Die autobiographischen Bemerkungen von Ludwig Wittgenstein: zwischen Repräsentation und Konstruktion.Kulturwissenschaftliche Betrachtungen zum (auto-)biographischen Schreiben
Die autobiographischen Bemerkungen von Ludwig Wittgenstein: zwischen Repräsentation und Konstruktion.
Kulturwissenschaftliche Betrachtungen zum (auto-)biographischen Schreiben

Abstract

Bereits in den 1950er Jahren war seine Biographie „Legende“ (Ingeborg Bachmann), und spätestens nach den Jubiläen, hundertster Geburtstag (1989) und 50jähriger Todestag (2001), wurde das Bedürfnis laut, den Mythos Ludwig Wittgenstein entkräften zu wollen. Dazu sei aber „weder eine Sammlung von Erinnerungsstücken, noch ein biographisches Unternehmen im vertrauten Sinne (erlaubt), wo nach der Illusion der ‘Einheit von Werk und Leben’ gefahndet wird“, sondern vor allem Beteiligte, der Protagonist selbst, wie Zeitzeugen heranzuziehen. Kann dieser Ruf nach den sogenannten Primärquellen helfen, gewissen Stilisierungen der Biographen auf die Spur zu kommen bzw. den ‘wahren’ Wittgenstein zu entdecken? In diesem Diskussionskontext sind Wittgensteins autobiographische Bemerkungen in Bezug auf Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung interessant.

Table of contents

    Bereits in den 1950er Jahren war seine Biographie „Legende“ (Ingeborg Bachmann), und spätestens nach den Jubiläen, hundertster Geburtstag (1989) und 50-jähriger Todestag (2001), wurde das Bedürfnis laut, den Mythos Ludwig Wittgenstein entkräften zu wollen. Dazu sei aber „weder eine Sammlung von Erinnerungsstücken, noch ein biographisches Unternehmen im vertrauten Sinne (erlaubt), wo nach der Illusion der ‘Einheit von Werk und Leben’ gefahndet wird“, sondern vor allem Beteiligte, der Protagonist selbst, wie Zeitzeugen heranzuziehen.1 Kann dieser Ruf nach den sogenannten Primärquellen helfen, gewissen Stilisierungen der Biographen auf die Spur zu kommen bzw. den ‘wahren’ Wittgenstein zu entdecken? In diesem Diskussionskontext sind Wittgensteins autobiographische Bemerkungen in Bezug auf Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung interessant.

    Wie verläßlich ist ein Text, eine Geschichte über sich selbst oder andere? Skepsis ist stets angebracht, denn alle Erzählungen beinhalten bedeutsame Aufladungen, nicht Fakten, sondern ihre Bewertung durch den Erzähler. Oft gibt es unterschiedliche Varianten einer Erzählung, wie in David Edmonds und John Eidinow Wittgenstein’s Poker (2001) über die einzige Begegnung zwischen Karl Popper und Wittgenstein im Moral Science Club in Cambridge im Oktober 1946, wo verschiedene Versionen nebeneinander gestellt den Entstehungsprozeß einer bzw. vieler Geschichte(n) sichtbar machen. Diese reflexive Art der Darstellung wäre bei manchen biographischen Unklarheiten zu Wittgensteins Biographie (u.a. Homosexualität, Judentum, Misogynie) angebracht. Denn: „[…] some wish to see Wittgenstein as a companion in misery, as the gay review might suggest. Personal friends might wish to see something redemptive in Wittgenstein's struggles. Biographers may wish to find unity in a life. Philosophers of various stripes may wish to see Wittgenstein as an ally, or alternately as a purveyor of mistaken views“ (Klagge 2001, xii).

