie die Frage eines Entscheidungskriteriums dafür, dass gerade „orban eq trx4“ (und nicht etwa „lornaderek“) aus „jynweythek ylow“ folgen sollte. Reduziert man das alltägliche Verstehen eines Begriffs konsequent auf dessen inferentialistisches Pendant, so fragt sich tatsächlich, warum – abgesehen davon, dass es nun einmal in dieser Form anerzogen wurde – aus „Es regnet“ gerade „Die Straßen sind nass“ und nicht etwa „Heute ist Donnerstag“ o. dgl. folgen sollte.

    Die Wahl und Anwendung der getätigten Inferenzen erscheint im Rahmen des inferentialistischen Sprachmodells somit weder empirisch motiviert, noch auf empirischem Weg zu rechtfertigen, was auch erhellend für Brandoms eigentümliche Vorstellung der „empirischen Kritik“ von Begriffen ist. Überraschenderweise wird die Möglichkeit eingeräumt, dass “conceptual contents can […] be criticized, groomed and developed empirically” (Brandom 1994: 225). Als Beleg dafür wertet Brandom ein Beispiel, das sich auf den Fall der Inkompatibilität zwischen einem Beobachtungsbericht und einer inferentiellen Konsequenz eines anderen Beobachtungsberichtes stützt. Man könnte etwa aus dem sauren Geschmack einer Substanz folgern, dass sie eine Säure ist und Lackmuspapier rot färbt, während der Lackmustest jedoch ein anderes Ergebnis erbringt (Brandom 1994: 225). Nun ist es zwar richtig, dass sich die Inkompatibilität zwischen „Diese Substanz färbt Lackmuspapier rot“ und „Diese Substanz färbt Lackmuspapier nicht rot“ dank des „basalen Empirismus“ zutage gefördert wird, den Sellars und Brandom mit ihrer dispositionalen Theorie der Anwendung von Begriffen zulassen. Nicht einzusehen ist jedoch, wie die potentiell nachfolgende Revision und Weiterentwicklung des Säurebegriffs auf empirischem Weg vollbracht werden kann. Da das einzig Empirische an einem Begriff seine kausale „Auslösung“ darstellen soll, kann kaum davon ausgegangen werden, dass die aus der Sphäre des Begrifflichen strikt ausgeklammerte Erfahrung Hilfestellungen für die neu zu definierende inferentielle Rolle eines Begriffs anbieten wird. Als „empirische“ Konsequenz, die sich im angeführten Beispiel für den Begriff der Säure ergibt, kann lediglich gelten, dass sie Lackmuspapier offenbar nicht zwingend rot färbt. Um die Möglichkeit der Weiterentwicklung von Begriffen garantieren zu können, wird man sich deshalb wohl bei anderen Quellen umsehen müssen als bei kognitiven Inhalten, die normalerweise mit einem Begriff assoziiert werden, im Rahmen des Inferentialismus jedoch gegen bloße Konformitäten des Sprachgebrauchs eingetauscht werden. Gerade Brandoms Missverständnis einer empirischen Kritik von Begriffen lässt vermuten, dass er die Konsequenzen seiner Bescheidung auf einen „basalen Empirismus“ nicht gänzlich überschaut hat.

    3.

    Sollte sich eine Praxis des materialen Folgerns tatsächlich grundlegend für die alltägliche Sprache erweisen, so wird man kaum den Anteil kognitiver Aspekte des Begrifflichen an der Formierung und Strukturierung inferentieller Netzwerke vernachlässigen können, wie dies die Bescheidung auf einen basalen Empirismus nahe legt. Wie gezeigt wurde, besteht die Inadäquanz von Brandoms Sprachmodell nicht nur darin, dass es die reale Sprachpraxis offenbar anhand eines Sprachspiels vom Typ „jynweythek ylow“ konzipieren will, sondern auch kein Unterscheidungskriterium zwischen beiden angeben kann, wenn es auf das empirische Verstehen verzichten zu können meint.

