Probleme der interkulturellen Philosophie (unter besonderer Berücksichtigung Indiens)
Probleme der interkulturellen Philosophie (unter besonderer Berücksichtigung Indiens)

Abstract

Eine Grundfrage, mit welcher sich die interkulturelle Philosophie immer wieder beschäftigt, lautet: Wo fängt die Geschichte der Philosophie an, und warum fängt sie dort an, wo sie anfängt? Diese Frage lässt sich nicht ohne weiteres eindeutig beantworten, denn ihre Antwort beinhaltet immer schon sowohl das Selbstverständnis der Philosophie als auch das philosophische Selbstverständnis derer, die sie stellen. Sollen interkulturelle Studien Erfolg haben, so muss man sich zunächst darüber verständigen, was der Gegenstand des Vergleichs sei. Man steht unumgänglich vor der Frage: Was ist Philosophie? Daraus ergeben sich Probleme, welche die interkulturelle Philosophie, indem sie fortschreitet, sich bewusst machen muss. Im Folgenden werden einige Probleme erörtert, mit welchen sich die interkulturelle Philosophie konfrontiert sieht. Selbstverständlich kann sie nicht alle Probleme lösen, aber sie kann immerhin das Feld vorbereiten, auf dem sie allererst möglich wird.

Table of contents

    Jede Erörterung zur interkulturellen Philosophie sieht sich vor die Frage gestellt: Wo fängt die Geschichte der Philosophie an, und warum fängt sie dort an, wo sie anfängt? Noch genauer könnte man fragen: Unter welchen Bedingungen fängt sie an, sich zu entfalten? Das sind nicht bloß historische Fragen, sondern sie enthalten sowohl das Selbstverständnis der Philosophie als auch das philosophische Selbstverständnis derer, die sie einführen (Niehues-Pröbsting 2004a).

    Diogenes Laertios, der im Prolog seiner Schrift Leben und Lehre berühmter Philosophen die kontroverse Ansicht vom Ursprung der Philosophie bei den „Barbaren“ referiert, vertritt die Auffassung, dass die Philosophie eine ursprünglich griechische Errungenschaft sei. Die Gegenüberstellung beider Ansichten bedeutet zweierlei: Zum einen, dass auch die Griechen eine Weisheitstradition, die der barbarischen vergleichbar und aus der die Philosophie hervorgegangen ist, besitzen. Zum anderen, dass sich die Philosophie prinzipiell von Weisheit unterscheidet. Für Diogenes beginnt die Geschichte der Philosophie mit der ionischen Linie und den Milesiern, nämlich mit Anaximander, obwohl er an einer Stelle ausdrücklich von zwei Ausgangspunkten spricht. Die Philosophie sei zweifach entstanden: „bei Anaximander, dem Schüler des Thales, und bei Pythagoras, den Pherekydes anleitete“ (Laertios 1998). Nun muss man fragen, wer die Milesier zu den ersten Philosophen gemacht hat, denn sie selber verstanden sich als solche nicht, zumal es die Bezeichnungen ‚Philosoph’ und ‚Philosophie’ noch nicht gab. Erst Aristoteles macht Thales zum ersten Philosophen und setzt damit den geschichtlichen Anfang der Philosophie, weil Thales der erste gewesen sei, der die Frage nach dem Urgrund nicht mit einer mythologisch-theologischen Geschichte, sondern mit einer sachlichen Erklärung beantwortet. Bei Platon dagegen bleibt Thales eine Astronomengestalt, dessen Missgeschick, das die Thales-Anekdote im Theaitetos schildert, zum „lebenspraktischen Versagen des Philosophen in einer von Rhetorik dominierten Gesellschaft“ (Niehues-Pröbsting 2004b) wird, oder er ist für Platon einer der sieben Weisen, wie dies aus dem Dialog Protagoras hervorgeht. Auf die Frage nach dem ersten Philosophen hätte Platon aller Wahrscheinlichkeit nach mit Parmenides oder Sokrates geantwortet. Nach dem Urteil Hegels, dass mit Platon die Philosophie als Wissenschaft anfange (Hegel ³1998), und dem Alfred North Whiteheads, dass die philosophische Tradition Europas „aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht“ (Martin 71976), kann man zurecht fragen: Gäbe es ohne Platon überhaupt die Philosophie? Husserl interpretiert den Anfang der Philosophie als eine bewusste Entscheidung des europäischen Menschentums, Heidegger stellt diesen Anfang als das schlechthin Unerklärliche dar. Es wäre zu viel erwartet, wenn man meint, den griechischen Anfang der Philosophie aus eine einzigen Ursache ableiten zu können. Man kann eher sagen, dass die Philosophie bei den Griechen mehrere Anfänge hat, und es lässt sich schwer bestimmen, wann und wo unter den Griechen sie zuerst begonnen habe.

