Wittgensteins Tractatus im Lichte der Linguistic und der Pictorial Turns
Wittgensteins Tractatus im Lichte der Linguistic und der Pictorial Turns

Abstract

Wittgensteins Logisch-philosophische Abhandlung wird als zentraler Text der sog. linguistic turn angesehen. Dafür spricht sowohl der Text als auch Wittgensteins spätere Interpretation seiner eigenen Arbeit. In ihr nimmt die sog. Bildtheorie einen wesentlichen Platz ein. Berücksichtigt man Wittgensteins weitere Texte, so seine Notizen und auch Gesprächsaufzeichnungen, scheint diese sogar eine der sog. Sprachtheorie zumindest gleichwertige theoretische Bedeutung zu haben. In Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung wird demnach nicht eine Sprachtheorie verkündet, sondern es werden Sprache und Bild als Metapher eingeführt und die philosophische Relevanz beider diskutiert.

Die Bezeichnung 'Bildtheorie der Sprache' ist dann irreführend, wenn in ihr beide Konzepte miteinander vermengt werden und das Bild in den Dienst der Sprache gestellt erscheint. Die Bezeichnung ließe sich nämlich genauso aus der anderen Richtung lesen: Sprache erscheint dann als das System, das abbildet und zeigt. Und schließlich besteht die Möglichkeit, Bildtheorie und Sprachtheorie als zwei eigenständige Theorien zu betrachten.

Table of contents

    Die von Gustav Bergmann Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Ausdruck 'linguistic turn' bezeichnete neueste philosophische Revolution wurde, wie Bergmann das festhält, von Ludwig Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung mit initiiert. "Of late philosophy has taken a linguistic turn. At least this is true of a large and, by general agreement, significant part of all philosophical activity that went on in the English-speaking countries during the last one or two generations. (...) The causes of this linguistic turn or, if you please, the roots of the movement (...) are many, in part diffuse and anonymous as well as very complex. Yet the influence of three men, Moore, Russel, and Wittgenstein, stands out." (Bergmann 1952: 417). Richard Rorty übernahm 1967 die Formulierung von Gustav Bergmann und machte sie mit seinem Sammelband bekannt. "The phrase 'the linguistic turn' which Bergmann uses [in Bergmann 1964: 177] and which I have used as the title of this anthology is, to the best of my knowledge, Bergmann's own coinage" (Rorty 1967: 9.)

    Bekanntlich gilt Wittgenstein als Initiator der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Sein "Tractatus Logico-Philosophicus (1922) is a paradigmatic exercise in logical analysis, resting on the assumption that 'A proposition has one and only one complete analysis' (Wittgenstein 1922, 3.25)." Dieser Gedanke sei im Wiener Kreis zu einem philosophischen Programm weiterentwickelt worden, das nach 1945 analytische Philosophie genannt wurde. "It is (...) in the explicitly anti-metaphysical context of logical positivism that there occurs the transition from 'philosophical analysis', conceived of as an important method of inquiry, to 'analytical philosophy', which restricts genuine philosophy to analysis, as in Gustav Bergmann A Positivistic Metaphysics of Consciousness (Bergmann 1945: 194), which is, I think, the first explicit use of the term 'analytic philosophy'" (Baldwin 1998: 225).

    Richard Rorty und Thomas Baldwin finden also beide bei Gustav Bergmann die erste Verwendung der Ausdrücke 'linguistic turn' resp. 'analytical philosophy', die beide auf eine sprachanalytische Wende in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts verweisen.

    Ich möchte also hier nicht viel Zeit mit dieser ersten These meines Vortrages verbringen, lediglich festhalten, dass Ludwig Wittgenstein mit seiner Logisch-philosophischen Abhandlung 1921 als Initiator der sprachphilosophischen Wende der Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt.


    Weniger allgemein anerkannt dürfte meine zweite These sein, dass er mit demselben Werk genauso als der Initiator einer zweiten philosophischen Wende gelten könnte, nämlich der 'pictorial turn', die laut ihren Vertretern spätestens im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erfolgt sein soll (vgl. Mitchell 1992 und Mirzoeff 1999). Ich möchte meinen Vortrag der Begründung dieser zweiten These widmen.