    Die Rekonstruktion ‘biographischer Wahrheit’ ist ähnlich schwierig, wenn es sich um die Bearbeitung von autobiographischem Material handelt. Das Ziel jedes autobiographischen Schreibens ist, sich Ausdruck zu verleihen, was bedeutet, inneren Erregungsprozessen nachzuspüren, fern jeder Strategie sich nach inneren, nicht äußeren Maßstäben zu richten. Das nannte Philip Lejeune den autobiographischen Pakt (1994), die Übereinstimmung des Autors mit dem Leser, daß das ‘Ich’ im Text der Autor selbst ist, und die Übereinkunft, Wahres zu erzählen, sowie der Darstellung Sinn und auch Bedeutung zuzuordnen. Dieser Anspruch, Realität wiederzugeben widerspricht jedoch der subjektiven Autorposition, denn jede Selbstdarstellung ist beeinflußt von Motiven und Mitteln der Darstellung. Neben sozialen und kulturellen Faktoren, die das Schreiben prägen, ist jedes Schreiben auch orientiert an Vorbildern und literarischen Modellen wie Roman, Brief oder Tagebuch, welche Inhalt und Formgebung prägen. Erwartet zwar der Leser von einem autobiographischen Text ein besonderes Maß an ‘Lebensechtheit’ oder ‘Wirklichkeitstreue’, so sei nach Lejeune in bezug auf Lebensgeschichten besser von Authentizität als von Wahrheit zu sprechen, denn es gehe um die psychische Realität des Ereignisses, die zeige, wie der Mensch die objektive Realität verarbeitet habe (1994, 158).

    Insbesondere nach den Erkenntnissen des linguistic und narrative turn, welche den Konstruktivismus vorbereiteten, stellt sich die Frage in der Biographieforschung der 1990er Jahre nicht mehr, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, sondern es wird nach den Strategien undKontexten der Darstellung gefragt, wie jede präsentierte Identität konstruiert, narrativ verfasst, kulturell, sozial und gendermäßig bedingt ist. Dabei werden die vormals selbstverständlichen Begriffe wie authentisch und unmittelbar ergänzt durch gestalten und inszeniert. Vor allem interessiert nun, welche „Verfahren den Effekt des Authentischen auslösen“.2

    Der Begriff der Authentizität kommt in Wittgensteins Manuskripten nicht vor, aber das Streben danach spielt in Wittgensteins Werk und Leben – und vor allem in der Rezeption – eine zentrale Rolle. Bei Ludwig Wittgenstein sei es gerade dieses unbedingte Streben nach einer ethischen Dimension in Philosophie und Leben, das ihn nach James Conant (neben anderen) für die Biographieforschung so faszinierend macht – gerade weil Wittgenstein ein Philosoph sei, der in der sokratischen Tradition der antiken Philosophie stehe: „philosophy as a way of life“ (Klagge 2001, 21ff.). Diese Einheit von Leben und Lehre pointiert Rudolf Haller als „praxeologischen Fundamentalismus“ (Macho 2001, 23). Während in Teilen der Wittgensteinliteratur der letzten zwei Jahrzehnte Wittgensteins sokratisches Ideal, sein ethischer Rigorismus, im Zentrum eines neuen Verstehens stand, gibt es neue, skeptische Fragen in der Biographieforschung, ob es seitens der Biographen nicht zu sehr zu einer Übereinstimmung von Wittgensteins Selbstsicht und ihrer Außensicht kam.3 Dieser Diskussionskontext macht es notwendig, Wittgensteins autobiographische Bemerkungen als Ausdruck von Selbstreflexion und Akt der Selbstdarstellung näher zu betrachten.

    Wittgensteins Reflexionen über autobiographisches Schreiben zeigen, daß er eine Autobiographie plante. Es bleibt jedoch bei fragmenthaften Bemerkungen, die sich quer durch den Nachlass ziehen. An ihnen läßt sich Wittgensteins Haltung zum Genre (Auto-)Biographie und Tagebuch wie die Problematik des Konzepts ‘Authentizität’ nachzeichnen.