    Die Griechen, so lautet ein älterer und bekannter Topos, verfügten von Natur aus über die Fähigkeit zu staunen und über die Begabung zur theoretischen Betrachtung. Der materielle Wohlstand ermöglichte ihnen die zur Philosophie erforderliche Muße. Außerdem hatten sie die Sprache, die Schrift und die Religion, die die Entstehung der Philosophie begünstigten. Wenn hier die Voraussetzungen für den Anfang der griechischen Philosophie erörtert werden, so schließt das nicht aus, dass in Indien unabhängig davon und eigenständig Philosophie entstanden ist. Es müsste dort nur, so meint man, ähnliche Voraussetzungen gegeben haben.

    Von diesem Gesichtspunkt ausgehend ist die Frage, ob dem indischen Denken der Status einer Philosophie zugesprochen werden kann, heute noch ungeklärt. Hierzu die herrschenden Meinungen: Hegel spricht dem indischen Denken diesen Status ab. Der Orient habe die Freiheit und die freie Verfassung nicht. Außerdem disqualifiziere das Verhältnis zur Religion das indische Denken als Philosophie. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie meint Hegel, dass die griechischen Götter individualisiert seien. Im Orient dagegen, wo die Subjektivität und das Prinzip der Freiheit noch nicht hervorgetreten seien, hätten die religiösen Vorstellungen den Charakter von allgemeinen Vorstellungen, die daher als philosophische Vorstellungen erscheinen. Die Philosophie der Inder, so Hegel, sei identisch mit der Religion, ihre Interessen wären dieselben.

    In Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie unternimmt Husserl eine originäre Auslegung der europäischen Geistestradition. Das europäische Menschentum, so die These, vollzieht in der Renaissance eine revolutionäre Umwendung; es wendet sich gegen das Mittelalter und will sich in Freiheit neu gestalten. Vorbild dafür ist das antike Menschentum und seine philosophische Daseinsweise, die sich dadurch auszeichnet, dass der Mensch sich die Regel aus freier Vernunft gibt. In der Neuzeit will die theoretische Philosophie gemäß der antiken nicht traditionalistisch, sondern kritisch sein, und sie lässt sich fassen unter dem Stichwort ‚Vernunft’. Denn all ihre Fragen enthalten Probleme der Vernunft, ob es um vernünftige Erkenntnis oder um Handeln aus praktischer Vernunft, oder ob es um das philosophische Problem des Menschen als Vernunftwesen geht. Nach Husserl sei die Urstiftung der neuzeitlichen Philosophie zugleich eine Urstiftung des neuzeitlichen Menschentums, das sich durch seine Philosophie und nur durch sie radikal erneuern will. So stellt Husserl dem europäischen Menschentum, das Träger einer „absoluten Idee in sich“ sei, einen „bloß empirischen anthropologischen Typus wie ‚China’ oder ‚Indien’“ (Husserl ²1962) entgegen. Ist die Philosophie eine strenge Wissenschaft, und speist sich die Krisis der Wissenschaften aus dem Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit, so sieht Husserl seine transzendentale Phänomenologie nichtsdestoweniger als die Rettung aus der Krisis, in welcher alle neuzeitlichen Wissenschaften verstrickt sind.

    Wenn Hegel, Husserl und Heidegger vom eigentümlichen griechischen Ursprung und der europäischen Leistung sprechen, was zu einer unbegründeten Ausschließung Indiens aus der Philosophiegeschichtsschreibung führt, so findet man bei Schopenhauer und Deussen genau so eine unbegründete Einschließung des indischen Denkens in die Philosophiegeschichte. Nietzsche ist diesbezüglich ambivalent. Hat er zu seiner Bonner Studienzeit bei Carl Schaarschmidt die Ausschließung des indischen Denkens aus der Philosophiegeschichte kennen gelernt, so sagt er im Antichrist vom Gesetzbuch des Manu, es habe eine wirkliche Philosophie in sich. Henrich zufolge, der zwar der Meinung ist, dass das Philosophieren jedem Menschen eigne, muss man dennoch das indische Denken aus der philosophischen Tradition ausschließen, da die Forderung der Aufgabe der Subjektivität die Entwicklung einer Philosophie nicht begünstige; die Philosophie begreift das fragende Subjekt selbst in ihr Denken mit ein (Henrich 1982).

