Abstract
Die Familienchronik der Wittgensteins, verfasst von Ludwig Wittgensteins ältester Schwester Hermine, wurde bisher vor allem als Quelle zur Biographie des Bruders verwendet, doch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive interessiert welche Bedeutung das Verfassen einer Familiengeschichte für die Autorin wie für die ganze Familie hatte; und heute noch hat. Gefragt wird nach den hintergründigen Motive und Intentionen des Textes, nach den Strategien autobiographischen Schreibens, den Konstruktionsprinzipien von Erzählung, Erinnerung und Identität und den Formen der Selbstdarstellung: Erst dann wird deutlich, warum gerade diese und keine andere Geschichte erzählt wird. Hier kann gezeigt werden, warum die Familienerinnerungen trotz ihres harmonisierenden Charakters ein erhebliches Konfliktpotential auch für zukünftige Generationen in sich tragen, dass Erinnerungen eine Gruppe nicht nur stabilisieren, sondern durchaus auch destabilisierend wirken können.
Table of contents
Die baldige Veröffentlichung der Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein macht es notwendig den Text in seiner Gesamtheit zu analysieren und zu kontextualisieren. Denn die Familienchronik ist nicht nur eine zentrale Quelle für die biographische Ludwig Wittgenstein-Forschung, sondern bis zu einem gewissen Masse – wie jede Darstellung – eine fiktionale Konstruktion einer autobiographischen Selbstdarstellung, welche durch die Intentionen der Autorin, die Wahl des Genres Familienerinnerungen und den Entstehungskontext, die Jahre 1944–48 in Wien, geprägt ist.
Jede Familie konstruiert und vermittelt sich durch Kommunikation. In gleicher Weise formt sich das Familiengedächtnis über die im Kollektiv immer wieder erzählten Erinnerungen an Personen und Ereignisse der gemeinsamen Geschichte. Es sind Erinnerungen, in denen „Vorstellungen und Urteile der Familie über sich selbst“ und über andere enthalten sind (Leonhard 2002, 205). Somit geben die Familienerinnerungen, ein 250-seitiges Typoskript der ältesten Schwester Ludwig Wittgensteins, Aufschluss über die Selbstwahrnehmung der Familie Wittgenstein – wie auch darüber, wie sie gesehen werden wollte.
Es war nicht nur ein Gefühl der Pietät gegenüber der Familie, welches dieses Stück Familiengeschichte so lange im Vergessenen hielt, sondern auch der Zweifel am Wert dieses Schriftstücks – seitens Familie und Forschung; eine Skepsis, die von Seiten der Kulturwissenschaften ausgeräumt werden kann. Sie interessiert, welche Bedeutung das Verfassen einer Familiengeschichte für die Autorin wie für die ganze Familie hatte; und heute noch hat. Hier wird folgende Hypothese vorgestellt: Hermine Wittgenstein verfolgte mit der Chronik nicht nur eine deskriptive Beschreibung der Familiengeschichte, sondern auch eine Stärkung ihrer Position innerhalb der Familie. Dieser emanzipatorische Impetus der Chronik wurde in der Forschung bisher verkannt. Ebenso soll gezeigt werden, warum die Familienerinnerungen trotz ihres harmonisierenden Charakters ein erhebliches Konfliktpotential in sich tragen.
Die Autorin: Hermine Wittgenstein (1874–1950), in der Familie ‚Mining‘ genannt, ist die Älteste der sechs Geschwister und wohnt, unverheiratet geblieben, lebenslang im Elternhaus in der Alleegasse 16 (seit 1921 Argentinierstraße) im vierten Wiener Bezirk, hinter der Karlskirche. Sie erstellt gemeinsam mit dem Vater Karl Wittgenstein die familiäre Gemäldesammlung, hat Malunterricht, spielt ausgezeichnet Klavier und organisiert musikalische Veranstaltungen im Familienkreis. 1913 erbt sie das Anwesen Hochreit und wird quasi das ‚Familienoberhaupt‘ und Großgrundbesitzerin. Im Jahr 1921 gründet sie eine eigene Tagesheimstätte für Knaben in Grinzing, die nach dem Anschluss Österreiches an Deutschland im Jahr 1938 durch die Nationalsozialisten aufgelöst wird. Im Juni 1944 beginnt sie im Alter von 69 Jahren auf der Hochreit die Familienerinnerungen zu schreiben, die sie im Oktober 1948 krankheitsbedingt beendet, eineinhalb Jahre vor ihrem Tod. Anschließend wurde das im Krieg in Mitleidenschaft gezogene elterliche Palais, viele Jahrzehnte ein Zentrum des Wiener Kulturlebens, veräußert und abgerissen; was als das Ende einer Ära gesehen werden kann.
