und die Unterbrechung der inneren Stimme
Abstract
In diesem Papier gehe ich von einer Interpretation verschiedener Stellen des Briefwechsels Wittgensteins mit Rudolf Koder aus. Nach einer Rekonstruktion von Aspekten von Wittgensteins Musikauffassung um 1930 (Meinen, Verstehen, „innere Stimme“) wird diese mit späteren Motiven aus den PU konfrontiert (Erlebnis, Absicht, Inspiration). Wie weit hat sich Wittgenstein von früheren Auffassungen entfernt und spielten seine musikalischen Vorlieben dabei eine Rolle?
Table of contents
Zum Auftakt dieses Papiers möchte ich einige kurze musikbezogene Stellen aus Wittgensteins Briefen an Rudolf Koder zum Anlass nehmen zur Behandlung von Fragen das Meinen und Verstehen von Musik sowie neue Erfahrungen betreffend.
Was seinen Musikgeschmack angeht war Wittgenstein scheinbar konservativ – fast ausschließlich schätzte er Komponisten der klassisch-romantischen Epoche der europäischen Musikgeschichte. Dass diese Vorlieben nicht notwendig mit einer konservativen Musikauffassung einhergehen, hoffe ich hier zeigen zu können.
Der Briefwechsel Wittgensteins mit Koder,1923 aufgenommen und bis zu Wittgensteins Tod im Jahre 1951 fortgeführt, zeugt von einer engen Freundschaft, in welcher Musik eine ganz besondere Rolle spielte. In den Briefen wurde diese aber kaum fortlaufendes Thema einer Diskussion. In 23 der 70 von Wittgenstein verfassten Briefe ist von Musik die Rede, in vier davon gibt es Äußerungen zu musikästhetischen Fragen: Ich werde zwei davon als Startrampe verwenden, nämlich die Briefe 36 und 45.
Zunächst zitiere ich aus dem Brief 36 (zw. 21.01. u. 28.02.1930): „Neulich war ich in einem Konzert & hörte die Klarinetten Quintette von Mozart & Brahms skandalös aufgeführt. Sie haben besser geklungen wie wir sie miteinander spielten! Wirklich! Wir haben uns doch die größte Mühe gegeben & und sie richtig gemeint.“ (Alber 2000, 32)
Mich lässt hier die Begründung aufhorchen, die Wittgenstein für das bessere Klangergebnis der eigenen Aufführung gibt. Der erste Teil davon ist sicherlich im Hinblick auf den ernsthaften Menschen verständlich, der höchste Ansprüche an sich und andere stellte und Nachlässigkeit nicht tolerierte. Der zweite Teil berührt eine prominente Problematik Wittgensteins: das Meinen, also die Frage nach den Bedeutungen von Ausdrücken.
Ich möchte noch einen Moment bei der Hervorhebung dieses „gemeint“ verweilen. Wie wäre es, wenn Wittgenstein in dem betreffenden Satz statt des „gemeint“ das „richtig“ unterstrichen hätte? Dann hätte man es mit dem Streit um die angemessene Interpretation, um die mehr oder weniger richtigen Alternativen, ein Stück zu „meinen“ zu tun. Dieser Streit ist jedoch nicht derjenige, auf den Wittgenstein an dieser Stelle offenbar hinauswill. Ich denke, es geht ihm eher darum, ein Musikstück überhaupt zu meinen oder nicht zu meinen. Er behauptet, beim Musizieren mit Koder seien die Stücke „richtig gemeint“ worden, während sie bei jener kritisierten Aufführung zwar gespielt, aber eben nicht richtig gemeint worden seien.
Wenn also gemeinte Stücke besser klingen – worin genau liegt dann der klangliche Unterschied zwischen einem gemeinten und einem nicht gemeinten Stück? Der Brief 36 gibt darüber keine genauere Auskunft. Der übrige Briefwechsel weist aber kontinuierlich darauf hin, in welcher Richtung der Unterschied zu suchen sei: Im Brief 92 schreibt Wittgenstein begeistert vom Klavierspiel seiner Schwester Helene, die Labor „mit unglaublichem Ausdruck“ spiele (Alber 2000, 69) und im Brief 118, dass er Koder glaube, wenn dieser schreibe, seine Schwester spiele „Mozart mit schönem Ausdruck“ (Alber 2000, 86). Diese Stellen heben den Ausdruck als qualitatives Merkmal hervor – manche Stellen werden darin auch spezifischer: Die schlechte Qualität einer Aufführung von Bruckners 7. Symphonie wird im Brief 111 unter anderem dadurch begründet, dass die brucknerspezifische „Süße“ gefehlt hätte (Alber 2000, 81f.).