    Woher bezieht, vor diesem Hintergrund, die interkulturelle Philosophie ihren Ort und ihre Rechtfertigung? Sucht man nach den im antiken Griechenland befindlichen ähnlichen Voraussetzungen, um dann womöglich den Anfang der indischen Philosophie festzustellen, dann fängt man die Suche mit einem bereits vorgeprägten Verständnis von Philosophie an. Man behauptet, die Philosophie gestalte sich so und so, das seien ihre Voraussetzungen, wenn es eine Philosophie woanders geben soll, dann müsse es ähnliche Voraussetzungen geben. Will man aber interkulturelle Philosophie betreiben, und soll diese selbst Philosophie sein, so kann man nicht umhin, auf den Grund der Sache zu kommen und sich zunächst über den Gegenstand der Erörterung zu verständigen. Man steht unumgänglich vor der Frage: Was ist Philosophie? Ist sie eine Weltanschauung, eine Wissenschaft, eine Lebensdeutung, die die Erfahrungen des menschlichen Lebens in einen Sinnzusammenhang bringt? Das tut auch die Religion. Die Philosophie ist, wie sie in Griechenland entsteht, Nachfolgerin der Religion, nicht bloß dadurch, dass sie sie ersetzt, sondern auch dadurch, dass sie ihre Motive aufnimmt und auf andere Weise erfüllt. Außerdem kann eine Religion Fragen aufnehmen, die selbst philosophisch sind. Ein bedeutender Grund dafür, dass die Philosophie sich schwer bestimmen lässt, ergibt sich daraus, dass sie keinen vorgegebenen Gegenstand hat wie z. B. die Literaturwissenschaft oder die Mathematik, dass sie zu ihrem Gegenstand erst vordringen muss. Dadurch unterscheidet sie sich von einer positiven Wissenschaft. So sieht Heidegger den Gegenstand der Philosophie, zu dem sie erst kommt, in der Frage nach dem Sein, das sie unter die radikalste Kritik stellt (Heidegger ²2004). Lässt sich das Wesen der Philosophie schwer bestimmen, so auch ihre Aufgabe. Wenngleich sie das Dasein zu offenbaren, die Auflösung von Unklarheit und Beirrung herbeizuführen, die Selbstverständigung des bewussten Lebens zu ermöglichen hat, so tut sie dies nur unter der radikalsten Kritik, indem sie Annahmen überprüft und unbegründete durch Gründe zurückweist. Aber Philosophie besteht nicht nur in einer Aneinanderreihung von Annahmen, sondern sie führt sie zusammen und durchdringt sie mit dem einheitlichen Interesse von Erkenntnis. Zur radikalen Kritik gehört eben auch die Integration. Der Weg der Philosophie, ihr Suchen allein unter die radikale Kritik zu stellen, ist schließlich ein Um- und manchmal auch ein Irrweg. Deshalb hat die Philosophie eine Geschichte, und sie ist ihr wesentlich. Sie ist Geschichte der Wege des Denkens, das nur sie selber ermöglicht. Insofern sie in sich selbst begründet ist, ist die Geschichte der Philosophie jedoch mehr als nur irgendein historisches Ereignis. Vielmehr kann sich die Philosophie nur aus ihrer eigenen Geschichte heraus verstehen.

