Absolute und erlebte Zeit. Zur Richtigkeit geschichtlicher Darstellungen
Absolute und erlebte Zeit.
Zur Richtigkeit geschichtlicher Darstellungen

Abstract

Wir verwenden in der Praxis zweierlei Zeitbegriffe, die nie deutlich voneinander getrennt werden: Die absolute Zeit (Kalenderzeit, Uhrzeit) und die gefühlte, erlebte Zeit, die wir nur im Kontext umgebender Ereignisse erfahren. Der Historiker kann Ereignisse in der absoluten Zeit exakt darstellen, nicht aber in der zum Verständnis der Vergangenheit wesentlichen erlebten Zeit. Es wird untersucht, ob und wie weit Urteile über geschichtliches Geschehen trotzdem möglich und berechtigt sind.

Table of contents

    Von den verschiedenen in der Philosophie bekannten Zeitbegriffen seien für die vorliegende Untersuchung zwei herausgegriffen: Die „absolute“, physikalische, kalendarische Zeit und die Zeit, die im menschlichen kognitiven und emotionalen Geschehen das Weltbild mitbestimmt. Dieser zweite Zeitbegriff ist vor allem hier zu untersuchen, immer im Zusammenhang mit und in Gegenüberstellung zur physikalischen, kalendarischen Zeit. Dabei soll

    A.
    zunächst auf Zeitbegriffe eingegangen werden, die in historischen Darstellungen Anwendung finden und untersucht werden, ob die verwendeten Zeitbegriffe die Darstellungen so weit beeinflussen können, dass Ungenauigkeiten, Verzerrungen, sogar Verfälschungen entstehen können,
    B.
    weiters gezeigt werden, dass sich aus dem (noch näher zu erläuternden) Begriff der „erlebten“ Zeit zwingend ethische Implikationen ergeben,
    C.
    erörtert werden, ob und wie weit wir in der Lage und berechtigt sind, über Vergangenes moralische Urteile zu fällen.

    A. Die eine Sichtweise, die einem alltäglichen Zeitbegriff wie auch den Anforderungen der exakten Zeitmessung entspricht, suggeriert einen Charakter von Zeit als einen Strom, objektiv bestehend, dinghaft und messbar. Es ist der Zeitbegriff, der unserer Uhrzeit entspricht. Ein anderer, ebenso alltäglicher Zeitbegriff erscheint in Ausdrücken wie „ich habe keine Zeit“, „das ist nicht zeitgemäß“, „zeitlos“ usw. Hier verschwindet der dinghafte Zeitcharakter, Zeit ist hier als „Reflexionsbegriff“ im Sinne Kants aufzufassen, als ein Begriff, der sich sinnvoll nur unter Bezug auf andere Begriffe des Verstandes oder der sinnlichen Wahrnehmung anwenden lässt.

    Sage ich: „ich habe Zeit“, „die Zeit vergeht schell“, „das ist nicht zeitgemäß“ und Ähnliches, meine ich nicht eine messbare Zeit im physikalischen Sinn, sondern eine „Ich-Zeit“, eine erlebte Zeit, die in ein subjektives Urteil eingeht. Bei der Aussage „ich habe Zeit“ sind einige aus Verstand und sinnlicher Wahrnehmung hervorgegangene Begriffe durch verstandesmäßige Reflexion aufeinander bezogen, miteinander verglichen worden: Die Uhrzeit, die geschätzte Dauer der geplanten Tätigkeit, das Wissen um den Zeitpunkt einer weiteren Verabredung, vielleicht auch das persönliche Interesse an der Person, der man mitteilt, Zeit zu haben usw. Heißt es „die Zeit vergeht mir schnell“ so drückt sich darin aus, dass mir Wahrnehmungen oder den Verstand beschäftigende Informationen in einer Zeitspanne zugehen, die ich als kurz empfinde. Hier treffen von außen kommende sinnliche Eindrücke und Informationen auf meine Erwartungshaltung. Am Ausdruck „die Zeit vergeht schnell“ zeigt sich eine eigentümliche Zweideutigkeit des verwendeten Zeitbegriffs: mit „schnell“ meinen wir schnell gegenüber einer mit Uhr und Kalender bestimmten absoluten Zeit. Wir stellen hier unbewusst zwei Zeitbegriffe einander gegenüber, den Strom der messbaren, absoluten Zeit und die Zeit als Reflexionsbegriff, den wir aus Handlungen und Wahrnehmungen schöpfen und der uns das Gefühl von Schnelligkeit gegenüber der absoluten, gemessenen Zeit gibt. „Zeit“ als Reflexionsbegriff ist ein „lebendiger“ Zeitbegriff, man könnte sagen: die meiner eigenen Lebenswelt innewohnende Zeit. Auch bei Wittgenstein findet sich ein Hinweis auf die beiden Zeitbegriffe, wenn er von der „Übertragung des Zeitbegriffs der physikalischen Zeit auf den Verlauf der unmittelbaren Erlebnisse“ spricht und die „Verwechslung der Zeit des Filmstreifens mit der Zeit des projizierten Bildes“ kritisiert (Philos. Bemerkungen, V, 48-56).