Diese und weitere Stellen in Wittgensteins Briefen weisen auf die außerordentlich wichtige Rolle hin, welche dem Ausdruck für die Qualität einer Aufführung zukommt. Dies spricht dafür, dass auch die Bewertung der Klarinetten-Quintette im Brief 36 maßgeblich mit dem Ausdruck zu tun hat, dass also die kritisierte Aufführung nicht einen solchen Ausdruck aufwies, wie ihn Wittgenstein und Koder beim Spielen derselben Stücke erzielt hatten. Wenn ich diese Möglichkeit ein Stück weiterführe, dann ließe sich Wittgensteins Erklärung als Antwort auf die Frage nach dem klanglichen Unterschied von gemeinten und nicht gemeinten Stücken folgendermaßen paraphrasieren: Damals, als wir die Klarinetten-Quintette spielten, haben wir sie richtig gemeint und uns die größte Mühe gegeben und deshalb haben wir einen solchen Ausdruck hervorgebracht und die Stücke haben besser geklungen als bei der besagten „skandalösen“ Aufführung.
Wenn auch eine enge Verwobenheit von Meinen, Ausdruck und der Qualität musikalischer Aufführungen angenommen werden kann, so bleiben die näheren Verhältnisse dieser im Sinne einer Theorie des Meinens und Verstehens von Musik weitgehend unbestimmt. Deshalb, gewissermaßen um das Bild zu schärfen, wende ich mich nun folgender Stelle im Brief 45 (zw. 25.10. u. 14.11.1930) zu: „Die einzige Möglichkeit ein Musikstück kennen zu lernen ist doch die: Du spielst es & merkst dabei deutlich, daß Du die & die Stellen noch ohne Verständnis spielst. Du kannst nun entweder auf diese Stimme (in Deinem Inneren) nicht weiter hinhorchen & das Stück verständnislos wie früher spielen, oder Du horchst auf die Stimme, dann wirst Du getrieben, die betreffende Stelle wieder & wieder zu spielen & quasi zu untersuchen. Je weniger träge Du bist desto weiter wird das gehen, d.h. desto mehr Stellen werden Dir als noch nicht wirklich gefühlt aufgehen.“ (Alber 2000, 37f.)
Ohne Umschweife möchte ich der Erklärung für dieses „dabei deutlich merken, dass“ Gehör verschaffen. Wittgenstein schreibt, man vernehme eine „Stimme (in deinem Inneren)“, auf die man „weiter hinhorchen“ könne oder nicht. Es soll sich also um etwas handeln, das im Inneren beim Spielen oder Hören von Musik vernommen wird und das beachtet oder ignoriert werden kann. Diese Beschreibung lässt eine Art Zwiegespräch von Innerem und Äußerem vermuten, ein gegenseitiges Durchwirken von musikalischen Klängen und Lauten der inneren Stimme. Wenn man sich entschließe der Stimme zu lauschen, dann nehme man die Rolle eines Folgenden ein. Dann werde man durch die Stimme „getrieben“, die betreffende noch unverständliche Stelle „wieder & wieder zu spielen & quasi zu untersuchen“. Durch die Wiederholung noch unverständlicher Stellen werde aber die innere Stimme nicht endlich zum Schweigen gebracht, sondern vielmehr ermuntert und bekomme Gesellschaft durch einen anwachsenden Chor von anschwellenden neuen Stimmen, welches dazu führe – davon ist Wittgenstein überzeugt – dass man sich immer besser in sich auskenne. Der Brief 45 kann helfen, einen zusätzlichen Faden zwischen den beiden Komponenten von Wittgensteins Erklärung für ein besseres Klingen der Klarinetten-Quintette in Brief 36 zu spinnen: Es wird nicht einerseits „sich die größte Mühe gegeben“ und andererseits „richtig gemeint“, was man spielt, sondern es bedeutet vielmehr auch die größte Mühe, das eigene Verständnis so zu entwickeln, dass man überhaupt in der Lage ist, ein Stück richtig zu meinen – es fordert gewissermaßen Arbeit am Sinn.