    Wittgensteins autobiographische Reflexionen

    Wittgenstein schreibt im Jahr 1929 in den Philosophischen Betrachtungen: „Etwas in mir spricht dafür meine Biographie zu schreiben und zwar möchte ich mein Leben einmal klar ausbreiten um es klar vor mir zu haben und auch für andere. Nicht so sehr, um darüber Gericht zu halten als um jedenfalls Klarheit und Wahrheit zu schaffen“ (BEE). Doch Wittgensteins autobiographischen Bemerkungen ist die Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit von Wahrheit wie von Aufrichtigkeit stets immanent: „Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug. Wer in sich selbst nicht hinuntersteigen will, weil es zu schmerzhaft ist, bleibt natürlich auch mit dem Schreiben an der Oberfläche“ (17. Feb. 1938, BEE). Wittgenstein wies dem Biographischen in bezug auf das Verstehen seiner Gedanken eine wichtige Rolle zu, wenn es in seinem Tagebuch heißt: „Die Denkbewegungen in meinem Philosophieren müssten sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe und dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen“ (1999, 62). Das erhebt die autobiographischen Bemerkungen zu einer wichtigen Quelle. Dennoch sieht er auch die Ambivalenz, die dem Schreiben und dem Denken über sich selbst prinzipiell zugrunde liegt: „Die Wahrheit über sich selbst kann man in dem verschiedensten Geiste schreiben. Im anständigsten und unanständigsten.“ (1. Sept. 1929, BEE) Auch nennt er in Gesprächen mit Oets Bouwsma die Unbeständigkeit von Schreibmotiven und betont, daß jeder Text mehr Intentionen hat als die, die er zugibt. Und am 12. Dezember 1938 schreibt er in den Manuskripten: „Es ist unmöglich, wahrer über sich zu schreiben, als man ist.“ (BEE)

    Inszenierungs-Modi

    Wittgensteins Skepsis ist berechtigt: Denn in jeder autobiographischen Äußerung wird der Entwurf des Selbst verhandelt und kommuniziert. Auch Wittgensteins Bemerkungen entstehen im Hinblick auf einen fiktiven Selbstentwurf, sind für Adressaten gedacht, wenn nicht für eine andere Person, so doch für das gewünschte andere Ich: So will der Autor gesehen und sich verstanden wissen.

    Charakteristisch für Wittgensteins autobiographische Bemerkungen ist die Thematisierung der eigenen Eitelkeit, die mit jeder Art von Schreiben unmittelbar verbunden ist, wenn er am ersten September 1929 schreibt: „In der allerersten Zeit in Berlin als ich damit anfing auf Zetteln Gedanken über mich aufzuschreiben, da war es ein Bedürfnis. […] Später entsprang es zum Teil dem Nachahmungstrieb (ich hatte Kellers Tagebücher gelesen) zum Teil dem Bedürfnis doch etwas von mir niederzulegen. Es war also zum Großteil Eitelkeit.” (BEE) In weiten Teilen der Forschung werden diese Stellen zumeist als Ausdruck eines gepeinigten Strebens nach Aufrichtigkeit und Anständigkeit interpretiert. Doch wenn Wittgenstein die Gefahr von eitler Egozentrik als Hintergedanken des Tagebuchs einräumt, entzieht er sich nicht zugleich diesem Vorwurf, weil er seine eigene Unzulänglichkeit vor allem als 'genre-thing', als der narzißtischen Tendenz der Gattung Tagebuch inhärent, thematisiert? Wenn die eigene Aufrichtigkeit immer wieder hinterfragt wird, signalisiert das eine reflexive Auseinandersetzung mit sich selbst – oder geschieht es nicht auch in der Hoffnung, den autobiographischen Pakt mit dem Leser zu stärken? Dann wäre es nur ein Mittel der Darstellung statt des persönlichen Ausdrucks.

    Wittgenstein bemühte sich um Transparenz, wenn er seine Gesprächspartner als Korrektive oder Vorbilder nennt. Hier ist die Frage der Selbstverortung und -darstellung direkt berührt. Dennoch sind diese Verweise nicht als unmittelbares Faktum zu sehen, sondern der Akt ihrer Vergegenwärtigung ist stets mit einer individuellen Deutung verbunden. Vorbilder zu nennen heißt Bedeutung zuzumessen und sich in dieser Tradition verstanden wissen wollend, weil es das Selbstverständnis geprägt hat. Zwei Beispiele:

    Wittgensteins Tagebücher weisen zwar Charakteristiken der von ihn genannten literarischen Vorbilder Samuel Pepys und Gottfried Keller auf, doch wie Jacques Le Rider zeigt, gab es auch zahllose „Familienähnlichkeiten“ mit den Tagebüchern von diversen Vertretern der Wiener Moderne: ein Unbehagen an der Moderne, das Erleben einer Kulturkrise und einer krisenhaften eigenen Identität (2000, 19). Wittgenstein nennt zwar vielfach die Epoche Robert Schumanns als sein Kulturideal, doch er ist maßgeblich von Zeitgenossen beeinflusst, wie seiner persönlichen Lebenssituation. Das Erlebnis des Ersten Weltkrieges und der Fremde prägen seine sogenannten Kriegstagebücher, wie auch seine Selbstzweifel und religiöse Konversion, in Stil und Inhalt nicht nur Charakteristika seiner Person widerspiegeln, sondern zeit- und situationstypische Schreibformen.

