Abstract
In diesem Beitrag soll den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Wittgenstein und Platon nachgegangen werden – insbesondere hinsichtlich der Ideen bzw. Urbilder im Platonischen Sinne. Während sich bei Wittgenstein in früheren und in persönlichen Schriften Ansätze zu einem idealistischen Weltbild zeigen, nimmt er in späteren Jahren dazu eine kritische Haltung ein und plädiert dafür, im Philosophieren die „Brille“ abzunehmen, durch die wir die Dinge mit einer uns vorschwebenden Idee zu betrachten neigen.
Table of contents
Wittgenstein verweist in seinen Schriften häufig auf Platon bzw. Sokrates – dies auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlicher Wertschätzung. Laut Nyíri waren seine Hinweise Versuche, zu dem Punkt in der Geschichte der Philosophie zurückzukommen, an dem Platon die falsche Richtung eingeschlagen hätte (Nyíri 2005, 311). Dies geht auch aus einem Diktat für Moritz Schlick hervor, in dem Wittgenstein festhält, dass sein Standpunkt der entgegengesetzte dessen sei, den Sokrates in den platonischen Dialogen vertrete. (TS 302, 14. Sog. Diktat für Schlick). Auf die Frage, was Erkenntnis sei, würde Wittgenstein wie der Schüler, den Platon zurechtweist (vgl. MS 114, 108), „Erkenntnisse“ aufzählen und dabei feststellen, dass kein gemeinsamer Bestandteil in ihnen allen zu finden wäre, da es keinen gebe.
Im Gegensatz zu Platon sucht Wittgenstein hinsichtlich des Erkenntnisbegriffs nach praktischen Beispielen, nach Verwendung des Wortes „Erkenntnis“ im alltäglichen Sprachgebrauch und distanziert sich von einer begrifflichen Analyse, vor allem von der Annahme eines allgemeinen „Wesens“ der Dinge, vertritt also eher eine pragmatische als essentialistische Position. Seine kritische Haltung gegenüber Termini wie „Wesen“ und dergleichen lässt sich in seinen philosophischen Aufzeichnungen häufig beobachten, doch es gibt auch Stellen, wo er solche Ausdrücke verwendet. Auf diese Ambivalenz zwischen analytischer, auch pragmatischer, und idealistischer Annäherung werde ich später zu sprechen kommen.
Vorher möchte ich auf die Bedeutung von Bildern hinweisen, denen bei Plato wie auch bei Wittgenstein eine wesentliche Rolle zukam. Wie Nyíri anführt, versuchte Wittgenstein, sich vom Einfluß geschriebener Sprache zu befreien, der seit Plato die Geschichte der abendländischen Philosophie geprägt habe. Geschriebene Sprache als Quelle philosophischer Konfusionen sei Wittgensteins eigentlicher „Feind“ gewesen, wie Nyíri betont (Nyíri 2005, 311). Um die Fallstricke der geschriebenen Sprache zu überwinden, befasste sich Wittgenstein in seiner Philosophie mit der gesprochenen Sprache; um der Barrieren der gesprochenen Sprache Herr zu werden, arbeitete er in seiner Philosophie mit Bildern (Nyíri 2005, 312). Dies gilt meines Erachtens insbesondere für den Bereich des Nicht-Sagbaren, über den es keine sinnvollen Sätze geben könne, für den sich Sprache als Unsinn erweise.
Doch auch in zahlreichen Beispielen aus dem konkreten Sprachgebrauch verwendet Wittgenstein Bilder zur Verdeutlichung philosophischer Probleme. Bezugnehmend auf Augustinus’ Benennung von Gegenständen mit Worten zum Erlernen von Sprache, bemerkt Wittgenstein, dass wir ein bestimmtes Bild vom Wesen der menschlichen Sprache erhalten. In diesem Bild fänden wir die Wurzeln der Idee, dass jedes Wort eine Bedeutung habe (vgl. MS 142, 1). In seinem Hinweis auf die Ähnlichkeiten zwischen Wörtern bzw. Familienähnlichkeiten beruft sich Wittgenstein auf Platon, genau genommen auf den Dialog mit Kratylos, wo es darum geht, die Bedeutung eines bestimmten Wortes durch Darstellung eines ähnlichen Wortes zu beleuchten (vgl. MS 111, 13).
