Eingebildete Empfindungen:Wittgensteins Analyse eines philosophischen ‚Triebes’
Eingebildete Empfindungen:
Wittgensteins Analyse eines philosophischen ‚Triebes’

Abstract

Der späte Wittgenstein behandelt philosophische „Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen“ (PU 111), durch Fehlinterpretationen, zu denen wir systematisch getrieben werden von verschiedenen „Trieb[en], das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen“ (PU 109). Anhand einer Analyse von Wittgensteins Untersuchung des ‚Lesens’ (PU 156-78) soll dieser Aufsatz erklären, was ein solcher Trieb ist, und wie er den Eindruck von Problemen erzeugen kann, wo keine sind. Diese Erklärung der Entstehung und Natur der von Wittgenstein behandelten (Schein-)Probleme wird die ‚therapeutischen’ Aspekte seines Ansatzes erhellen, die derzeit im Mittelpunkt der Diskussion stehen (Creary & Read, The New Wittgenstein, 2000; Ammereller & Fischer, Wittgenstein at Work. Method in the „Philosophical Investigations“, 2004).

Table of contents

    1. Philosophische „Triebe“

    „Wenn wir philosophieren, möchten wir Gefühle hypostasieren [d.h. annehmen], wo keine sind“ (PU 598). Unter anderem diese Neigung, Bewusstseinsvorgänge anzunehmen, wo sich keine ereignen, charakterisiert Wittgenstein mit einem Vergleich:

    „Wie dem Deutschen, der gut Englisch spricht, Germanismen unterlaufen, obgleich er nicht erst den deutschen Ausdruck bildet und ihn dann ins Englische übersetzt; wie er also Englisch spricht, als übersetzte er, ‚unbewußt’, aus dem Deutschen, so denken wir oft, als läge unserem Denken ein Denkschema zu Grunde; als übersetzten wir aus einer primitiveren Denkweise in die unsre“ (PU 597).

    Dass wir „denken als ob unserem Denken ein Denkschema zu Grunde läge“, heißt, dass wir systematisch Gedankensprünge machen, bei denen wir, ohne es zu merken, Annahmen voraussetzen, die sich als verschiedene Instanzen immer des gleichen Schemas darstellen lassen. Diese für die „primitivere Denkweise“ charakteristischen Annahmen sind typischerweise ebenso unbegründet wie die Schlussfolgerungen, zu denen sie uns führen. In der Tat (und dies ist das entscheidende Merkmal solch schwer zu kontrollierender Neigungen): Die unbemerkten Voraussetzungen können Annahmen sein, die wir, etwa wenn wir nicht philosophieren, implizit oder ausdrücklich ablehnen – wie sich beim kompetenten Englischsprecher Konstruktionen einschleichen können, von denen er weiß, dass sie deplaziert sind.

    Eine solche Neigung ist die, Sätzen, die bestimmte Tätigkeitswörter enthalten, spontan Implikationen über spezifische Bewusstseinsvorgänge zuzuschreiben. Einschlägige Verben sind etwa „lesen“, „abschreiben“, „abzeichnen“, von Wittgenstein eigenwillig unter dem Oberbegriff Lesen zusammengefasst (PU 156a). Sie haben situationsübergreifende Anwendungsbedingungen: Für die Ausübung der entsprechenden Tätigkeiten gibt es ein charakteristisches Verhalten, das man jedoch an den Tag legen kann, ohne sie auszuüben. Ein ABC-Schütze mag so tun, als läse er den vorher auswendig gelernten Text vor: die Zeilen mit dem Finger nachfahren, etc. In solchen Fällen, so Wittgenstein, treffen wir die Unterscheidung zwischen echtem und bloß scheinbarem Lesen (etc.) durch Bezug auf Verhalten in weiteren Situationen. Relevant ist zum Beispiel, ob der Schüler den Text hersagen kann, ohne ins Buch zu sehen, und ob er ihm neue Texte von vergleichbarem Schwierigkeitsgrad lesen kann (vgl. 157). Doch sobald sie abstrakt über solche Tätigkeiten nachdenken, finden viele es intuitiv plausibel zu sagen, dass sich echte von bloß scheinbaren Ausübungen durch einen bewussten oder sonstig inneren Vorgang unterscheiden müssen:

    „Wir möchten nun freilich sagen: Was im geübten Leser und im Anfänger [der bloß ‚vorgibt’ zu lesen] vor sich geht, wenn sie das Wort aussprechen, kann nicht das Gleiche sein. Und wenn kein Unterschied in dem wäre, was ihnen gerade bewußt ist, so im unbewußten Arbeiten ihres Geistes; oder auch im Gehirn“ (PU 156g).