Das Familiengedächtnis ist nicht nur eine Geschichte, wie der Einzelne seine Vergangenheit mobilisiert und ihr Bedeutung gibt, sondern auch das Verhältnis zur eigenen Geschichte und zu anderen konstruiert. Einen Text über sich selbst zu schreiben bedeutet, das eigene Ich zu ‚entwerfen‘, das erfordert Geschichten zu erzählen, über sich selbst, über andere, Geschichten, die andere über einen erzählen oder in welche man selbst eingebunden ist, als Teil einer sozialen Gruppe. In autobiographischen Texten überschneiden sich daher Literatur und Geschichtsschreibung, Fakt und Fiktion (Bruner 1998). Deshalb sind die Konstruktion, die Struktur und die Mechanismen des Textes zu durchleuchten, um erklären zu können, warum von Hermine Wittgenstein gerade diese Geschichte – und keine andere – erzählt wird.
Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedeutet stets ein besonderes Verhältnis zur Gegenwart zu haben, denn „Erinnerung ist etwas, um mit der Gegenwart zu Recht zu kommen“.1 Da Geschichte immer aus dem Blick der jeweiligen Gegenwart aktualisiert wird (Maurice Halbwachs), geben die Wittgensteinschen Familienerinnerungen insbesondere über die Erzählsituation, die Jahre unter nationalsozialistischer Herrschaft und die unmittelbaren Nachkriegsjahre im Großbürgertum in Wien, Auskunft. Und diese Gegenwart lässt, wie zu sehen sein wird, nur bestimmte Erzählungen über die Vergangenheit zu.
Zusätzlich sind Familienerinnerungen ein spezifisches Genre, welches ebenfalls nur gewisse Inhalte ermöglicht. Carol Feldman nennt das Genre ein „mentales Modell“ (Bruner 1998, 67) das die Produktion wie auch die Rezeption formt. Hermine Wittgenstein setzt somit durch die Wahl des Genres eine deutliche Botschaft: Der Text kommuniziert ‚Familie‘, vor deren Gesamtheit der Einzelne mit seinen Wünschen und seiner Lebensgeschichte zurückzutreten hat. So charakterisiert beispielsweise die Chronik eine geneaologische Struktur einer Ahnen- und Namensforschung, eine Art „Kompilation“, gekennzeichnet durch die „Geste […] der Wiederholung“ statt der „Geste des Widerspruchs““ (Assmann 1998, 181), oder dadurch, konfliktbeladene oder bedrohliche Erlebnisse eher auszublenden, Brüche in einem integrativen Rahmen zu präsentieren oder ruhigen Zeiten viel Aufmerksamkeit zu schenken. Andere Erzählungen finden sich hingegen in Briefen oder Tagebüchern, die wiederum einer anderen Rhetorik (z.B. der der Selbstbespiegelung) verpflichtet sind. Gewisse Leerstellen (z.B. das Ausblenden familiärer Konflikte, religiöser Gefühle oder literarischer Interessen) entsprechen so oft mehr der Logik oder Rhetorik des Genres als der Familiengeschichte.
