Tanzen, Filme und die Mathematik (Die Rolle der Zeit in der Mathematik bei Wittgenstein)
Tanzen, Filme und die Mathematik
(Die Rolle der Zeit in der Mathematik bei Wittgenstein)

Abstract

In vier Etappen wird die Rolle der Zeit in Wittgensteins Philosophie der Mathematik dargestellt:
    1. Die Zeit bei Wittgenstein
    2. Die Unzeitlichkeit mathematischer Sätze
    3. Mathematik und Filme
    4. Mathematik und Tanzen Dabei wird gelegentlich auf Simone Weil und Henri Bergson Bezug genommen.

Table of contents

    In vier Etappen wird die Rolle der Zeit in Wittgensteins Philosophie der Mathematik dargestellt:
        (1) Die Zeit bei Wittgenstein
        (2) Die Unzeitlichkeit mathematischer Sätze
        (3) Mathematik und Filme
        (4) Mathematik und Tanzen
    Dabei wird gelegentlich auf Simone Weil und Henri Bergson Bezug genommen.

    1. Die Zeit bei Wittgenstein

    Die Frage nach der Herkunft der Zeit weist Wittgenstein als philosophisches Problem im Wesentlichen von sich:

    Nun: könnten wir von Minuten und Stunden reden, wenn es keinen Zeitsinn gäbe? (BGM VII §18)

    Der Verweis auf einen „Zeitsinn“ bringt Fragen nach einer phänomenologischen oder begründungstheoretischen Fundierung des Zeitbegriffs zum Verstummen. Allerdings lässt sich die Rolle von Zeit aufgrund einiger Bemerkungen positionieren:

    Denken wir uns, ein Gott schaffe in einem Augenblick in der Mitte der Wüste ein Land, das zwei Minuten lang existiert und das genaue Abbild eines Teiles von England ist, mit alldem was in zwei Minuten da vorgeht. [...] Einer dieser Leute tut genau das, was ein Mathematiker in England tut, der gerade eine Berechnung macht. – Sollen wir sagen, dieser Zwei-Minuten-Mensch rechne? (BGM VI §34)

    Die Zeit verhilft Tätigkeiten zu deren Namen (auch dem Betreiben von Mathematik): Gewisse Handlungen würden gar nicht oder nicht so bezeichnet werden, wären sie nicht in eine Praxis eingebunden, die schon lange existiert.

    Menschen haben geglaubt, sie können Regeln machen; warum sollte ein König nicht in dem Glauben erzogen werden, mit ihm habe die Welt begonnen? Und wenn nun Moore und dieser König zusammenkämen und diskutierten, könnte Moore wirklich seinen Glauben als den richtigen erweisen? Ich sage nicht, daß Moore den König nicht zu seiner Anschauung bekehren könnte, aber es wäre eine Bekehrung besonderer Art: Der König würde dazu gebracht, die Welt anders zu betrachten. (ÜG §92)

    Eine Zeitvorstellung, die den Beginn der Zeit mit der Geburt des Königs ansetzt, würde die ganze Sicht der Welt revidieren. Jede grundlegende Änderung unserer Zeitvorstellung, wie etwa die Annahme eines Stillstehens oder Entfernens von Zeit, wäre nicht möglich, ohne dass wir die Welt anders sehen würden.

    2. Die Unzeitlichkeit mathematischer Sätze

    Wittgenstein sagt: Es ist den mathematischen Zeichen und Begriffen wesentlich, dass man sie auch „in Zivil“ (BGM V §2) gebraucht. Dieser grundlegende Zug seiner Philosophie, alltagsweltlich wohlverankerte Begriffe zu fordern, ist nicht zu verwechseln mit der bloßen Monierung von Anwendungsbezug. Was gefordert wird, erfolgt nämlich nicht im Nachhinein, nicht durch Anpassung der Theorie im Ganzen, sondern durch die Anbindung der Wissenschaft an ganz bestimmten, sehr ursprünglichen Stellen, eben den Begriffen.

    Wenn die Begriffe der Mathematik „in Zivil“ gebraucht werden müssen, also in den Kontext einer alltäglichen Handlungspraxis zu stellen sind, so sind sie doch in einer wesentlichen Hinsicht einem Handlungscharakter entzogen: Sie werden in unzeitlichen Sätzen verwendet (siehe z.B. BGM I §27, BGM I §103, BGM VI §2). (Das bedeutet mehr als dass sie selbst unzeitlich gebraucht werden. Die Unzeitlichkeit mathematischer Begriffe wie „2“ etwa taugt nicht, diese von anderen Begriffen zu unterscheiden, denn Begriffe funktionieren immer auf der Basis einer gewissen Bedeutungsstabilität, und umgekehrt ändert sich die Bedeutung von „2“ nach Wittgenstein doch auch, wenn wir z.B. feststellen, dass wir Objekte zählen können, die wir bisher nicht kannten. Zur Modifikation von Begriffen siehe Abschnitt 4.