In diesem Beitrag möchte ich den Gemeinsamkeiten zwischen Wittgenstein und Platon insbesondere hinsichtlich eines idealistischen Weltbilds nachspüren. Dabei werde ich mich zuerst auf einen Text Wittgensteins beziehen, in dem es auffallende Parallelen zu Platons Höhlengleichnis gibt. Anschließend soll Wittgensteins Abkehr von einem platonischen Idealismus erörtert werden.
I
In einem Brieffragment, vermutlich 1925 verfaßt und an seine Schwester Hermine gerichtet, vergleicht Wittgenstein das Dasein menschlicher Existenz mit dem Befinden in einer roten Glasglocke. Auch hier geht es um ein Bild, obgleich aus metaphysischer, nicht sprachanalytischer Sicht betrachtet. Weiters geht es um die Metaphern von reinem und getrübtem Licht, als Bilder für wahre und falsche (Welt)Sicht bzw. Erkenntnis.
Im Gegensatz zu Wittgensteins philosophischen Aufzeichnungen geht aus diesem Text seine persönliche Einstellung zu geistigen und kulturellen Werten hervor, die einem Bekenntnis gleichkommt. Unter dem Kulturbegriff versteht er Kunst und Wissenschaft; Religion sieht er nicht eigentlich als Teil, sondern außerhalb der Kultur, eine Sonderstellung einnehmend. Obgleich er die Kulturen dem Bereich des Geistigen zuordnet, bedeuten sie für ihn nur eine Art Ersatz für Religion. Diese mache das wirklich Spirituelle aus.
In einer Metapher wird das religiöse Ideal – als das „reine geistige“ Ideal – dementsprechend mit weißem Licht verglichen, die Ideale der verschiedenen Kulturen hingegen mit den gefärbten Lichtern, die entstehen, wenn das reine Licht durch rot gefärbtes Glas scheint. Allein mit diesem Vergleich werden Kunst und Wissenschaft mit Verschwommenheit und Unklarheit assoziiert, Religion mit reiner Geistigkeit und Wahrheit. Solange eine Kulturepoche bestehe und dem Menschen etwas zu geben fähig sei, halte der Mensch diese für das Wahre, Absolute - für das Licht -, nicht wissend, daß Kultur im Grunde nur ein Abglanz eines darüber stehendes Lichtes, des wirklich Geistigen, sei. Bei den Menschen, die in dem getrübten Licht verharren – sich mit Kultur und Wissenschaft begnügen – bestehe kaum Verlangen nach dem reinen, absoluten Licht.
Die Parallelen zu Platons Höhlengleichnis sind unverkennbar, wo die in dunkler Höhle Lebenden, die noch nie das Tageslicht geschaut haben, dieses nicht vermissen, sondern die aus ihrem dunklen Dasein erwachsende Sicht der Dinge für die wahre halten. Der Unterschied zwischen wahrer und falscher Erkenntnis bzw. zwischen Sein und Schein wird von Wittgenstein auf den Unterschied zwischen religiöser und kulturbezogener Betrachtung der Dinge übertragen: während der kulturelle Mensch die Welt durch rosa getrübtes Licht betrachte, erkenne der religiöse diese in reinem, ungetrübtem Licht.
Auch Platon spricht von der unterschiedlichen Betrachtungsweise der Menschen, die diesen, je nach Naturanlage, zu eigen sei. Die Betrachtung der in dunkler Höhle Lebenden gleicht den von Wittgenstein beschriebenen Menschen, die sich mit Kunst und Wissenschaft begnügen und daher nur in einem begrenzten Teil des eigentlichen Raumes leben. Erst die Schau des Lichts ließe die Dinge in ihrer Wahrheit erkennen, die das durch eine niedrigere Sichtweise Zugängliche nur als Schattenbilder bzw. Abbilder der Urbilder aufzeigt.