    Diese Neigung ist besonders stark, wenn wir mit einer abstrakten Frage im Hinterkopf an ganz bestimmte Fälle denken: Wenn wir an den mühsam buchstabierenden Anfänger denken, der eine bewusste Anstrengung unternimmt, und uns fragen, worin Lesen besteht (156e). Beim Philosophieren haben wir dann die Tendenz, zunächst gedankenlos von diesen Fällen zu verallgemeinern und charakteristische Bewusstseinserlebnisse auch da anzunehmen, wo keine sind – etwa im geübten Leser, der sich keine solchen Erlebnisse bewusst machen kann (165-8). Sobald wir uns dies klar machen, springen wir zu dem genauso ungerechtfertigten Schluss, dass es unbewusste innere Vorgänge geben muss, die echtes von scheinbarem Lesen unterscheiden – und glauben dies mit einer Festigkeit, die erstaunen könnte, da wir von solchen Vorgängen schlicht gar nichts wissen (159). Allgemein: Auf Sätze, die Verben V mit situationsübergreifenden Anwendungsbedingungen enthalten, reagieren wir unter den genannten Umständen mit Gedankensprüngen, die eine Instanz eines charakteristischen Schemas voraussetzen:

    Schema I:
    Genau dann wenn jemand tatsächlich V-t, ereignet sich ein innerer Vorgang (bewusst oder unbewusst), durch den sich echtes von bloß scheinbarem V-en unterscheidet.

    Eine mögliche Motivation hierfür ist ein Missverständnis des ‚Arbeitens unserer Sprache’: Beim abstrakten Nachdenken können wir die relevanten Umstände jenseits der Handlungssituation aus den Augen verlieren und gedankenlos meinen, die begriffliche Unterscheidung zwischen wirklichem und bloß scheinbarem Tun, das ja äußerlich identisch sein kann, nur durch Bezug auf einen inneren Vorgang ziehen zu können. Wir meinen dann, die Regeln der Handlungszuschreibung müssten auf solche Vorgänge Bezug nehmen.

    Falls die Neigung zu Gedankensprüngen so schwer zu kontrollieren ist wie vom eingangs zitierten Vergleich angezeigt, lässt sie sich durchaus treffend als „Trieb“ charakterisieren. Falls diesem Trieb durch ein Missverständnis wie dem jetzt skizzierten Vorschub geleistet wird, falls er etwa (zwischenzeitig) abnimmt, sobald wir uns an die Details unserer Sprachpraxis erinnern, handelt es sich um einen „Trieb, das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen“: Jemand hat einen solchen Trieb genau dann, wenn er unter bestimmten Umständen

    (i)
    geneigt ist, von Sätzen, die bestimmte Ausdrücke enthalten, spontan zu unberechtigten Schlussfolgerungen zu springen, die aus diesen Sätzen nur zusammen mit charakteristischen Annahmen (Instanzen des immer gleichen Schemas) folgen, welche Voraussetzungen das Subjekt weder bemerkt noch akzeptiert; und wenn
    (ii)
    dieser Neigung von einem Missverständnis der Verwendungsregeln für die betreffenden Ausdrücke Vorschub geleistet wird.

    Solche Triebe haben Folgen: Wenn wir den als Beispiel erläuterten Trieb verspüren, neigen wir dazu, unser Innenleben mit imaginären Vorgängen und Empfindungen zu bevölkern (Abschnitt 2). Und der Konflikt dieser Einbildungen mit der Wirklichkeit, oder untereinander, kann den Eindruck von Problemen erzeugen, wo keine sind (Abschnitt 3).