Dieser harmonisierende Charakter wird auch durch verschiedene Erzählmodelle unterstützt: Die häufige Verwendung von ‚Wir-Erzählungen‘ und des Begriffs des gesellschaftlich-sozialen ‚Rahmens‘, der die Familie vor 1938 umgeben hatte, sind Merkmale einer ausgeprägten Stabilitätserzählung. Auch die Kritik Hermines an ihren Eltern dient dieser Harmonisierung, indem durch die dialektische Erzählweise die eigene (Kinder-)Generation homogenisiert wird. Und selbst der geschilderte Konflikt der Familie mit den Nationalsozialisten – die Einführung der Nürnberger Gesetze in Österreich und das Ansuchen der assimilierten Familie Wittgenstein um Arisierung in Berlin – kaschiert faktisch die Homogenisierungsarbeit am individuellen Gedächtnis, die Eliminierung innerfamiliärer Konflikte. Doch gerade eine solche Bedrohung von außen stärkt zerfallende Entitäten. So kommt es zu einer kulturellen Selbstzuordnung zur k.u.k.-Monarchie lange nach deren Auflösung und zum Bekenntnis zur österreichischen Staatsbürgerschaft im Moment ihrer Abschaffung. So wird in den Familienerinnerungen alles genannt, was die kollektive Identität stärkt: der Name, die Herkunft, Feste und Rituale, insbesondere jedoch die Wertschätzung einzelner Familienmitglieder durch Personen des öffentlichen Lebens. Damit scheinen die Erinnerungen die Intention zu verfolgen, die Familie Wittgenstein durch ein bewusstes ‚Einschreiben‘ in die österreichische Kultur der Habsburger Monarchie nicht nur als „sozial bedeutsam“ und „österreichisch“ zu legitimieren, sondern sie konzentrieren sich auch auf die staatsbürgerlichen Treuedienste und die ehrenvollen Charaktere der väterlichen Linie – und sind somit in einem ähnlichen Geiste verfasst wie das Ansuchen der Familie um Arisierung in Berlin. Auch hier wollte die Familie durch Leistung überzeugen und stellte die Herkunft hinten an. Fast so, als hätte man die Einsicht Michel Foucaults gekannt: „Die Erforschung der Herkunft liefert kein Fundament: sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für kohärent hielt.“ (Foucault 1998, 50) Die ‚Negation‘ des Jüdischen, sichtbar in einem deutlichen Assimilations-Narrativ, spielte somit für die Entstehung der Familienerinnerungen eine zentrale Rolle. Wenn es beispielsweise über die Familie des Großvaters Wilhelm Figdor heißt: „[Sie] waren Juden, fühlten sich aber, wie man das damals konnte, als Österreicher und wurden auch von Anderen als solche betrachtet“ (Wittgenstein 1948, 3).
Doch die Familienchronik scheint nicht nur aus dieser kollektiven Verunsicherung heraus entstanden zu sein, wie der jüdischen Herkunft der Familie, dem „Anschluss“ im Jahr 1938 und dem Vermögens- wie Besitzverlust, sondern zugleich höchst individuell motiviert von Hermine Wittgensteins persönlichen Verunsicherungen: Angesichts des Familienstreites mit dem Bruder Paul über die Notwendigkeit des Exils sowie einer generellen Tendenz des Auseinanderfallens des Familiengefüges und dem damit verbundenen Verlust ihrer Position als Familienoberhaupt.
Beginnen die Familienerinnerungen mit dem Krieg, der Zerstörung und der Verzweiflung, enden sie in der Erleichterung darüber, was nach Kriegsende noch Bestand hat. Im Nachhinein rechtfertigen gerade diese ‚Überreste‘ des Familienbesitzes Hermines Beharren darauf in Österreich zu verbleiben. Die Familienchronik scheint eine Legitimation zu stiften, nicht nur in Zeiten der gesellschaftlichen, sondern auch der persönlichen Krise. Sie scheinen eine private Strategie Hermines im Streit mit dem Bruder Paul zu sein, eine Rechtfertigung für ihre Entscheidung, 1938 in Wien zu bleiben und nicht wie er nach Amerika auszuwandern, wie er es erwartet hatte: „Paul verglich [unsere Situation] mit einem brennenden Haus und sagte, sie rechtfertige den Sprung aus dem Fenster, nämlich die Flucht aus Österreich unter Zahlung der Reichsfluchtsteuer; ich konnte und wollte aber diese Auffassung nicht teilen, da sie mich vor große seelische Verluste und vor Probleme gestellt hätte, die ich mich nicht zu meistern traute.“ (Wittgenstein 1948, 158) Im Zuge dessen kommt es zu einer Idyllisierung der Familie und ihres bürgerlichen soziokulturellen ‚Rahmens‘, um den familiären Zusammenhalt in Zeiten des Auseinanderfallens wie auch ihre eigene Position als Familienzentrum zu beschwören. So präsentiert sie sich als eine Person, die ausschließlich in den Rahmen der Familie und sozialer Verpflichtungen integriert ist, was einen Neuanfang im Exil ziemlich erschwert hätte. Doch anders als es die Familienerinnerungen suggerieren, zeigt die Gegenwart der frühen 1950er Jahre eine zerstrittene Familie, die viel Geld verloren und die Grenzen ihrer Macht sowie ihre Abhängigkeit von einem politischen Regime gespürt hat. Hat der Krieg die Familie auch oberflächlich gesehen zusammengeschweißt, unterstreicht das Verfassen der Familienerinnerungen dennoch den geschwisterlichen Konflikt durch die Rückbesinnung von Hermine auf die familiäre Herkunft und Tradition, während Paul sich in Amerika zu integrieren versucht, seine Wurzeln aufgeben muss, um neue zu finden.