    Solche Verweise auf Vorbilder finden sich meist in Mottos, Vorworten, Titel, Widmungen und Danksagungen. Jene sind Teil des sogenannten Paratexts (Gerard Genette), eine Textzone, die zwischen Autor und Leser vermittelt, Teil der privaten und öffentlichen Geschichte eines Buches ist – und damit auch eine Form der Präsentation. Ein Motto kann z.B. den Text kommentieren, seine Bedeutung spezifizieren oder auf einen Autor und damit eine Denktradition verweisen.

    Schreibt Wittgenstein in einem Vorwortsentwurf der Philosophischen Untersuchungen im Jahr 1943, daß er vor 16 Jahren mit der Philosophie wieder angefangen hat und ihn eine Relektüre des Tractatus zu der Idee veranlasste, beide Werke gemeinsam zu veröffentlichen – wurde später oft darüber spekuliert, ob Wittgenstein in den 1920er Jahren an seiner Philosophie gearbeitet habe. Nachweise dazu wurden erst später im Koder-Nachlaß und im Hänsel-Briefwechsel entdeckt. (Pichler 1997, 45) Daß Wittgenstein der Philosophie fern war, stimmt somit nur im Hinblick auf philosophische Institutionen, nicht inhaltlich. Hier kann Wittgensteins Vorwort als Teil einer Dramatisierung gesehen werden, die dem inneren Bedürfnis nach Wendepunkten nachkommt, die dem Leben gewissermaßen Leitmotive des Handelns und Erleidens einschreibt, die jeder Biographie Spannung und Dramatik gibt. Statt einem unspektakulären Prozeßcharakter bekommt die Begegnung und die Inspiration wegweisende Macht – und wird als solche oft von Biographen unreflektiert übernommen.

    Bei der Bearbeitung von autobiographischem Material ist stets die Legende, die ein Mensch im Laufe seines Lebens aufbaut, mit zu reflektieren. Diese Selbststilisierungen sind zum Teil von den Erwartungen der Gesellschaft mitmotiviert, als das verinnerlichte Soziale, den sogenannten Habitus (Pierre Bourdieu). So gehört es im Feld der Kunst dazu, eine eigenwillige Individualität herauszubilden. Deshalb sind (Auto-)Biographien oft nach einem Künstlertypus modelliert, ob „akademisches Schulhaupt“, „revolutionärer Neuerer“, „der Künstler als Universalgenie“ oder der „Einsame und Verkannte“ (Kris 1980, 27). Daneben prägen auch öffentliche Diskurse und gesellschaftliche Kontexte den Einzelnen in seiner Selbstwahrnehmung und Selbstpräsentation. Für Wittgenstein war ein relevanter Diskurs4 in bezug auf das Autobiographische der Geniekult in Wien um 1900, der die Nähe von Kreativität und Wahnsinn seitens der sogenannten „Ästhetik der Dekadenz“ propagierte, als Befreiungsakt von kulturellen Zwängen. Diese Idealisierung des Leidens – mit Bezug zum christlich-jüdischen Begriff des Leidens als Weg zur Läuterung der Seele (Augustinus) oder zur Erlösung (Schopenhauer) – finden sich in Wittgensteins autobiographischen Zeugnissen wieder: spezifisch in seiner Augustinus-Rezeption und seinen Gedanken zur Beichte, generell in seiner großen Leidensfähigkeit, an der Umgebung, an der zeitgenössischen Unkultur, an seinen Trieben, und an der Isolation, die wiederum gesucht wird, weil zugleich Quelle der schöpferischen Kraft. Er sieht sich als Randexistenz, wenn er die Angst formuliert im Wahnsinn zu enden oder im Selbstmord, und wird dort zum Prophet, wo er versucht das Unsagbare darzustellen, indem er auf den religiösen Aspekt seiner Arbeit, doch jenseits des Werkes, verweist. Auch seine formulierte Vorstellung vom kongenialen Leser scheint der Romantik und ihrer Genieästhetik verpflichtet: Dieser Genieglauben hatte mehrere Kontexte: in unmittelbarer Wiener Nachbarschaft die Stilisierung Otto Weiningers zum modernen Genie, im Kulturleben die Verehrung von Brahms oder Mahler, im Religiösen der Asketismus eines Augustinus, Tolstoi oder Kirkegaard (Shusterman 1996, 274).