    Wittgensteins so genannte 'Bildtheorie der Sprache' findet sich in den Sätzen 2.1-3.01 der Logisch-philosophischen Abhandlung. Der Ausdruck Bildtheorie wird zwar von Wittgenstein selbst nicht verwendet, hat sich jedoch in der Literatur über ihn durchgesetzt. Die Bedeutung dieser Bildtheorie ist damit insofern angegeben, dass (1) diese 'Bildtheorie der Sprache' eine Einführung in die 'Sprachtheorie' - ein Ausdruck, der von Wittgenstein in der Logisch-philosophischen Abhandlung ebenfalls nicht verwendet wird - des Buches ist und (2) deshalb auch vor dieser Sprachtheorie (3.1-4.11) steht. So wird, um ein Beispiel herauszugreifen, in dem Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung gewidmeten Sammelband der von Otfried Höffe herausgegebenen Reihe 'Klassiker Auslegen' 2002 über die "von Wittgenstein im Tractatus entworfene Bildtheorie gedanklicher und sprachlicher Repräsentation" (Vossenkuhl 2001: 112) gesprochen, somit also die 'Bildtheorie des Tractatus' als auf Gedanken und Sätze Bezogenes aufgefasst.

    Liest man den Text Wittgensteins etwas genauer, erweist sich, dass wesentlich mehr über 'Bild' gesprochen wird als diese eine Satzreihe. Bild taucht in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen auf und keinesfalls nur als Einführung in die 'Sprachtheorie'.

    Um eine prominente Stelle herauszugreifen: Im Satz 6.54, im vorletzten Satz also vor dem berüchtigten Schlusssatz mit der Aufforderung zu schweigen, behauptet Wittgenstein, dass das, was nicht gesagt werden könne, sehr wohl gezeigt und gesehen werden könne. Was im Zusammenhang meines Vortrages so viel heißt, dass in der Logisch-philosophischen Abhandlung genau dort, wo der Sprache ihre Grenze gezogen wird, dem Zeigen und Sehen und also dem Bild, das ja gezeigt und gesehen wird, ein Ort zugewiesen wird.

    "Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt", (6.13) heißt es im Text, den Wittgenstein logisch-philosophische Abhandlung genannt hat - und niemals 'Tractatus logico-philosophicus' - und deren erster Satz "Die Welt ist alles, was der Fall ist" lautet. Eine philosophische Abhandlung, deren Hauptproblem - wie das also der Titel deutlich hervorhebt - die Logik ist, definiert diese als Spiegelbild der Welt, also Spiegelbild von dem, was der Fall ist. Eine zentrale Stelle, die nur dann hinlänglich erklärt werden kann, wenn man der Frage nachgeht, was hier unter Bild verstanden wird.

    Die Formulierung, die Logik spiegle die Welt wider, wird von Wittgenstein in der Logisch-philosophischen Abhandlung bereits an einer früheren Stelle verwendet. Inmitten einer aufwändigen Diskussion über Satzform und logische Operationen stellt Wittgenstein die Frage: "Wie kann die allumfassende, weltspiegelnde Logik so spezielle Haken und Manipulationen gebrauchen?", und gibt auch gleich die Antwort darauf: "Nur, indem sich alle diese zu einem unendlich feinen Netzwerk, zu dem großen Spiegel, verknüpfen." (5.511) Keinesfalls sind also die logischen Einzeldiskussionen des Textes um der Diskussion der in ihnen behandelten Fragen willen da, sondern um der Darstellung dieses "unendlich feinen Netzwerks", einer Darstellung, die freilich der Text selbst, also die Logisch-philosophische Abhandlung, ist.

    Folgt man der Spiegelmetapher weiter zurück, gelangt man zur Auslegung des Begriffs Satz: "Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf." (4.121) Diese Stelle spricht die zweite These meines Vortrages aus: In der Logisch-philosophischen Abhandlung wendet sich Wittgenstein vom Paradigma der Sprache ab und dem Paradigma des Bildes zu. Nicht darum geht es ihm, was im Satz ausgesagt wird, sondern um die Form, die sich in ihm zeigt.