    2. Eingebildete Empfindungen

    In seiner Untersuchung des ‚Lesens’ (PU 156-78) untersucht Wittgenstein, wie jener verbreitete Trieb solche Einbildungen erzeugt – and zwar bei ihm selber. Er charakterisiert seine Untersuchungen als philosophische Meditation, als Selbstgespräch: „Ich schreibe beinahe immer Selbstgespräche mit mir selbst. Sachen, die ich mir unter vier Augen sage“ (CV 88). Wenn die Formulierung „Selbstgespräche mit mir selbst“ kein Pleonasmus ist, besagt sie, dass die Bemerkungen nicht bloß die Form eines Selbstgespräches (mit einem fiktiven Protagonisten) haben, sondern wiedergeben, was der Autor sich tatsächlich selber sagte – wie der Nachsatz dann unmissverständlich feststellt. In vielen dieser Selbstgespräche setzt sich Wittgenstein mit dem auseinander, was er selber „zu sagen geneigt“ oder „versucht“ ist, mit Ideen, die ihn intuitiv anziehen, auch wenn er sie bei näherer Überlegung als Unsinn ablehnt: „Scheue Dich ja nicht davor, Unsinn zu reden! Nur mußt Du auf Deinen Unsinn lauschen“ (CV 64) – um die eigenen Neigungen zu gedankenlosen, und daher nur allzu oft unbemerkten, Gedankensprüngen ‚hinauszuhören’, zu entlarven und zu beseitigen. (Fischer 2004 argumentiert detailliert für diese bislang nicht ernsthaft in Betracht gezogene These.)

    Zu dem ‚Unsinn’, auf den er ‚lauscht’, gehören verschiedene Variationen der eben erläuterten Idee, die Wittgenstein alle mit den Worten „Ich möchte sagen:“ einleitet (PU 169c2, 173b11, 174a3, 176a4): dass wir beim Lesen, Abschreiben und Kopieren charakteristische Erlebnisse oder Empfindungen haben, die echtes von scheinbarem Tun unterscheiden. Um diese Ideen als „Fiktion“ (166a2) bzw. Einbildungen (170c1) zu entlarven, die auf spontanen, aber ungerechtfertigten Gedankensprüngen beruhen, macht er eine Reihe von „Versuch[en]“ (169c7): Er führt die genannten Tätigkeiten aus (Lesen: 169, Abschreiben: 173b8-13, Abzeichnen: 175), mit der Frage im Hinterkopf, was dabei geschieht (170b1). Dann registriert er, was er danach über dabei auftretende Empfindungen spontan zu sagen geneigt ist, und prüft dessen Berechtigung, indem er sich schließlich vergegenwärtigt, woran er sich tatsächlich erinnern kann.

    So möchte er etwa spontan sagen, dass er beim Abzeichnen den Einfluss der Vorlage auf seine Bewegungen empfunden hat: „Ich habe, wenn ich nachträglich an das Erlebnis denke, das Gefühl, daß das Wesentliche an ihm ein ‚Erlebnis eines Einflusses’, einer Verbindung, ist – im Gegensatz zu irgendeiner bloßen Gleichzeitigkeit von Phänomenen“ (176a1). Doch dieser Eindruck ist nicht gerechtfertigt: „Ich kann, sozusagen, nicht glauben, daß ich bloß hingeschaut, dieses Gesicht gemacht, den Strich gezogen habe. – Aber erinnere ich mich denn an etwas anderes? Nein“ (175b4-5; vgl. 176a2). Eine bestimmte Formulierung löst den Gedankensprung aus: „„Denn ich bin doch geführt worden“, sage ich mir. – Dann erst tritt die Idee jenes ätherischen, ungreifbaren Einflusses auf“ (175b7-8). Vorausgesetzt wird eine Instanz von Schema I:

    (1)
    Ich habe die Figur wirklich abgezeichnet, bin von ihr geführt worden.
    (I1)
    Genau dann wenn jemand wirklich etwas abzeichnet, hat er eine Empfindung der Beeinflussung, durch die sich echtes Abzeichnen von bloß zufälliger Reproduktion unterscheidet.
    (2)
    Ich habe das Erlebnis eines Einflusses (des Geführtwerdens, vgl. 172) gehabt.