    Eine Figur, in der fünf Striche den fünf Ecken eines Sterns zugeordnet werden (BGM I §27), kann man als Anweisung verstehen, wie man Stäbe an Leute, die sternförmig angeordnet dastehen, verteilen kann – dann betreibt man aber nicht Mathematik (obwohl man es mit einem normativen Satz zu tun hat). Mathematik ist es nur als Konstatierung von Gleichzahligkeit in einer gewissen geometrischen Konstellation. Man könnte als Ergebnis der Zuordnung auch die Gleichzahligkeit zweier nicht näher bestimmbarer Ansammlungen von Objekten feststellen. Dann kommt darin kein Bezug auf Zeit vor, aber auch dabei handelt es sich nicht um Mathematik, solange die Konstellationen der Objekte und deren Zusammenhang nicht begrifflich erfasst sind. Wenn wir über keine Begriffe verfügen, haben wir keine Möglichkeit, das Festgestellte von der konkreten, empirisch gebundenen Situation abzuheben und es unzeitlich zu meinen. (Die Übertragung von Mustern, Paradigmen, von der Wittgenstein häufig spricht, hängt davon ab, dass wir Gesamtheiten von bzw. in Mustern identifizieren, d.h. Begriffe verwenden.)

    Das Spezifische an Wittgensteins Auffassung setzt aber erst hier an: Auch die Sätze, die wir mit Hilfe der Begriffe bilden, sind in der Mathematik ihrerseits Begriffe. (siehe z.B. BGM VII §42). Durch das Aufnehmen des Zusammenhangs, den der mathematische Satz ausdrückt, in das normativ-begriffliche Repertoire der Sprache wird die Mathematik der Empirie entzogen.

    In der Mathematik wird die Zeit durch Begriffsbildung eliminiert. Damit man es mit Mathematik zu tun hat, darf also das, was beschrieben wird, keine Zeit enthalten? Nach der Zeit parametrisierte Kurven beschreiben zeitlich ablaufende Phänomene und sind dennoch Mathematik. Als Gegenstände mathematischer Sätze funktionieren sie allerdings unzeitlich, ihre Verwendung wird so gedacht, dass sie zu jedem Zeitpunkt immer die Gleichen sein mögen.

    3. Mathematik und Filme

    Nun aber denk’ dir, daß dieser ganze Vorgang, dies Experiment mit den hundert Kugeln, gefilmt wurde. Ich sehe nun auf der Leinwand doch nicht ein Experiment, denn das Bild eines Experiments ist doch nicht selbst ein Experiment. – Aber das ‚mathematisch Wesentliche’ am Vorgang sehe ich nun auch in der Projektion! Denn es erscheinen da zuerst 100 Flecke, dann werden sie in Zehnerstücke eingeteilt, usw., usw. (BGM I, §36/S.51)

    Das ist zunächst ein Argument dagegen, dass mathematische Sätze und Beweise Experimente sind. Man kann es so reformulieren: Ein gefilmtes Experiment ist kein Experiment (weil der Ausgang schon klar ist); ein gefilmter mathematischer Sachverhalt bleibt ein mathematischer Sachverhalt; daher können mathematische Sachverhalte keine Experimente sein. Mathematik ist also kein Beobachtungsergebnis. Da Wittgenstein hier das Wort „Vorgang“ verwendet, könnte man meinen, dass die Zeit für ihn die Rolle spielt, die auch Simone Weil beschreibt:

    Cependant, il y a toujours un certain temps auquel nous restons soumis : nous ne pouvons faire le polygone avant le triangle. Mais ce temps-ci n’est plus celui que nous considérons à l’heure : le temps est conservé comme règle de l’action, mais tout ce qu’il y a d’imprévu dans le temps est supprimé. (Weil 1989, S.73)

    Wittgenstein spricht aber sowohl explizit als auch anhand mehrerer Beispiele von einem unzeitlichen Gebrauch. In dem Film kommt zwar ein zeitlicher Vorgang vor, aber die Zeit spielt in der gewonnenen Einsicht keine Rolle.