    Bild kann in der Logisch-philosophischen Abhandlung als Modell aufgefasst werden. Dies legen eine Notizbuchaufzeichnung Wittgensteins vom 29. 9. 1914, die mit einem Zeitungsbericht über eine Unfallsrekonstruktion in einem Gerichtssaal mithilfe eines Modells das Auftauchen der Bild-Idee zu erklären scheint, und Sätze wie 2.12 "Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit", nahe. Mit dieser Auffassung wird das Konzept des Bildes innerhalb des Textes zweifellos erweitert. Ebenfalls ist es ein interessantes Gedankenexperiment, den Hinweis Wittgensteins im Satz 2.12 so zu verstehen, dass man im Text das Wort 'Bild' mit dem Wort 'Modell' ersetzt und den Sinn des so entstandenen neuen Textes zu begreifen versucht. Ich möchte bei der 'Interpretation' des Textes jedoch nicht so weit gehen. Ich begnüge mich mit der Feststellung, dass mit dem Modellbegriff das Konzept des Bildes eine neue und heuristisch nutzbare Facette erhält.

    Die Konzept Bild wird in der Logisch-philosophischen Abhandlung durch den Begriff 'Form' eingeführt (2.014-2.0212 bzw. 2.022ff): die Bilder der Welt, die wir entwerfen, bestehen aus in verschiedenen Sachverhalten geordneten Gegenständen, dessen "Möglichkeit des Vorkommens in Sachverhalten" dessen Form genannt wird. Wittgenstein redet weiters nicht nur über Form, sondern über 'logische Form' (2.18 etc.), 'Form der Abbildung' (2.15 etc.), 'Form der Darstellung' (2.173 etc.), 'Form der Welt' (2.026) und 'Form der Wirklichkeit' (2.18). An der soeben zitierten Stelle hieß es, der Satz könne die logische Form nicht darstellen, sie spiegele sich in ihr. Die hier nahe gelegte Unterscheidung zwischen etwas - hier die Form oder die 'logische Form' - darstellen und spiegeln - und im weiteren Verlauf von 4.121 zeigen und aufweisen - erweitert die Anzahl der Funktionen entschieden, mit denen wir zu Bildern gelangen können. Mit Form haben wir also genauso wie mit Modell ein heuristisches Konzept, dessen Bedeutung im Zusammenhang meines Vortrages ganz genau dieses ist: Sie ist da, um die Einsicht in etwas zu ermöglichen, das Wittgenstein emphatisch und geheimnisvoll das Mystische und die Philosophie nannte.

    All das, was abgebildet, dargestellt und gezeigt wird, bzw. was 'sich zeigt' und 'sich spiegelt', gehört dem Bild an, auch dann, wenn es in der Sprache oder in der Logik geschieht. So analysiert Wittgenstein das Wesentliche der Bildhaftigkeit des Satzes von der Form aRb, den wir als Bild empfinden (4.012f.), und bestimmt sein Wesen in der Abbildung (4.016).

    Die physikalische Beschreibung der Welt liefert je nach zugrunde gelegtem Erklärungsmodell verschiedene Bilder (6.341ff.). Wittgenstein erwähnt namentlich die Mechanik von Isaac Newton und Heinrich Hertz - bezieht sich also nicht auf Albert Einsteins Theorie, obwohl das jahreszahlmäßig durchaus angebracht wäre, hatte doch Einstein seine Relativitätstheorien 1905 resp. 1915 publiziert. Worum es Wittgenstein geht, ist nämlich nicht die aktuell bessere Theorie zu preisen, sondern genau um den Nachweis, dass physikalische Theorien ein mehr oder weniger feines Netzwerk sind, dass sie die Welt einfacher oder weniger einfach beschreiben (6.342).

    Bild taucht also in der Logisch-philosophischen Abhandlung in verschiedenen Zusammenhängen auf, aus denen ich hier fünf Beispiele anführte: als Vertreter des Unsagbaren, als zentraler Wesenszug der Logik und des Satzes, als Synonym mit Modell, als eine der Bedeutungen von Form, als Name für die physikalische Welterklärung. Ein weiterer - und keinesfalls der einzige oder gar 'wichtigste' - Zusammenhang seines Vorkommens ist die als 'Bildtheorie' bekannte Satzreihe. Versucht man den Stellenwert des Konzeptes Bild in der Logisch-philosophischen Abhandlung zu bestimmen, lässt sich die These aufstellen, dass Wittgenstein mit ihm einen zentralen Begriff gefunden hat, der zum Verstehen der Sprache hinführt um über sie hinaus dorthin zu gelangen, wo laut Wittgenstein die Möglichkeiten der Sprache enden.