Der weitere Verlauf der Passage ist nicht mehr eindeutig musikbezogen, sondern fügt sich tendenziell in den weiteren lebenspraktischen Kontext des Briefes ein, der die Wichtigkeit des Handelns gegenüber dem Nachdenken herausstellt. Bezogen auf das Musikverstehen heißt das, den üblichen Handlungsrahmen zu unterbrechen (die bisherige Spielpraxis) und die Tätigkeit auf blinde Flecken des Verständnisses zu konzentrieren. Wittgenstein gibt hier den Ratschlag, im Praktischen weiterzugehen, also eine Sache zu tun oder zu unterlassen und dort werde man zu größerer Klarheit (über sich) gelangen. Diese pragmatische Wendung ist bekanntermaßen eine entscheidende in Wittgensteins Philosophie – mich interessiert hier die Erklärung des Impulses zu diesem Schritt im Kontext des Musikverstehens, denn diese gehört zu jenen der frühen Briefe, die aus der Perspektive wittgensteinscher Spätphilosophie problematisch erscheinen können.
Jemandem gegenüber, der die Erklärung von Handlungen durch eine „innere Stimme“ für theoretisch vertretbar hielte, fielen einem Wittgenstein-Leser wahrscheinlich drei Hauptstrategien ein, um einer solchen Erklärung kritisch zu begegnen: Erstens könnte man auf provokativ wortwörtliche Art und Weise nach dieser Stimme fragen – z.B. ob sie männlich oder weiblich sei, welche Tonlage, ob sie Dialekt rede oder etwaige Sprachfehler hätte... also pointiert gefragt: Können wir ein „Erlebnis der inneren Stimme“ aufweisen? Zweitens könnte man skeptisch nachfragen, wie der Betreffende denn wüsste, ob er jeweils der inneren Stimme richtig gefolgt sei – hier wiederholt sich das Regel- oder Deutungsparadox: Meine Entscheidung fälle ich allerdings nach Wittgenstein in Brief 45 nicht darüber wie, sondern ob ich folgen will. Drittens könnte man die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Zusammenhanges zwischen jener inneren Stimme und den Handlungen befragen, zu denen sich der Betreffende getrieben fühlt. Selbst wenn mit bestimmten Handlungen das „Erlebnis einer inneren Stimme“ regelmäßig einher ginge, ist noch kein Zusammenhang aufgewiesen – genauso gut könnte es sich um eine Begleiterscheinung handeln (vgl. PU 156-178 zum „Erlebnis des Einflusses“).
Interessant ist aber die undogmatische Art, mit der in den PU 232 und 233 die Rede von der inneren Stimme behandelt wird. Hier beschreibt Wittgenstein eine Technik der Inspiration, bei der eine Art des Hinhorchens (derselbe Ausdruck wie in Brief 45), eine Rezeptivität erlernt wird – allerdings wird das Ergebnis vom Regelfolgen explizit unterschieden. Die Technik, einer inneren Stimme folgend eine Linie zu zeichnen, kann ich lehren, aber nicht der Linie so zu folgen wie ich. Dass der Schüler nicht die gleichen Ergebnisse produziert wie ich, ist konstitutiv für dieses besondere Spiel der Inspiration. Wittgenstein hat dort auch noch angemerkt, dass es sich nicht um seine persönlichen Erfahrungsberichte handle, sondern um grammatische Anmerkungen. Unbesehen eines Aufweises in der Erfahrung hat die Rede von der inneren Stimme im Spiel der Inspiration also eine sinnvolle Verwendung. Und so ließe es sich auch vorstellen, dass Wittgenstein im Brief 45 die Erklärung der inneren Stimme als Teil dieses Spiels verwendete und nicht etwa sie zur Grundlage einer Theorie des Musikverstehens zu machen beabsichtigte.
Ich möchte abschließend einer Auffassung nachgehen, nach welcher die wittgensteinschen Argumentationslinien die folgenden Möglichkeiten nicht ausschließen: 1. Dass wir Erlebnisse haben, 2. dass mit üblichen Ausdrucksverwendungen regelmäßig bestimmte Erlebnisse einher gehen und 3. dass diese eine gewisse Relevanz haben. Diese Möglichkeit ist u.a. von Klaus Puhl in „Subjekt und Körper“ beschrieben worden (Puhl 1999, 122). Er gibt dort im Rahmen der Behandlung von Wittgensteins Subjektkritik einen Kommentar zu Wittgensteins Überlegungen zu intentionalen Einstellungen in PU 337, wo es heißt: „Die Absicht ist eingebettet in der Situation, den menschlichen Gepflogenheiten und Institutionen. Gäbe es nicht die Technik des Schachspiels, so könnte ich nicht beabsichtigen, eine Schachpartie zu spielen.“ Puhl interpretiert dieses im Rahmen einer nicht-platonistischen Erläuterung von intentionalen Einstellungen, die in ein wie es bei Puhl heißt „normativ-soziales Begriffs- und Handlungsgewebe von erfolgreicher, versuchter oder vereitelter Ausführung oder Erfüllung eingebettet“ sind. Im Rahmen solcher Institutionen – so Puhl in Abgrenzung zur Position Crispin Wrights – spräche nichts gegen die Relevanz von Stimmungslagen und psychischen Begleitvorgängen für eine bestimmte Absicht. Ich kann demnach mit Wittgenstein eine Situation so beschreiben: Eine bestimmte Stimmungslage ist relevant für meine Absicht, ein bestimmtes Musikstück zu spielen und beim Spielen dieses Musikstücks habe ich regelmäßig bestimmte Erlebnisse, die wiederum für meine Absicht, das Stück zu spielen, relevant sein können.