Die Struktur des Textes, Brüche und Ausblendungen, die autobiographische Aufladung besonders „elaborierter Geschichten“ (Sieder 199, 250), insbesondere die Diskrepanz zwischen Selbst- und Aussenbild zeigen, dass die Familienerinnerungen auch für die Autorin selbst geschrieben wurden, zur Ausbildung, Stärkung und Versicherung ihrer Identität – auch wenn ihre zurückgenommene Art und ein Gestus der Bescheidenheit das gesamte Werk durchziehen. So beschreibt sie im Text nur ihre häusliche Rolle und ihre Fremdheit gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit, kritisiert ihren „verträumten Egoismus, der mich förmlich hermetisch gegen meine Umwelt abschloß“ (Wittgenstein 1948, 96), beschreibt die Unterlegenheit gegenüber ihren Geschwistern, untertreibt ihre Talente und ihren Einfluss. Hermine zeichnet idyllische Sphären des Rückzugs – eine willkommene Position nach 1945 – und verwendet die Familienerinnerungen vor allem als ein Instrument für die „Verinnerlichung des bürgerlichen Wertekanons“, doch subkutan zeigen sich soziale und kulturelle Strategien der individuellen Positionierung und Selbstbehauptung, u.a. der Versuch der Kompensation für den Kontrollverlust nach 1938.
Denn auffällig ist, dass die Familienerinnerungen einen viel konservativeren Eindruck von der Familie hinterlassen als sie tatsächlich im Detail sind. Das hat mit dem präsentierten Bild von Familie zu tun (trotz der Opferrhetorik ist es eine Erfolgsgeschichte des ‚Familiensinns‘), der Rhetorik des Genres, dem Schreibstil und der Sprache, die eine vergangene Epoche reflektieren. Sie überformen die inhaltlich progressiven, kritischen und traumatischen Elemente – wie die Fortschrittsgläubigkeit in der Familie, präsent in der Karriere des Vaters, ihrer Vorliebe für die Secession sowie ihrer Kritik an den Erziehungsmethoden der Eltern, die sie für den Tod ihrer Brüder mitverantwortlich macht. Erst die Rekontextualisierung zeigt, wie sehr der politische ‚Zeitgeist‘ der 1940er Jahre hereingewirkt und die Erinnerungen diktiert hat. Mit der Beschreibung der schwierigen 1940er Jahre rückt zugleich jene Zeit in den Mittelpunkt, in der die Familiengeschichte zum zentralen Gegenstand von Aushandlungen und die Autorin zu einer zentralen Akteurin in diesem Feld wird. Deshalb sind die Familienerinnerungen eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und ein emanzipatorischer Akt der „schweigenden“ Hermine (Selbstbezeichnung). Sie übt einerseits Macht aus über das Vergessen, andererseits ist die Suche nach Herkunft auch eine nach Unterschieden. So kommt es mit dem Verfassen der Familienerinnerungen zu einer Hierarchisierung des Familiengedächtnisses: indem eine offizielle Form festgehalten wurde, bleiben alle anderen Variationen im Verborgenen. Hermine ist somit als Chronistin nicht nur Traditionsbewahrerin, sondern ihr Text wird selbst zum Kanon – der nicht unumstritten ist.