    Henri Bergson stellte fest, dass die Mathematik die Dauer eliminiert (Bergson 2000, S.23). Wittgenstein meint mehr: die Zeit überhaupt wird in der Mathematik entfernt. Simone Weil vertritt in obigem Zitat eine Mittelposition (zu Weils Wittgenstein-Nähe in vielen Punkten siehe Winch 1989): Zeit ordnet, von der Wahrnehmung herkommend, auch die Mathematik. Es ist nicht so, dass ein Teil der Zeit verschwindet, wie Bergson sagt, sondern er wird transformiert. Methode macht aus Zeit eine Komponente regelgeleiteten Handelns. Wittgenstein stimmt mit Bergson darin überein, dass es in der Mathematik um den Ausschluss von Unsicherheit geht, aber die Unsicherheit ist nicht als Unvorhersehbarkeit zu spezifizieren. Es geht nicht um die Sicherung von Prognosen, sondern um das Annehmen einer Norm bzw. eines Begriffs. Wittgenstein würde sagen, Weils Feststellungen beschreiben eine richtige Sichtweise, aber keine mathematische. Übertragen auf Wittgensteins Beispiel lautet Weils Aussage: Man kann den fünften Stab nicht vor dem dritten verteilen. Für Wittgenstein handelt es sich bei der Identifizierung von etwas als Mathematik um eine Frage der Sichtweise und Verwendung: Möchte man eine empirische Aussage machen, in der die Zeit eine Rolle spielt, handelt es sich nicht um Mathematik. Der Umstand aber, dass 3 in der Ordnung der natürlichen Zahlen vor 5 kommt, ist Mathematik und unzeitlich. Aus „Ich kann den fünften Stab nicht vor dem dritten verteilen“, „Man kann kein Fünfeck zeichnen, ohne ein Dreieck zu zeichnen“ ist der mathematische Satz „3 ist kleiner als 5“ dadurch herausdestilliert, dass von allem, was in der Zeit abläuft, abgesehen wird, Begriffe geschaffen werden, etc. Weils Vorstellung von der Mathematik ist, dass die Zeit in die Regel der Handlung schlüpft und dort als etwas Statisches bewahrt wird (wie Tennisregeln den Charakter des Tennisspiels bewahren). Wittgenstein denkt die Zeit nicht in der Regel bewahrt, sondern durch die Schaffung anderer, unzeitlicher Regeln, Normen zurückgelassen.

    Bergson stellt ebenfalls ein Gedankenexperiment mit einem Film an (Bergson 2000, S.31): Begreift man die Zeit (in der Wissenschaft) nur so, dass sie eine Aufeinanderfolge von Geschehnissen gewährleistet, dann könnte man einen Film, auf dem eine solche Aufeinanderfolge aufgenommen ist, in beliebiger Geschwindigkeit abspielen, und das würde keinen Unterschied machen. Ein Zeitbegriff, der von dem alltagsweltlichen Umgang mit Zeit wie z.B. Warten, abgeschnitten ist, ist defizitär – allerdings nur, wenn er beansprucht, der Weltbeschreibung zu dienen. Wenn dagegen mathematische Sätze wie in Wittgensteins Auffassung explizit nicht beanspruchen, etwas über die Welt, wie sie jeweils ist, auszusagen, kann man auch keinen Anstoß daran nehmen, dass sie von der Zeit unabhängig sind.

    Wenn Wittgenstein meint, wir können unsere Vorstellung von Zeit nicht grundlegend ändern, ohne unsere Sicht der Welt zu ändern, so gerät das nicht in Konflikt mit der Unzeitlichkeit in seinem Sinn, da die nicht in einem (metaphyischen) Zwiespalt mit der Zeit steht, keine Aussage über eine zeitliche Bestimmung unseres Daseins macht, sondern eine Funktionsbezeichnung für eine Sorte von Sätzen, u.a. den mathematischen, ist.