Können dann Stimmungen oder Erlebnisse auch dafür relevant sein, etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu tun? Ich meine dieses bejahen zu können, denn es gibt Institutionen dafür, wie man etwas tut – man denke an das überaus komplexe Feld des menschlichen Umgangs. Vielleicht ist das ob und wie hier nur ein Unterschied der Beschreibung. Wenn also die Art und Weise etwas zu tun, mit Stimmungen zusammenhängen kann, dann könnte man etwa für das Beispiel des Musizierens sagen, dass Stimmungen oder seelische Zustände dafür relevant sein können, auf bestimmte Art und Weise zu musizieren.
Das heißt natürlich nicht, dass der Ausdruck, mit dem ich ein bestimmtes Stück spiele, durch meine Erlebnisse erzeugt oder determiniert würde und ich übersetze auch nicht meine Erlebnisse in Musik. Aber mit diesem Ausdruck können regelmäßig bestimmte Stimmungen oder psychische Begleitvorgänge einher gehen und diese können auch z.B. für eine intentionale Einstellung relevant werden. Diese Möglichkeiten ergeben sich für solche Erlebnisse oder Stimmungen, welche in Institutionen eingebettet sind.
Was also die Verwobenheit von Meinen, Verstehen und Ausdruck des Stückes angeht, ergibt sich aus Wittgensteins Spätphilosophie meiner Einschätzung nach keine Notwendigkeit, die Formulierungen der frühen Briefe zu korrigieren. Auch die Rede von der inneren Stimme muss keineswegs als fehlerhafte Auffassung einer verworfenen Theorie abgelehnt werden, sondern behält ihre sinnvolle Verwendung im Rahmen einer bestimmten kulturellen Praxis des Musikverstehens.
Allerdings geht es im Brief 45 um eine andere Tätigkeit, als diejenige, die Wittgenstein im Zusammenhang mit der Technik der Inspiration in PU 232 erwähnt, nämlich das Unterbrechen einer Gewohnheit durch eine rezeptive Einstellung. Hier hat man es nicht mit einem jener abnormen Fälle zu tun, bei denen wir innehalten, weil wir nicht wissen, wie wir fortfahren sollen. Es handelt sich vielmehr um ein Innehalten in einem Handlungsablauf, den wir weiterführen könnten – wir wissen, wie wir fortzufahren haben und trotzdem halten wir inne.
Dieses alles wirft vielleicht ein verändertes Licht auf Wittgensteins vermeintlichen musikalischen Konservatismus, denn mit der praktischen Ausübung dieses unterbrechenden Spiels entpuppt sich das vermeintlich gemütlich Altbekannte als noch weithin unverstanden und als fordernder Anlass der näheren Auseinandersetzung.
Ich bin der Überzeugung, – und dieses ist das Thema meiner Dissertation – dass diese und andere Facetten einer sprachphilosophisch-musikästhetischen Konfrontation besonders dort äußert fruchtbar sind, wo die neue Musik des 20. Jahrhunderts die Institutionen überschreitet, wo sie die Interpreten und Hörer einer manchmal nahezu radikalen Verständnislosigkeit und der Forderung nach einer bisweilen unabsehbaren Arbeit am Sinn aussetzt. Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
Literatur
- Alber, Martin (eds.) 2000 Wittgenstein und die Musik. Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder: Briefwechsel (Brenner-Studien Band XVII), Innsbruck: Haymon.
- Puhl, Klaus 1999 Subjekt und Körper. Untersuchungen zur Subjektkritik bei Wittgenstein und zur Theorie der Subjektivität, Paderborn: Mentis.
- Wittgenstein, Ludwig 1984 Philosophische Untersuchungen, in: Ders. Werkausgabe Band 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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