Die Einstellung gegenüber den Familienerinnerungen changiert bei den Nachkommen der Familie Wittgenstein, den Stonboroughs, Sjögrens und Stockerts zwischen Identifikation, Ablehnung und Gleichgültigkeit, das zeigen einige Auszüge aus Interviews,2 geführt angesichts ihrer baldigen Veröffentlichung. Für Hermines Großneffen Andreas Sjögren ist eine Familienchronik „a source of pride [satisfying] a normal curiosity one has of one’s family“. Auch Pierre Stonborough (1932), Enkel von Hermines Schwester Margarete, hat gegen eine Veröffentlichung nichts einzuwenden: Nun, nachdem alle Beteiligten verstorben sind, ist „nichts mehr privat, alles gehört der Geschichte“. Er verbindet mit einer Veröffentlichung sogar die Hoffnung, die disparaten Familienzweige mit Verweis auf die vorangegangene Generation einander anzunähern. Aus dieser Perspektive wird die Veröffentlichung der Familienchronik als dem Familiengeist zuträglich erachtet. Doch eine fixierte Familiengeschichte hat nicht nur Identitätspotential, sondern beherbergt auch Stoff für Konflikte. Deutlich wird das, wenn sich zwei Vertreter der Nachkommengeneration von der Chronik bewusst distanzieren.
Cecilia Sjögren, Enkeltochter von Hermines Schwester Helene, hält die Familienerinnerungen an sich nicht für veröffentlichungswert, weil sie nur deshalb interessant seien, da Hermine die Schwester von Ludwig Wittgenstein war, oder die Tochter von Karl Wittgenstein. Zudem ärgern sie „die Selbstbezichtigungen und die Unreflexivität der Selbstdarstellung“ ihrer Großtante, deren „Pseudo-Bescheidenheit“ und Verherrlichung der Geschwister ihr mangelndes Selbstbewusstsein reflektiere. Damit will sie sich heute nicht mehr identifizieren, während hingegen in ihrer Kindheit die Chronik noch eine große Rolle gespielt hat. Ihre Mutter (Clara Sjögren, 1913–70) hatte ihren Kindern aus den Erinnerungen vorgelesen, mit dem Anliegen ihre Welt, in der sie aufgewachsen war, ihnen nahe zu bringen und den Text reich bebildert und für jedes Kind kopiert und gebunden. Die Tochter hat dazu heute ein ambivalentes Verhältnis, auch weil die Schattenseiten von Karl Wittgensteins Erfolgen sowie die Selbstmorde dreier seiner Söhne zu wenig beleuchtet sind.
Auch der 1986 verstorbene Sohn von Margarete, Thomas Stonborough, distanzierte sich von der Familienchronik und nannte sie eine „Legende“ der Tante Mining, weil alles geschönt sei, statt zu zeigen, dass sich die Familienmitglieder nicht untereinander verstanden haben. Er erklärt damit Hermine durch ihre ungemäße Beurteilungen zum „militanten Anachronisten“ (Botho Strauss), statt zu sehen, dass der Text inhaltlich und formal geformt ist durch die Sprache und Rhetorik eines Genres, den konservativen gesellschaftlichen Trend und Tenor der Rechtfertigungsliteratur der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie durch die prekäre Situation Hermines.
Cecilia Sjögren interpretiert diese Zuschreibung „Legende“ als Ausdruck dafür, sich von der Familie distanzieren und lösen zu wollen, und resümiert: „Vielleicht ist das bei mir auch so“. Die Ablehnung der Familienchronik scheint somit ein Zeichen von Emanzipation zu sein – doch sie signalisiert zugleich eine emotionale Involviertheit, die wiederum geradezu charakteristisch ist für Familienmitglieder, die mit „schlechtem Gewissen“ vom Familienerbe oder „im Schatten der Familie“ leb(t)en, so Pierre Stonborough mit kritischem Blick auf seinen Vater Thomas. Insbesondere für ein Familienmitglied, welches dafür bekannt war, große Teile des Familienerbes veräußert zu haben, verkörpert die Familiechronik alleine durch ihre Existenz das schlechte Gewissen einer Erbengeneration, die vom unermesslichen Vermögen Karl Wittgensteins gelebt hat.