Das Licht kann nach Platon die Seele nur denkend erkennen, nachdem sie sich zu einer höheren Betrachtungsweise aufgeschwungen hat und die Welt an sich erkennt. Der Anblick des Lichts kann aber so stark sein, dass der Betrachter es wieder fliehen möchte, da er das Leuchten nicht aushält. Auch Wittgenstein schreibt, wie mancher, der die Glasglocke zu durchbrechen versucht, den Kopf wieder zurücksteckt. Und in einer Tagebucheintragung der späten Dreißigerjahre heißt es, dass der normale Mensch den Anblick des Vollkommenen, der Platons Darstellung des Lichts als Symbol für die Idee der Ideen bzw. der Idee des Guten – des Göttlichen – entspricht, nicht auszuhalten vermag.(DB, 213f.)
So wird bei beiden Denkern das eigentliche Licht – nach Platon die „Idee des Guten“ – nur mit Mühe und Überwindung von Hürden erreicht. Hat man die Idee des Guten einmal geschaut, so erkenne man, dass sie „für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und dass also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, sei es nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten“ (Politeia, 517c).
In ähnlicher Weise wie bei Platon die Idee des Guten als höchstes Ziel genannt wird, nach dem der Mensch zu streben habe, stellt Wittgenstein zeitweise das Gute und das Göttliche auf eine Ebene und betrachtet diese Gleichstellung als Fundament seiner Ethik.1
In der Metapher der Glasglocke bedeutet das reine weiße Licht nicht nur das Religiöse, sondern Geistigkeit an sich und ist insofern dem von Platon beschriebenen Licht zu vergleichen, das nur denkend zu erfassen ist. Dieses Denken ist jedoch kein diskursives, analytisches, sondern ein „anschauendes“, der „theoria“ zuzuordnendes.
Das Gute ist nicht das Sein, sondern ragt darüber noch hinaus (Politea, 509b). – Ähnlich wie in Wittgensteins Metapher von der Glasglocke das reine Licht als Symbol für das Göttliche und damit Gute alle kulturellen Werte und damit alle auf Wissenschaften beruhenden Erkenntnisse überstrahlt.
Viele Menschen könnten, so Platon, nur mit Mühe das Seiende erblicken, andere nähren sich vom Scheine, ohne das Seiende geschaut zu haben. In seiner Metapher von der Glasglocke beklagt Wittgenstein, dass sich die Meisten mit Kunst und Wissenschaft zufrieden geben, ohne sich dem „reinen Licht“ genähert zu haben. Melancholie und Humor, die nichts mit Traurigkeit und Lustigsein zu tun hätten, seien die Folge, die jene Menschen befallen.
Das von Platon genannte Seiende entspricht demnach dem „reinen geistigen Licht“ bei Wittgenstein, und auch Platon beschreibt das Seiende mittels der Metapher des Lichts. Durch die Kraft des Geistes schwebe die „gefiederte Seele“ in den höheren Gegenden und erlange in gewisser Weise Anteil am Licht bzw. Göttlichen, das Platon mit dem Schönen, Guten und Weisen identifiziert. Diesen „überhimmlischen Raum“ habe noch nie ein Dichter besungen, wie es sich gebühren würde. – Auch Wittgenstein weist auf die Unmöglichkeit hin, diesen Bereich in adäquater Weise zu erfassen, verbal wiederzugeben. Allerdings spricht er im Gegensatz zu Platons negativer Einstellung gegenüber der Kunst von den Möglichkeiten, in der Kunst das an sich nicht Darstellbare anzudeuten, das nicht Aussprechbare – unausgesprochen – auszusprechen (Engelmann, 23f.). Auch im Gleichnis von der Glasglocke, wo er zwar eine pessimistische Haltung gegenüber Kultur an sich einnimmt, betont er letztlich, dass es möglich sei, sich mit der Grenze der Kultur auf eine Weise auseinanderzusetzen, die geniale Werke zur Folge hätte. Dies bedeute jedoch eine Auseinandersetzung mit dem Religiösen, ohne die Werke der Kunst nur mittelmäßig wären. Sie würden, im Sinne Platons, das Seiende nicht auf gebührende Weise besingen.
Mit der von Wittgenstein angesprochenen Grenze zwischen (kultur)wissenschaftlichem und religiösem Weltbild sind nicht nur die Grenzen kultureller Werte und wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern auch die der Sprache und damit der Philosophie gemeint.