    Abschließend bleibt nach dem Motiv zu fragen, warum man sich im Rahmen einer Theorie über Begriffe auf einen lediglich basalen Empirismus zurückziehen sollte. Hier scheint vor allem die Vermeidung des von Sellars denunzierten „Mythos des Gegebenen“ ausschlaggebend sein – einer empiristischen Denkhaltung, von deren epistemologischen Annahmen sich Sellars im Aufsatz „Empiricism and the Philosophy of Mind“ (1963: 127-196) ausführlich distanziert. Gegen den hier im Zentrum stehenden Gedanken, dass empirische Aspekte in zumindest einige Begriffe Eingang finden müssen, führt Sellars folgendes Argument an: Um einen Begriff anwenden zu können, habe man schon über den Begriff der hierzu angemessenen Situationen zu verfügen (Sellars 1953: 336, 1963: 176). Der Rekurs auf „vorbegrifflich Gegebenes“ sei insofern illusionär, als dessen Handhabung die Fähigkeit zur Begriffsanwendung eher voraussetzt, als sie zu erklären. Wenn das Erfassen eines Begriffs der Beherrschung des korrekten Wortgebrauchs (sei es in inferentieller, sei es in responsiver Hinsicht) gleichkommt, so spielen demnach vorsprachliche kognitive Inhalte keine Rolle bei der Konstitution von Begriffen, woraus gefolgert wird, dass Erfahrungskomponenten für eine entsprechende Theorie unerheblich, wenn nicht gar irreführend seien. Hinter dieser Argumentation, die Sellars unter dem Titel „psychologischer Nominalismus“ (Sellars 1963: 160) vertritt, steht offenbar die Annahme, dass sich das Erlernen und der Gebrauch von Sprache gänzlich unabhängig von einer kognitiven Infrastruktur abspielen kann, was der „basale Empirismus“ reflektiert. Ob der Wahrnehmungsapparat und bestimmte kognitive Mechanismen tatsächlich von der Fähigkeit zur Anwendung und zum Verstehen von Begriffen separierbar ist, bleibt allerdings eine Hypothese, die nicht a priori entschieden werden kann, sondern in den kognitionswissenschaftlichen Untersuchungsbereich fällt (und dort vermutlich nicht viele Verfechter finden wird). Fest steht allerdings, dass innerhalb einer „starken inferentialistischen“ Theorie, die für das Verständnis empirischer Begriffe nur verlässliche Reaktionsdispositionen und die Fähigkeit des materialen Folgerns veranschlagt, begriffliche Normen vom Himmel fallen müssen, während empirisches Verstehen von Begriffen als unbedeutendes Beiwerk qualifiziert wird. Beides widerspricht den intuitiven Vorstellungen, die man sich gemeinhin wohl vom alltäglichen Sprachgebrauch macht.

    Literatur

    1. Brandom, Robert B. 1994 Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge/London: Havard University Press.
    2. Brandom, Robert B. 2000a Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge/London: Harvard University Press.
    3. Brandom, Robert B. 2000b „Die zentrale Funktion von Sellars’ Zwei-Komponenten-Konzeption für die Argumente in ‚Empiricism and the Philosophy of Mind’“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48/4, 599-613.
    4. Sellars, Wilfrid 1953 “Inference and Meaning”, Mind 62, 313-338.
    5. Sellars, Wilfrid 1963 Science, Perception, and Reality, London: Routledge/Kegan Paul.
    6. Sellars, Wilfrid 1974 “Meaning as Functional Classification (A Perspective on the Ralation of Syntax to Semantics)”, Synthese 27, 417-437.
    Michael Raunig. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
    This page is made available under the Creative Commons General Public License "Attribution, Non-Commercial, Share-Alike", version 3.0 (CCPL BY-NC-SA)

    Refbacks

    • There are currently no refbacks.