    Verwandt mit der hier vorgetragenen Zeitauffassung ist eine von Leibniz in einer Kontroverse zwischen ihm und Newton vertretene Meinung. Newton vertrat die Idee einer absoluten Zeit, die zusammengeht mit der Idee eines absoluten Raumes und, daraus folgend, einer absoluten Bewegung. Leibniz dagegen war der Meinung, zeitliche Bestimmungen müssten sich durch Beziehungen zwischen Messpunkten an sich verändernden Zuständen ausdrücken lassen, eine unabhängig davon bestehende Zeit gebe es nicht (Relationalismus). Dass Zeitgefühl auch ohne Raum und Bewegung möglich ist, zeigt folgendes Beispiel: Wenn ich Durst bekomme, den ich früher nicht gehabt habe, verweist das deutlich empfundene „früher“ auf ein Gefühl für Zeit ohne jedes Raumempfinden. Die Leibniz’sche Auffassung entspricht eher den vorliegenden Überlegungen und steht dem „lebendigen“ Zeitempfinden näher, auch wenn Leibniz physikalische Anwendungen seiner Auffassung nicht ausgeschlossen hat. „Lebendiges“ Zeitempfinden impliziert, dass wir als Wahrnehmende und Handelnde in eine uns umgebende Lebenswelt eingeschlossen sind und unser jeweiliges Zeitempfinden von dieser Lebenswelt mitbestimmt wird. Wie nun zu zeigen sein wird, führt die erlebte Zeit zu zwingenden ethischen Konsequenzen.

    B. Der absoluten, nach Newtons Auffassung von uns unabhängigen Zeit stehen wir gleichsam passiv gegenüber; sie kann als von unseren Handlungen unabhängig gedacht werden, wie das z.B. bei physikalischen Beobachtungen der Fall ist. Zumeist aber sind menschliches Denken und Handeln eingeschaltet, das sind in der Zeit ablaufende aktive Prozesse, die notwendigerweise mit Sollen und Wollen verknüpft sind. Aus dieser logischen Verbindung mit Sollen und Wollen ergibt sich als weitere Konsequenz ein ethisches Moment für alle Vorgänge, die sich in der lebendigen, gelebten Zeit als menschliche Handlungen oder durch menschliche Handlungen verursacht abspielen. Das gilt sowohl für gegenwärtige, als auch für Handlungen, die der Historiker in die Gegenwart zurückholt. Dieses inhärente ethische Moment ruft zur kritischen Beurteilung des moralischen Status geschichtlicher Ereignisse auf, auch wenn es nur um die Zweckmäßigkeit von Handlungen zur Erreichung moralisch vertretbarer Ziele geht.

    Historische Forschung trägt zunächst Fakten auf der Zeitachse der absoluten Zeit auf. Dabei kann sie aber nicht stehen bleiben, denn es ergeben sich sofort Fragen nach kausalen Zusammenhängen, nach Motiven handelnder Personen, kurz, nach Verknüpfungen im weitesten Sinn, was einen Übergang von der absoluten zur gelebten Zeit bedeutet. Wann immer wir zurückblicken auf vergangenes menschliches Handeln, kommt daher unvermeidlich die Frage, warum so oder so gehandelt wurde, ob nicht auch anders gehandelt hätte werden können usw., und damit erscheinen die oben erwähnten moralischen Fragen.

    Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem für den Historiker und für uns Nachfahren: Da die historische Darstellung handelnder Personen immer zur Frage führt, ob sie so handeln mussten oder auch anders hätten handeln können, müsste, um ein gerechtes Urteil abzugeben, der damalige Kontext, die damalige Lebenswelt rekonstruiert werden. Das ist eine im besten Fall nur näherungsweise lösbare Aufgabe. Denn zu fordern wäre hier eine exakte Rekonstruktion des Stands der Wahrnehmungen, Kenntnisse, Wünsche, Gefühle der damals Handelnden; all das müsste in unsere Gegenwart zurückgerufen werden. Und sollte das gelingen, bleibt doch bestehen, dass wir Heutige als Urteilende andere Kenntnisse und Einstellungen haben und schon aus diesem Grund niemals ein volles Verständnis für Vergangenes zu erwarten ist, ein Verständnis in dem Sinn: ja, so hätten wir auch gehandelt.

    Diese Kontextgebundenheit scheint für viele Phänomene ohne Bedeutung zu sein, für Phänomene von „messbarem“ Charakter. Damit sind gemeint neben kalendarischen Daten die statistischen Angaben aller Art, Bevölkerungszahlen, Produktionsmengen, Stärken von Armeen usw., Beschreibungen von technischen, naturwissenschaftlichen, medizinischen Errungenschaften etc. Trotz der Möglichkeit, diese Daten exakt in die Gegenwart zu übertragen, bleibt ein Problem bestehen: Wie alle diese messbaren Phänomene von den damals Lebenden aufgenommen und interpretiert, gutgeheißen oder verurteilt wurden, welche Gefühle hervorgerufen wurden, wird sich einer exakten Übertragung in die Jetztzeit entziehen oder nur in einzelnen Fällen gelingen, wenn die persönliche Erinnerung Überlebender die Daten stützt. Umso schwieriger wird es, wenn es nicht um Messbares geht, sondern um emotionale Reaktionen gegenüber Regierungen, um Glaubensfragen, moralische Positionen von Betroffenen gegenüber Kriegen, Revolutionen, wirtschaftliche Umwälzungen usw. Dann versagt eine historisch exakte Wiedergabe völlig.

    An dieser Stelle sei auf einen weiteren Umstand hingewiesen, der die Sachlage noch verwickelter macht: Die erlebte Zeit verläuft, abhängig vom Beobachter, beobachtetem Phänomen und Kontext unterschiedlich schnell. Fassen wir, wie in der Geschichtsschreibung zumeist üblich, zuerst große und spektakuläre politische Ereignisse ins Auge, wie etwa Kriege, Revolutionen, Friedensverträge, dann weiter Fortschritte auf technischen, medizinischen und ökonomischen Gebieten und schließlich, als ein drittes Gebiet des Geschehens, die Lebensgewohnheiten breiter Bevölkerungsschichten, so zeigt sich, dass im historischen Rückblick die Zeit in den großen spektakulären Ereignissen am schnellsten, im Bereich der Lebensgewohnheiten, des „privaten Lebens“ dagegen am langsamsten zu verstreichen scheint, dass hier auch eine gewisse Neigung zum Festhalten an Traditionen besteht, ein bewusstes Bremsen gegen Veränderungen, wogegen in anderen Gebieten der „Fortschritt“ aktiv betrieben wird. Der Geschichtsschreibung ist das nicht neu, insbesondere, seit auch das private Leben, das untergründig neben der „großen Geschichte“ abläuft, thematisiert wird (z.B. Braudel, der den Begriff der „longue durée“ für jenen langsam ablaufenden Zweig der Geschichte geprägt hat). Dazu kommt, dass das Tempo der Veränderungen zwischen sozialen Schichten, zwischen Stadt und Land, Völkern, Nationen usw. differiert. (Die interessante Frage nach den Gründen für die Unterschiede im subjektiven Zeitempfinden muss hier offen bleiben. Vielleicht besteht ein Zusammenhang mit den Informationsmengen, die jedes Subjekt treffen). Eine Folge dieses unterschiedlichen Zeitbewusstseins, welches die Eindrücke so wahrnimmt, als würden sie verschieden schnell ablaufen, ist jedenfalls, dass diese Eindrücke auch als unterschiedlich intensiv empfunden werden; was langsam verläuft, sich kaum zu verändern scheint, wird vom schnell veränderlichen Geschehen, dem das Merkmal des Überraschenden, Sensationellen anhängt, in den Hintergrund gedrängt. Das gilt für unsere Vorfahren ebenso wie für uns, die wir die Vergangenheit beurteilen. Früher standen andere Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit als heute. Der Historiker, der uns Vergangenheit in allen Erscheinungsformen nahe bringen soll, müsste auch Unterschiede im Tempo der erlebten Zeit berücksichtigen.