    Auch bei der Werk-Genese, die Teil seiner Autobiographie ist, liegt der Gedanke an 'geniale' Stilisierung zumindest nahe: Wittgenstein verweigerte, sich zu veröffentlichen, unterrichtete nur ausgewählten Studenten, traf nur ausgewählte Mitglieder des Wiener Kreises, distanzierte sich von akademischen Ritualen und absentierte sich regelmäßig ins ‘einsame’ Abseits. Mit Erving Goffman ließe sich fragen, inwieweit Wittgenstein durch dieses „impression management“ seine soziale Identität unbewußt konstruierte. Stilisierungen von ‚Differenz’ und ‚Einsamkeitstopoi’, die sich in Beschreibungen von Freunden und Familie, später in denen der Biographien wieder finden.
    Zwei andere Beispiele:

    Geheimschrift und Geständnisse

    Wittgensteins Tagebücher vermitteln vielen Lesern „den Eindruck höchster Unmittelbarkeit und Aufrichtigkeit“, bis hin zur Assoziation mit der „Beichte eines Sterbenden“ (Guinness 1988, 332), wie seine Beichten – 1936/37 gegenüber Freunden und Familienangehörigen – oft als Konsequenz seines großen Bedürfnisses nach „Aufrichtigkeit“ gesehen werden. Verhehlt mancher auch nicht den darin liegenden Pathos (Macho 2001, 23), wird zumeist Wittgensteins Konversion zum Glauben in Folge der Erlebnisse des Ersten Weltkrieges und der Tolstoi-Lektüre zu einer Art 'Heiligenlegende' (Freadman 2002, 334) inszeniert – ohne die Stilisierungen des autobiographischen Materials formaler und inhaltlicher Natur mit in Betracht zu ziehen, oder die Rezeption formende Editionsweise.

    So kann gezeigt werden, daß Wittgensteins Geheimschrift nicht als geheim gedacht war, sondern geheim gemacht wurde. Zuerst durch den Akt des zensierenden Verschweigens durch die Nachlasswalter, dann emotional aufgeladen durch die Publikation getitelt Geheime Tagebücher, Geheimnisse und ihre Geheimhaltung suggerierend – während der Code leicht lesbar ist, eine Nachlaß-Anweisungen an den Leser beinhaltet und Wittgenstein, wie er an Russell schreibt, an einer Publikation als Rekontextualisierung des Tractatus gelegen war (Johannessen 1994, 34).

    Mythenumwoben ist auch Wittgensteins 'berühmte Beichte' aus dem Jahr 1936/37. Doch hinter dem bedeutungsstiftenden Singular verbergen sich zahlreiche Geständnisse an Freunde und Familie, zahllose beichteähnliche Stellen in seinem Tagebuch und als ‚Geständnisse’ betitelte persönliche Gespräche (Pichler 1997, 56). Jene Praxis der ‚Beichte’ wird assoziiert mit extremen Schuldgefühlen Wittgensteins sich selbst gegenüber und unterstreichen die Wahrnehmung Wittgensteins als ‚Sozialneurotiker’ oder ‚Heiliger’, statt jene auch als spezifische Kommunikationsform zu sehen, die den Adressaten nach Regeln des Genres ansprechen. Dieser Rhetorik war sich Wittgenstein bewußt: „Halbe Beichten gegen Mining in denen ich doch immer als ausgezeichneter Mensch zu scheinen weiss“ (Guinness, 1988, 98f.). Nach Jacques Voisine ist „die Beichte die Bestätigung einer Ordnung [...], die der Sünder übertreten hat; die Genugtuung tritt an die Stelle der Zerknirschung“ (Losego 2002, 44). Auch Wittgensteins Geständnisse scheinen nicht alleine ein Suchen nach Transformation zu sein, wie vielfach als Art Katharsis interpretiert, sondern auch eine Suche nach Bestätigung von außen, nach festen Ordnungen, ein Bemühen um das Stabilisieren von Beziehungen mit einem Gegenüber. Nannten Philip Lejeune und Gerard Genette die Wahl einer Gattung einen „Adressierungsvertrag“, denn jede Darstellung transformiert die Botschaft, ist mit Niklas Luhmann sogar zu behaupten: „The medium is the message“.