    Seine vorigen ‚Versuche’ zeitigten analoge Gedankensprünge zum Lesen und Abschreiben, in Reaktion auf andere Auslöser, die Wittgenstein identifiziert (z.B. 170a1): Er ist systematisch geneigt, von Sätzen wie (1), die Handlungsverben mit situationsübergreifenden Anwendungsbedingungen enthalten, spontan zu ungerechtfertigten Schlussfolgerungen zu springen, die bei Voraussetzung von Instanzen des Schemas I folgen – Annahmen, die er bereits abgelehnt hat (157, 159-60).

    Dieser schwer zu kontrollierende Neigung wird vom bereits erläuterten Missverständnis Vorschub geleistet. So schwindet sie etwa, sobald Wittgenstein sich vergegenwärtigt, in welchen Sinne er durchaus von der Vorlage ‚geführt wurde’: Er zog den zweiten Strich genau parallel zu ihr, nicht beliebig, und hätte durch Verweis auf die abzuzeichnende Vorlage begründet, warum er die zweite Figur so und nicht anders zeichnete (vgl. 177a3, 169b5-6). Derlei macht den Unterschied zwischen echtem Abzeichnen, bei dem man sich von der Vorlage führen lässt, und ihrer bloß zufälligen Reproduktion. Wittgenstein ist geneigt, Dinge wie (2) zu sagen, sobald er dies vergisst. Auch er leidet am verbreiteten ‚Trieb, das Arbeiten unserer Sprache mißzuverstehen’, den wir eingangs spezifizierten. Jedenfalls scheint er etliche solcher Triebe in sich selber festzustellen: „Der Philosoph ist der, der in sich [!] viele Krankheiten des Verstandes heilen muß“ (CV 50).

    3. Scheinprobleme

    Jener Trieb erzeugt Einbildungen. Deren Konflikt mit der Wirklichkeit erzeugt den Eindruck eines Problems: Wittgenstein ist zu sagen geneigt, er habe beim Abzeichnen das ‚Erlebnis eines Einflusses’ gehabt. „Zugleich aber möchte ich kein erlebtes Phänomen [das ich erinnere] „Erlebnis des Einflusses“ nennen“ (PU 176a2). So erscheint ihm dieses Erlebnis als „ätherisch, ungreifbar“ (175b8). Wer nicht nur die Neigung dazu verspürt, sondern tatsächlich annimmt, dass ein Bewusstseinsvorgang für eine Tätigkeit wesentlich ist, sich aber bei ihrer Ausübung keines solchen Vorganges bewusst werden kann, steht vor der Aufgabe, zu erklären, wie es sein kann, dass er sich der von ihm angenommenen Vorgänge nicht bewusst zu werden vermag. Dies ist ein Vereinbarungsproblem: das Problem, philosophische Annahmen zu vereinbaren mit Tatsachen oder weiteren Annahmen, die man anerkennt.

    Ein Problem dieser Art entwickelt Wittgenstein unmittelbar vor dem Exkurs zum ‚Lesen’. Es betrifft das plötzliche Verstehen einer Zahlenreihe. Auch hierfür ist Verhalten charakteristisch, das mit bloß scheinbarem V-en vereinbar ist: Die Fortsetzung der Reihe kann glücklich geraten werden, etc. So unterlaufen Wittgenstein hier die charakteristischen Gedankensprünge, die er allerdings, anders als bei seinen absichtlichen ‚Versuchen’, zunächst zwingend findet und tatsächlich mitmacht: Obwohl er ausdrücklich Verstehen mit einer Fähigkeit gleichsetzt (151b4), reagiert er auf die Frage „Was ist es, was hier [beim plötzlichen Eintritt des Verstehens] eintritt?“ (151b5) nicht etwa mit einer informativen Beschreibung der Fähigkeit, die hier laut ausdrücklicher Annahme eintritt, sondern (i) interpretiert die Frage als die nach einem Ereignis: „Was geschah da?“ (151b7), die er umgehend mit der Anführung der verschiedenen Ereignisse beantwortet, derer wir uns in dieser Situation bisweilen bewusst werden (151b8ff.). Aus der Beobachtung, dass von jedem dieser Bewusstseinsereignisse denkbar ist, dass es sich ereignet, ohne dass das Subjekt versteht (152b), schließt Wittgenstein sofort (ii), dass der seelische Vorgang des Verstehens „sich ... hinter jenen gröbern und uns daher ins Auge fallenden Begleiterscheinungen versteckt“, und versucht, ihn „zu erfassen“, was nicht gelingt (153a1-2): Der Vorgang ist genau so ungreifbar, wie das Erlebnis des Einflusses beim Abzeichnen. Schritte (i) und (ii) setzen eine Instanz von Schema I voraus:

    (I2)
    Wenn jemand plötzlich versteht, ereignet sich ein Bewusstseinsvorgang, der es undenkbar macht, daß er nicht versteht.

    Die Schlussfolgerung, dass (3) dieser seelische Vorgang „sich versteckt“, widerspricht dann der Beobachtung, dass „ich doch sagte „Jetzt verstehe ich“, weil ich verstand“ (153a5), offensichtlich unter ähnlicher Voraussetzung interpretiert als: (4) „Ich sagte ‚Jetzt verstehe ich’, weil ich mir eines solchen Vorgangs bewusst wurde.“ Dies ist Wittgensteins „Wirrwarr“ (153a7): das Problem, die Schlussfolgerung (3) mit der ebenso wilden ‚Beobachtung’ (4) zu vereinbaren.

    Entgegen dem ersten Anschein sind Vereinbarungsprobleme wie dieses in der Philosophie durchaus verbreitet. So sprangen etwa neuere Sprachphilosophen (Davies 1987, mit den relevanten Literaturverweisen) mit analogen Gedankensprüngen (Fischer 2005, Kap.8) zu der ungerechtfertigten Annahme, dass das Verstehen neuer Sätze auf der Ableitung ihrer Wahrheitsbedingungen beruhen müsse, und hatten diese Annahme mit der Beobachtung zu vereinbaren, dass sich kompetente Sprecher keines solchen Ableitungsprozesses bewusst sind. Die Antwort auf dieses Problem war eine philosophische Theorie: Die Theorie stillschweigenden semantischen Wissens, die es ermöglichen sollte, Sprechern unbewusste Ableitungsprozesse zuzuschreiben – von denen die ‚Theoretiker’ freilich nichts wussten. Ihre Theorie ist mithin weniger science als fiction. Ein anderer Defekt ist noch fundamentaler: Wo zumindest eine der zu vereinbarenden Annahmen vollkommen ungerechtfertigt ist, ist es von vornherein überflüssig zu erklären, wie dies Hirngespinst mit ihm anscheinend widersprechenden Tatsachen vereinbart werden kann – wenn nicht gar (wie im Problem von PU 153) mit einem weiteren Hirngespinst. Solchen Scheinproblemen gilt Wittgensteins alternativer ‚therapeutischer’ Ansatz.

    4. Wittgensteins ‚therapeutische Wende’

    Ausgangspunkt seiner ‚therapeutischen Wende’ ist die Distanzierung von seinen philosophischen, nicht rein sprachlichen, Intuitionen (wie sie PU 112a2-3 charakterisiert): Statt sie wie andere Philosophen fraglos zu ‚honorieren’, also mit ihnen widersprechenden Beobachtungen vereinbaren zu wollen, betrachtet er seine Neigungen, dies oder das zu sagen und spontan plausibel zu finden, zunächst bloß als das: als Neigungen oder Versuchungen. „Was wir in so einem Fall ‚zu sagen versucht sind’, ist natürlich nicht Philosophie; sondern es ist ihr Rohmaterial. Was also ein Mathematiker, z.B., über Objektivität und Realität der mathematischen Tatsachen [oder ein Sprachphilosoph über Verstehensvorgänge] zu sagen geneigt ist, ist nicht eine Philosophie der Mathematik [oder der Sprache], sondern etwas, was Philosophie zu behandeln hätte“ (PU 254a4-5).