    C. Soweit die Sachlage. Damit komme ich zum letzten Teil der Überlegungen. Wir fühlen uns also berechtigt und verpflichtet, uns Vergangenes zu vergegenwärtigen, um danach unser eigenes Verhalten auszurichten und von unseren heutigen Positionen aus sachliche und moralische Kritik an den Handlungen unserer Vorfahren zu üben. Auch wenn ein kritisches Urteil immer möglich ist, erhebt sich doch die Frage, ob es auch gerecht sein kann angesichts der Tatsache, dass die Kontexte, in denen die Menschen früher gehandelt haben, weitgehend unbekannt bleiben und wir nur aus der Position unserer gegenwärtigen Lebenswelt urteilen. Müsste man diese Frage verneinen, wäre zu folgern, man könne aus der Geschichte nichts lernen und dürfe auch an vergangenen Handlungen nicht Kritik üben, insbesondere keine moralische. Das wäre sicherlich eine falsche Folgerung. Was ist also der Rahmen, den wir bei unserer Kritik und unserem Lernen aus der Geschichte beachten müssen? Einige Fallbeispiele können zur Klärung dieser Frage beitragen.

    Angenommen, das Ziel einer Handlung sei nach früherer wie nach heutiger Auffassung moralisch vertretbar, die angewendeten Mittel nach früherem Kenntnisstand ebenfalls, nach heutigem dagegen abzulehnen. Diese Fälle betreffen z.B. Medikamente, deren schädigende Nebenwirkungen unbekannt waren, Baustoffe wie Blei oder Asbest usw. Fast immer geht es um Fragen in Technik, Naturwissenschaften oder Medizin. Eine kritische Beurteilung in solchen Fällen ist immer berechtigt, nicht aber eine moralische Verurteilung, wie das leider manchmal geschieht.

    Auch in einem anderen Extremfall ist die Entscheidung leicht. Ein solcher Fall liegt vor, wenn vergangene Ereignisse und Handlungen nicht allein aus heutiger Sicht verwerflich erscheinen, sondern von solcher Art sind, dass wir annehmen müssen, sie würden zu allen Zeiten verurteilt werden. Bei solchen Ereignissen, die den Charakter eines ungeheuerlichen Bruchs menschlicher Tabus haben, erübrigt sich die Frage, ob wir auch ohne Kenntnis der damaligen begleitenden Umstände urteilen dürfen. Ein Beispiel dafür ist der Holocaust.

    Wirklich problematisch aber wird die Frage nach Richtigkeit und Berechtigung von Urteilen bei Ereignissen, die in moralischer Hinsicht früher anders beurteilt wurden als heute. In unserem Kulturkreis werden z.B. bei Beziehungen zwischen den Geschlechtern die Abweichungen von den offiziell gültigen Normen heute viel milder beurteilt als noch vor hundert Jahren. Die diesbezügliche Einstellung hat sich rasch verändert, nachdem sie lange Zeit hindurch unverändert war. In anderen Kulturkreisen ist sie gleich geblieben, obwohl auch dort die kalendarische Zeit um hundert Jahre weitergegangen ist. Ein Beispiel für das unterschiedliche Tempo von erlebter und kalendarischer Zeit.

    Ein anderes Beispiel: Durch Jahrtausende waren monarchische Staatsformen im Kontext damaliger Traditionen, Überzeugungen, Gewohnheiten ganz selbstverständlich. Wir sehen in der verbreiteten Tendenz zu demokratischen Staatsformen einen Fortschritt im Sinne einer wünschenswerten Veränderung, würden aber doch nie unseren Vorfahren eine moralische Verfehlung vorwerfen, weil sie so lange in monarchischen Systemen gelebt haben und bereit waren, diese zu verteidigen, so wie wir heute unsere demokratischen.