    Resümee

    Wie Helmut Lethen betont, liegt es jeweils in der Hand des Betrachters Dinge für authentisch zu erklären, denn „Dinge werden authentisch gemacht […] Dinge, Haltungen und Kunstwerke werden solange als für authentisch gehalten, wie die Autorität ihrer sozialen Inszenierung als unproblematisch erscheint“ (1996, 228). Folglich ist dem Begriff des Authentischen der der Konstruktion bereits inhärent: Jede Erfahrung und Präsentation von Erfahrung findet stets in sozial vermittelten Strukturen statt und präsentiert sich durch Kontexte geprägte Sprache. In dieser wechselseitigen Beeinflussung zwischen Diskurs und Erfahrung ist jede Identität auch das Resultat einer permanenten ‚Performance’.

    Literatur

    1. Conant, James 2001 “Philosophy and Biography”, in: Klagge, James C. (Hg.), Wittgenstein, Biography & Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 16–50.
    2. Freadman, Richard 2002 “Genius and the dutiful life: Ray Monk's Wittgenstein and the biography of the philosopher as sub-genre”, In: Biography, an interdisciplinary Quarterly, Vol. 25., Nr. 2, 301–342.
    3. McGuinness, Brian 1988 Wittgensteins frühe Jahre. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    4. Immler, Nicole 2004 Das Familiengedächtnis der Wittgensteins: Zwischen Repräsentation und Konstruktion. Dissertation an der Universität Graz.
    5. Iven, Mathias 2000 “Auf den Spuren Ludwig Wittgensteins in Niederösterreich”, in: Wittgenstein Jahrbuch, Innsbruck 145–147.
    6. Johannessen, Kjell S. u.a (Hg.) 1994 Wittgenstein and Norway. Oslo: Solum Forlag.
    7. Kris Ernst, Kurz Otto 1980 Die Legende vom Künstler, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    8. Le Rider, Jacques 2000 “Aljoscha, Myschkin oder Stavrogin? Die persönlichen Notizbücher und geheimen Tagebücher Wittgensteins”, in: Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne, Wien: Passagen, 285–312.
    9. Lethen, Helmut 1996 “Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze”, in: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Hamburg: Rowohlt, 205–231.
    10. Losego, Sarah V. 2002 “Überlegungen zur ‚Biographie‘”, in: BIOS 1, 24–46.
    11. Pichler, Alois 1997 Wittgenstein und das Schreiben: Ansätze zu einem Schreiberporträt, Diplomarbeit der Germanistik an der Universität Innsbruck.
    12. Shusterman, Richard 1996 “The philosophical life: Wittgenstein between Dewey and Foucault”, 261–283, in: Kjell S. Johannessen u.a. (Hg.), Wittgenstein and the philosophy of culture. 18th Int. Wittgenstein Symposium Kirchberg 1995. Wien.
    13. Wittgenstein, Ludwig 1999, Denkbewegungen. Tagebücher 1930-32, 1936-37. Ilse Somavilla (Hg.), Frankfurt/M.: Fischer.
    14. Wittgenstein 2000, Bergen Electronic Edition (BEE), Oxford: Oxford University Press.
    Notes
    1.
    Der Infotext zur 1996 eröffneten biographischen Dokumentation in Kirchberg Ludwig Wittgenstein Wirklichkeit und Mythos. Zit. n. Iven (2000, 146).
    2.
    Vgl. u.a. Lethen (1996, 209), sowie jüngste Diskussionen in den Kulturwissenschaften über den Begriff Performanz.
    3.
    U.a. verweisen Terry Eaglton und Brian McGuinness, detaillierter David Stern, Richard Shusterman und Richard Freadman auf eine fehlgeleitete Rezeption.
    4.
    Andere beachtenswerte Kontexte waren die Versuche im Bloomsburykreis das Genre Biographie zu erneuern; Russells Autobiographie-Entwurf, die Lektüre von Augustinus Confessiones, etc.. Vgl. Immler (2004).
    Nicole L. Immler. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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