    Wenn ich im Obigen einige Aspekte hervorgehoben habe, nämlich Gründe, Kritik, Integration und Geschichte, die unabdingbar zur Philosophie gehören, so schließt dies nicht aus, dass die Philosophie auch noch andere hat. Hat man aber auf diese Weise den Maßstab, das Kriterium gewonnen, womit man mit Entschiedenheit behaupten kann, dass die Denktraditionen verschiedener Kulturen Philosophie sind? Ist nicht schon der Begriff ‚Philosophie’ problematisch, nicht nur weil die aus der griechischen Tradition stammende philosophia nicht die Weisheit selbst, sondern die Liebe zur Weisheit bedeutet, sondern auch, weil die europäische Tradition keinen einheitlichen Begriff der Philosophie hat? Hier stellt sich die Geltungsfrage der interkulturellen Philosophie, eine Frage, die mit ihrer Aufgabe zusammenhängt. Besteht diese im Vergleich unterschiedlicher Kulturen, die eigentlich nicht verglichen werden können, weil die Hinsicht des Vergleiches fehlt, über die also nichts gesagt werden kann, und wovon man - um das Wittgensteinsche Wort zu nehmen -, schweigen muss? Es besteht ein Unterschied zwischen der rohen Kenntnis zweier Denktraditionen einerseits und dem prinzipiellen Verständnis und der Ausarbeitung einer Thematik andererseits. Es besteht auch ein Unterschied zwischen bloßer Kenntnis der Denktraditionen und dem Verständnis ihres eigensten Sinnes. Interkulturelle Philosophie kann sich nicht damit zufrieden geben, in einer enzyklopädischen Zusammenstellung von Meinungen aufzugehen, wenn sie zugleich den Anspruch hat, Philosophie zu sein. Das, was sie zur Philosophie macht, ist ihre kritische Methode, die immer zugleich Selbstkritik ist. Mag sein, dass sie den Begriff der Philosophie, während sie so verfährt, in der Schwebe lassen muss. Mag sein, dass sie nicht die Methode im Sinne einer philosophischen Technik hat, sondern sich jeweils nach dem zu erschließenden Gegenstand richten muss. Es liegt im Wesen aller Methode, die den Zugang zu den Gegenständen öffnet, dass der vollzogene Fortgang die Methode, die gerade dazu verhilft, notwendig veralten lässt. Ebenso ist die Methode der interkulturellen Philosophie nicht etwas von außen an ihr Gebiet herangebrachtes. Es wäre auch grundverkehrt, an die sich entwickelnde interkulturelle Philosophie äußerliche Maßstäbe einer endgültigen Terminologie zu legen. Man sieht z. B., dass sich die Ausdrücke ‚Philosophie’ bzw. ‚philosophisch’ in Bezug auf das indische Denken nicht meiden lassen, insofern sie den Blick auf eine klar zu erfassende Gegebenheit lenken. Aber die interkulturelle Philosophie betrachtet diese Ausdrücke als flüssig und immer bereit, sich zu differenzieren. Während dies einerseits zu ihrer eigenen Geschichtlichkeit beiträgt, wird sie andererseits, indem sie diese Ausdrücke aus ihrer ursprünglichen Sphäre herauslöst und auf die interkulturelle überträgt, feststellen, dass selbst der Begriff der Philosophie einer Klärung bedarf. Aber freilich kann jede Erörterung über den Begriff der Philosophie nur vorläufig sein, denn dieser ist das Ergebnis ihrer selbst (Heidegger 1975). Ebenso kann die Frage, ob eine interkulturelle Philosophie möglich ist, nur durch ihre Methode, d. h. durch sie selbst, denn sie ist selbst Methode, beantwortet werden.

    Wie zur Philosophie überhaupt, so gehört es auch zur interkulturellen, dass sie ihrer eigenen Probleme bewusst wird. Nur dadurch kann sie sich den Fragen widmen: Sind die Divergenzen im Denken verschiedener Kulturen andere Wege? Oder ist eine gemeinsame Grundlage zu finden, von der aus die Divergenzen zu verstehen sind? Mit diesen Fragen wendet sich die interkulturelle Philosophie zu ihren Voraussetzungen um. Selbstverständlich kann sie nicht alle Probleme lösen, aber sie kann immerhin das Feld vorbereiten, auf dem sie allererst möglich wird.

    Literatur

    1. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich ³1998 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Bd. 19, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 11.
    2. Heidegger, Martin 1975 Die Grundprobleme der Phänomenologie, in: Gesamtausgabe, Bd. 24, 2. Abt.: Vorlesungen 1923-1944, Frankfurt a. Main: Vittorio Klostermann, 5.
    3. Heidegger, Martin ²2004 Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, in: Gesamtausgabe, Bd. 22, 2. Abt.: Vorlesungen 1919-1944, Frankfurt a. Main: Vittorio Klostermann, 11.
    4. Henrich, Dieter 1982 Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 127.
    5. Husserl, Edmund ²1962 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana, Bd. 6, Haag: Martinus Nijhoff, 14.
    6. Laertios, Diogenes 1998 Leben und Lehre der Philosophen1,13. Übers. u, hg. v. Fritz Jürß, Stuttgart: Reclam.
    7. Martin, Gottfried 71976 Platon. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 142.
    8. Niehues-Pröbsting, Heinrich 2004a Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Frankfurt a. Main: Fischer, 17.
    9. Niehues-Pröbsting, Heinrich 2004b Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Frankfurt a. Main: Fischer, 21.
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