    Sklaverei bestand seit der Antike, wurde aber in den Vereinigten Staaten erst 1865 endgültig abgeschafft. Wir verurteilen Sklaverei heute und obwohl sie sicherlich härter zu verurteilen ist als etwa monarchische Staatsformen, bleibt unsere Entrüstung doch vergleichsweise gering. Wir sehen in der Sklaverei eine durch menschlichen Fortschritt überwundene Denkweise. Und was die Antike betrifft, gehört Sklavenhaltung so sehr zum Bild jener Zeit, dass das Leben damals anders gar nicht denkbar und in ökonomischer Hinsicht auch nicht funktionsfähig gewesen wäre.

    Es ließen sich noch mehr Beispiele bringen für historische Phänomene, die wir zwar heute eindeutig ablehnen, moralisch aber doch nicht so hart verurteilen wie etwa den Holocaust. Die Praktiken der Inquisition oder der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit, Menschenopfer bei den Mayas usw. wären hier zu nennen. All diese Fälle sind beispielhaft für unsere Urteile über Vergangenes. Aber es scheint nicht möglich, allgemein verbindliche Regeln anzugeben, wie solche historischen Fakten in moralischer Hinsicht beurteilt werden sollen. Am ehesten drängt sich das Bild auf, dass bei den genannten Beispielen unsere Vorfahren positive oder doch wenigstens nach unseren Maßstäben tolerierbare Ziele verfolgt haben, allerdings mit Mitteln, die wir heute entschieden ablehnen, dass wir aber immer dann milder urteilen, wenn wir Ziele und Mittel rückständigen und inzwischen überwundenen Ideologien und religiösen Vorstellungen zuschreiben können. Unser Gefühl für Fortschritt und die Überzeugung, urteilen und verurteilen zu dürfen, gehen Hand in Hand.

    Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Strom der absoluten, kalendarischen Zeit und die lebendige, von Individuen erlebte Zeit verschieden schnell ablaufen können. Auch zwischen Individuen gibt es Unterschiede im Tempo der Veränderung ihrer Lebensweltbilder und im Tempo, wie Individuen darauf reagieren. So wird es immer wieder geschehen, dass einzelne „fortschrittlicher“ denken als andere. Auch entstehen die Veränderungen der subjektiven Lebens-welten nicht nur durch Einflüsse außerhalb menschlicher Einwirkungen, sondern auch in den Individuen selbst. Darum läuft die erlebte Zeit bei verschiedenen Personen, Gruppen, Nationen verschieden schnell. Die Einbindung in die eigene Lebenswelt und das Festhalten an ihrer Tradition kann so stark sein, dass selbst naturwissenschaftliche Einsichten verweigert werden durch Personen, deren geistiger Rang außer Zweifel steht (Goethes Farbenlehre, Einsteins Suche nach verborgenen Parametern, Machs Ablehnung der Atome). Ohne diesen Gedanken hier weiter zu verfolgen, sei darauf verwiesen, dass auch die Möglichkeit eines Paradigmenwechsels in den Wissenschaften (nicht der Paradigmenwechsel selbst) mit der Bereitschaft einzelner Personen erklärt werden kann, die langsamere Zeit des traditionellen Geschehens mit einer schnelleren erlebten Zeit zu vertauschen.

    Ich hoffe gezeigt zu haben, was sich hinter der im Sprachgebrauch ganz selbstverständlichen Vermischung von absoluter und erlebter Zeit verbirgt und welche Einsichten durch eine Trennung, eine Entmischung dieser Zeiten zu gewinnen sind: Einerseits wird die Problematik deutlicher, die beim Versuch von „richtigen“ historischen Darstellungen und berechtigten moralischen Urteilen über Vergangenes entsteht. Andererseits wird auch ein wichtiger Grund gezeigt, wieso der Eindruck von Rückständigkeit oder Fortschrittlichkeit von Personen oder Gruppen eintreten kann. Er erklärt sich im unterschiedlichen Tempo der erlebten Zeiten dieser Personen oder Gruppen, deren Handlungen in ihrer Geschwindigkeit ja immer der erlebten Zeit entsprechen. Eine gewisse Ironie liegt darin, dass wir uns kaum jemals bewusst machen, wie sehr auch unsere eigenen Urteile vom Tempo unserer eigenen erlebten Zeit abhängen, wie weit wir selbst fortschrittlich oder rückständig sind.

    Literatur

    1. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 219, B 316
    2. Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen, V, 48-56
    3. Leibniz, Philos. Schriften, II, 450
    4. F.P. Braudel, Civilisation matérielle et capitalisme, 1979
    Karl Nähr. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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