    Der Ausdruck 'pictorial turn' stammt von W. J. T. Mitchell, der 1992 einen Text mit diesem Titel in der Zeitschrift Artforum veröffentlichte. Mitchell führt den Ausdruck in Anlehnung an Richard Rortys Ausdruck 'linguistic turn' ein. So beginnt er seinen Text mit der Behauptung "Richard Rorty has characterized the history of philosophy as a series of 'turns' in which 'a new set of problems emerges and the old ones begin to fade away.'" (Mitchell 1992: 89) Ein Hinweis in diesem Text zeigt, dass die Beurteilung von Ludwig Wittgensteins Rolle in der 'pictorial turn' weiterer Diskussionen bedarf - zu denen ich mit diesem Vortrag beitragen möchte. "I would locate the picturial turn", schreibt Mitchell 1992, "in the thought of Ludwig Wittgenstein, particularly in the apparent paradox of a philosophical career that began with a 'picture theory' of meaning and ended with the appearance of a kind of iconoclasm, a critique of imagery that led him to say, 'A picture held us captive. And we could not get outside it, for it lay in our language and language seemed to repeat itself to us inexorably' (Wittgenstein 1953, I: 115). Rorty's determination to 'get the visual, and in particular the mirroring, metaphor out of our speech altogether' echos Wittgenstein's iconophobia, and the general anxiety of linguistic philosophy about visual representation. This anxiety, this need to defend 'our speech' against 'the visual', is, I want to suggest, a sure sign that a pictorial turn is taking place" (Mitchell 1992: 89).

    Zusammenfassend möchte ich also festhalten, dass Wittgenstein mit dem selben Werk als Initiator zweier Wenden im 20. Jahrhundert gelten könnte und zwar einer Wende zu und einer Wende weg von der Sprache oder der Sprachphilosophie. Das Ziel meines Vortrages war auch ein zweifaches. Erstens wollte ich Argumente anführen, die diese Abwendung von der Sprachphilosophie hinreichend begründen, und zweitens wollte ich zeigen, dass zwar mit der Verleihung von reißerischen Titeln nicht unbedingt der Sache selbst gedient wird, zugleich aber mit diesen Benennungen - in meinem Vortrag ging es um 'linguistic turn' und 'pictorial turn' - philosophische Tendenzen bezeichnet werden, die - trotz der in diesen Titeln angezeigten 'Wenden' - gleichzeitig und parallel - so etwa in Ludwig Wittgensteins Logisch-philosophischer Abhandlung - als Teil einer langen Tradition betrieben werden können.

    Literatur

    1. Baldwin, Thomas 1998 Analytical Philosophy, in: Craig E. (ed.) Routledge Encyclopedia of Philosophy Vol 1., Routledge, London and New York
    2. Bergmann, Gustav 1945 A Positivistic Metaphysics of Consciousness, in: Mind, T. Nelson & Sons, Edinburgh
    3. Bergmann, Gustav 1952 Two Types of Linguistic Philosophy, in: The Review of Metaphysics, 5, March, Yale University, New Haven, Connecticut
    4. Bergmann, Gustav 1964 Logic and Reality, University of Wisconsin Press, Madison
    5. Mitchell, W.J.T. 1992 The Pictorial Turn, in: Artforum, March, New York
    6. Mirzoeff, Nicholas 1999 An Introduction to Visual Culture, Routledge, London
    7. Rorty, Richard 1967 Introduction. Metaphilosophical Difficulties of Linguistic Philosophy, in: Rorty R. (ed.) The Linguistic Turn, The University of Chicago Press, Chicago & London
    8. Vossenkuhl, Wilhelm (Hrsg.) 2001 Ludwig Wittgenstein Tractatus Logico-Philosophicus, Akademie Verlag, Berlin
    9. Wittgenstein, Ludwig 1921 Logisch-philosophische Abhandlung, in: Ostwald W. Hrsg. Annalen der Naturphilosophie, Unesma, Leipzig
    10. Wittgenstein, Ludwig 1922 Tractatus Logico-Philosophicus, Routledge & Kegan Paul, London
    11. Wittgenstein, Ludwig 1953 Philosophical Investigations, Basil Blackwell, Oxford
    Karoly Kokai. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
    This page is made available under the Creative Commons General Public License "Attribution, Non-Commercial, Share-Alike", version 3.0 (CCPL BY-NC-SA)

    Refbacks

    • There are currently no refbacks.