    Diese Distanzierung von den eigenen Intuitionen ermöglicht ihm die Diagnose von Vereinbarungsproblemen, die in diesem Aufsatz an einem Beispiel entwickelt wurde: Was wir hier mit – im besten Falle – den Tatsachen vereinbaren wollen, sind Einbildungen, erzeugt von Trieben, das Arbeiten unserer Sprache mitzuverstehen. In gewissen Sinne gibt es hier kein Sachproblem, sondern nur ein ‚persönliches’ Problem des Philosophen: seine Hirngespinste und die beunruhigende Verwirrung, die sie hervorrufen. „Die Probleme, die durch ein Mißdeuten unserer Sprachformen entstehen ... sind tiefe Beunruhigungen“ (PU 111, meine Hervorhebung). Diese ‚persönlichen’ sind die „philosophischen Probleme [die] vollkommen verschwinden sollen“ (PU 133b2).

    Diese Problemauffassung motiviert neuartige Ziele und Methoden. ‚Was Philosophie zu behandeln hätte’, nämlich zu kurieren, sind jene Beunruhigungen: „Friede in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert“ – und zumindest Wittgensteins (CV 50). Um es zu erreichen, ‚behandelt’ er das ‚Rohmaterial’ seiner Intuitionen ganz anders als andere Philosophen: Er arbeitet es nicht zu einer ‚Theorie’ aus, die Widersprüche auszuräumen verspricht, sondern will sich von diesen intuitiv packenden ‚Einbildungen’ befreien, indem er den mit einer „Krankheit des Verstandes“ (CV 50) vergleichbaren Trieb zum Missverständnis beseitigt, der sie erzeugt und so ungerechtfertigte, aber beunruhigende Fragen (wie PU 153a4-6) aufwirft: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“ (PU 255).

    Hierzu „gibt es [verschiedene] Methoden, gleichsam verschiedene Therapien“ (PU 133d). Eine setzt Wittgenstein zur Beseitigung des Wirrwarrs von PU 153 in der Untersuchung des ‚Lesens’ ein: Durch die ‚Versuche’, in denen er sich bewusst die Freiheit lässt, „Unsinn zu reden“ (CV 64), den er leicht durchschauen kann, verschafft er sich Einsicht in die Natur seines Denkens: wird er sich seiner systematischen Neigung zu spontanen und ungerechtfertigten Gedankensprüngen bewusst. Diese Einsicht ist ein wirksames Mittel kognitiver Therapie: Sie schwächt diese Neigung und ermöglicht es dem Subjekt, auch Annahmen, die es zunächst zwingend findet, als das Produkt ungerechtfertigter Sprünge anzuerkennen und gegenläufige Evidenz angemessen zu würdigen (Beck 1995). Dementsprechend ist die Untersuchung des ‚Lesens’ eingeschoben zwischen der Erwähnung des Gedankensprungs, auf dem das Wirrwarr beruht (in PU 154) und der Wägung der sprachlichen Tatsachen, die ihm widersprechen (in PU 179). Wittgensteins revolutionäre ‚therapeutische’ Ziele und Methoden erschließen sich so aus der genauen Analyse seiner Probleme als dem Produkt von Trieben zum Missverständnis, die er (auch) in sich selber entdeckte.

    Literatur

    1. Ammereller, Erich und Fischer, Eugen (Hg.) 2004 Wittgenstein at Work. Method in the „Philosophical Investigations“, London: Routledge.
    2. Beck, Judith 1995 Cognitive Therapy: Basics and Beyond, New York: Guilford.
    3. Creary, Alice und Read, Rupert (Hg.) 2000 The New Wittgenstein, London: Routledge.
    4. Davies, Martin 1987 “Tacit Knowledge and Semantic Theory”, Mind 96.
    5. Fischer, Eugen 2004 “A Cognitive Self-Therapy: PI 138-97”, in: Ammereller und Fischer.
    6. Fischer, Eugen 2005 Philosophical Delusion and its Therapy, London: Routledge.
    7. Wittgenstein, Ludwig 2001 Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, Frankfurt: Suhrkamp (zitiert: PU).
    8. Wittgenstein, Ludwig 21998 Culture and Value – Vermischte Bemerkungen, Oxford: Blackwell (zitiert: CV).
    Eugen Fischer. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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