Das Misstrauen gegenüber der Familienchronik kann somit inhaltlich, persönlich bedingt, aber auch strukturell begründet werden. Heute, in einer Gesellschaft, die sich an funktionaler Differenzierung orientiert, kann die Selbstbeschreibung eines Individuums nicht mehr auf soziale Positionen zurückgreifen, sondern nur mehr auf die eigene Individualität. Aus dieser Perspektive heraus muss die Schreibweise der Familienchronik befremdlich wirken. Zudem mag eine Familiengenealogie auch jenen Familienmitgliedern unangenehm erscheinen, die nicht mehr mit diesem großbürgerlichen Habitus vertraut sind. Schließlich hatten der Krieg, der Vermögensverlust und die gesellschaftlichen Umwälzungen die Familie sehr verändert. Der Text bildete sozusagen keine Identifikationsbasis mehr. Erinnerung gelingt nur in einem ‚milieu de mémoire‘, geht dieses verloren, „verliert die Erinnerung ihren konstruktiven Widerpart und wird zu einem Phantom“ (Assmann 1999, 164). Zudem hatte der Nationalsozialismus die Familienforschung und damit auch das Genre Familienchronik für lange Zeit erheblich diskreditiert, wie auch der Strukturalismus der Nachkriegszeit (auto-)biographischer Literatur ein grundlegendes Misstrauen entgegenbrachte. Erst die narrative Wende in der Wissenschaftskultur der 1970er Jahre führte zu einer gesamtgesellschaftlichen positiveren Wahrnehmung dieser Art von Quellen. In den 1990er Jahren führten die öffentlichen Diskussionen über Restitution bei den Wittgenstein-Nachkommen dazu, sich zur Vergangenheit neu zu äußern.
In der Frage nach dem jeweiligen Umgang mit der Familiengeschichte ist angesprochen, was Maurice Halbwachs die soziale Bedingtheit von Gedächtnis nannte: die Aktivität aller Familienbeteiligten beim Aushandeln einer geteilten Version der Vergangenheit. Gemeinhin gilt das Erinnern, Erzählen und Schreiben als ein interaktiver Prozess, der durch ein dialogisches Vergegenwärtigen der Familiengeschichte Zusammengehörigkeitsgefühl stiftet. Doch scheint gerade die Existenz einer Familiengeschichte abweichende Vorstellungen zu konkretisieren und ein Konfliktpotential für die Zukunft in sich zu bergen. Ein Blick auf die generationsspezifischen Erfahrungen und ihren jeweiligen Umgang mit Erinnerung hilft hier, die Kluft zwischen den Generationsgedächtnissen besser zu verstehen und eventuell zu überwinden, indem ein Bewusstsein für einzelne Motive und beeinflussende Umfelder geweckt wird. Damit zeigt sich das Familiengedächtnis als ein unabschließbarer Prozess, der stets offen für neue Codierungen der Geschichte(n) ist.
Literatur
- Assmann, Aleida 19983 Schrift und Gedächtnis, in: Jan und Aleida Assmann und Christoph Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München: Fink, 265–284.
- Assmann, Aleida 1999 Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Suhrkamp.
- S. Bruner, Jerome 1998 Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, in: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 46–80.
- Foucault, Michel 1998 Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Christoph Conrad und Martina Kessel (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart: Reclam, 43–71.
- Halbwachs, Maurice 1966 Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin: Luchterhand.
- Immler, Nicole L. 2005 Das Familiengedächtnis der Wittgensteins: autobiographische Praxis und ihre Strategien. Die Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein und die autobiographischen Bemerkungen von Ludwig Wittgenstein. Kulturwissenschaftliche Reflexionen zu Konstruktion und Repräsentation, Dissertation an der Universität Graz.
- Leonhard, Nina 2002 Öffentliche versus familiale Geschichtserinnerung? Beobachtungen zur individuellen Deutung des Nationalsozialismus bei drei Generationen, in: Gerald Echterhoff und Martin Saar (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz: uvk, 203–223.
- Sieder, Reinhard 1999 Gesellschaft und Person: Geschichte und Biographie. Nachschrift, in: Ders. (Hg.), Brüchiges Leben. Biographien in sozialen Systemen, Wien: Turia & Kant, 234–264.
- Wittgenstein, Hermine 1948Familienerinnerungen, Typoskript, Wien.
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