    4. Mathematik und Tanzen

    Wenn die Mathematik ein Spiel ist, dann ist ein Spiel spielen Mathematik betreiben, und warum dann nicht auch: Tanzen? (BGM V §4)

    Zunächst wird man feststellen, dass Tanzen und Mathematik tatsächlich gewisse nicht geringe Ähnlichkeiten haben: Abgesehen davon, dass eben beide Spiel-Charakter haben, zeichnet auch beide eine gewisse Normativität aus, beide basieren auf Regelmäßigkeiten, auf – sogar geometrischen – Mustern. In einem nächsten Denkschritt wird man sich leicht tun, einen entscheidenden Unterschied festzustellen, nämlich die Verwendung: Wir verwenden Tänze nicht, um Handel mit Äpfeln zu treiben. Diese Art Unterschied mag jedoch nicht ganz befriedigen, weil man das Bedürfnis nach einer Definition von Mathematik hat, die gerade nicht von ihrer Anwendung abhängig ist. (Wittgenstein legt allerdings sehr viel Nachdruck auf die Tatsache, dass Mathematik losgelöst von ihrer Anwendung eine unsinnige Vorstellung ist.)

    „Die Anzahl der Personen, die einen Wiener Walzer miteinander tanzen, ist 2.“ – Wieso ist das ein Satz über Tanzen, aber nicht ein Satz über Mathematik?

    Selbst wenn man zur Unzeitlichkeit noch die Begriffsartigkeit der mathematischen Sätze hinzufügt, reicht es offenbar nicht, um Mathematik zu charakterisieren, man kommt nicht umhin, gewisse Objekte als mathematische auszuzeichnen, wenn man sagen möchte, was unter Mathematik verstanden wird. Damit ein Satz ein mathematischer ist, dürfen nur mathematische Objekte darin vorkommen, keine empirischen etwa wie „Personen“. Umgekehrt reicht es jedoch auch nicht zu sagen, Mathematik ist, was von mathematischen Objekten handelt, es braucht auch Verwendungsbestimmungen für diese Objekte, wie Unzeitlichkeit, damit wir von Mathematik sprechen („5 ist jetzt größer als 3“ ist kein mathematischer Satz).

    Simone Weil gibt eine Beschreibung ihrer Art von Dualismus, in der ebenfalls Tanz vorkommt:

    C’est le rapport essentiel entre nous et l’extérieur, rapport qui consiste dans une réaction, un réflexe, qui constitue pour nous la perception du monde extérieur. La simple perception de la nature est une sorte de danse qui nous fait percevoir. “ (Weil 1989, S.42)

    Das Bild des Tanzes birgt in sich die Elemente von intendierter Ordnung von Handlungen, bestehender geometrischer Ordnung (der Körper) und Veränderung. Dieses Moment des Tanzes weist auf eine Dynamik hin, die auch für Wittgenstein wichtig ist: Wenn mathematische Sätze durch Fixierung von Begriffen unzeitlich sind, eröffnet sich die Frage nach der Möglichkeit von Entwicklung – Zeit ist notwendig für Begriffsveränderung.

    Wittgensteins Sichtweise ist folgende: Wenn wir zu der Annahme gelangen, dass die Zuordnung der Ecken einer gewissen sternförmigen Figur zu fünf Strichen möglich ist und daher in Hinkunft beim Anblick einer solchen Figur sagen „Aha, es sind fünf Ecken“ (bzw. „Es sind gleich viele Ecken wie die fünf Striche“), ohne erneut nachzuzählen bzw. zuzuordnen – haben wir einen neuen Begriff von Gleichzahligkeit angenommen, anders gesagt: Wir haben unseren Begriff von Gleichzahligkeit modifiziert. Das nun ist ein zeitlicher Prozess, der verläuft wie der von Weil beschriebene Tanz. Wir verändern die mathematischen Begriffe in ständiger Angleichung an „die Realität“, an die Erfahrung.

    Wenn uns in dem von Wittgenstein beschriebenen Film vorgeführt wird, wie die Kugeln in 10-er-Gruppen eingeteilt werden, sind wir eher geneigt das Ergebnis, „10 x 10 = 100“ etwa, als Begriff, als Norm anzunehmen. Zeit spielt in diesem Prozess, der zur Festlegung auf Normen und Begriffe führt, in der Entwicklung der Mathematik, also natürlich eine Rolle, aber die Funktionsweise mathematischer Sätze ist so, dass Zeit darin nicht vorkommen darf.

    Literature

    1. Bergson, Henri 2000 Denken und schöpferisches Werden, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt
    2. Weil, Simone 1989 Leçons de philosophie, Paris: Plon
    3. Winch, Peter 1989 Simone Weil. “The just balance”, Cambridge: Cambridge University Press
    4. Wittgenstein, Ludwig 1999 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Frankfurt: Suhrkamp (BGM)
    5. Wittgenstein, Ludwig 1999a Über Gewissheit, Frankfurt: Suhrkamp (ÜG)
    Esther Ramharter. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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