Das philosophische Ich – im Tractatus 5.641 als „das metaphysische Subjekt“, als die „Grenze der Welt“ – definiert, scheint somit denselben Rätseln – denselben philosophischen Fragen – gegenüberzustehen wie der religiöse oder künstlerische Mensch. Die Art und Weise seines Zugangs entscheidet dann über wahre oder falsche Auseinandersetzung mit den Problemen.
Auch mit seiner Bemerkung, daß bei einer nur oberflächlichen Auseinandersetzung mit der Grenze zwischen Kultur und Religion das Wesentliche der Schönheit verloren ginge, die daraus entstandenen Werke uns allenfalls an das erinnern, was einmal schön war, ist bei Wittgenstein der Anklang an Platon gegeben: an dessen Darstellung der "anamnesis", der "Wiedererinnerung" an das, was wir Menschen vor unserer Geburt geschaut haben, wenn wir die unvollkommenen Abbilder der Urbilder betrachten.
II
Abgesehen von diesem, in sehr persönlich gehaltenem Stil verfassten Brieffragment lassen sich auch in den philosophischen Manuskripten Wittgensteins Anspielungen auf Platons Urbilder bzw. Ideen finden, allerdings aus sehr unterschiedlicher Bewertung bzw. aus ambivalenter Haltung. In der früheren Periode spricht er noch vom Urbild der Abbilder – hinsichtlich der Analyse eines Satzes, des Urbilds der Allgemeinheitsbezeichnung – oder von einem logischen Urbild, dem Urbild der Farbe und dergleichen (vgl. MS 102, 103, 104, 108 etc.), wobei der Ausdruck „Urbild“ in vielen Fällen als Synonym für „Paradigma“, „Vorbild“ steht.
Um 1934/35 verwendet Wittgenstein den Begriff des "Doppel" für das "Urbild" eines Ausdrucks: Bei der Frage, worin der Unterschied zwischen den Strichen einer Zeichnung eines Gesichts und dem Ausdruck des Gesichts bestünde, schreibt er:
Wenn ich das Gesicht einen Eindruck auf mich machen lasse, dann ist das, als ob es ein Doppel seines Ausdruckes gäbe, als ob das Doppel das Urbild des Ausdruckes wäre, und als ob man das Urbild, dem der Ausdruck des Gesichtes entspricht, fände, indem man den Ausdruck sieht, - als ob in unserem Geist ein Futteral gewesen wäre und das Bild, das wir sehen, in dieses Futteral gefallen wäre und hineinpaßte. Aber es ist eher der Fall, daß wir das Bild in unseren Geist sinken und da ein Futteral machen lassen. (BRB, 252)
Die Bezeichnung „Futteral“ wird häufig für die Form der Vorstellung bzw. das „Vorbild“ verwendet, das in unserem Geist vorhanden sei – insofern dem Urbild bzw. der Idee im Platonischen Sinne entspricht.
Dann aber gibt Wittgenstein den Gedanken, daß das Wort in eine Form passe, auf und bemerkt, daß diese Metapher nicht auf ein Erlebnis des Vergleichens anspielen könne - nämlich des Vergleichs zwischen der Hohlform und der Vollform, bevor sie zusammengefügt werden. Vielmehr passe die Metapher auf ein Erlebnis, die Vollform durch einen bestimmten Hintergrund hervorgehoben zu sehen. (BRB, 261)
1937, im MS 183, spricht er wiederum von einem Ideal, das er vor Augen habe - ähnlich den Ideen oder Urbildern im Platonischen Sinne. Diese Idee könnte er in gewissem Sinne "erhaben" nennen - dadurch, "daß wir die ganze Welt durch sie betrachten". Doch er weist darauf hin, daß wir uns klar werden, welche "Erscheinungen, welche einfachen, hausbackenen Fälle das Urbild zu dieser Idee" seien - er kehrt also den Begriff des Platonischen Urbilds um, indem er das Urbild in den konkreten Fällen sucht. (DB, 163)
Nach diesem Ideal wolle er die Wirklichkeit aber nicht umfälschen, sondern Vergleiche anstellen. Die "sublime Auffassung" zwinge ihn, vom konkreten Fall wegzugehen, da, was er sage, ja auf ihn nicht passe. Er begebe sich nun in eine "ätherische Region", rede vom "eigentlichen" Zeichen, von Regeln, die es geben müsse und gerate dann ‚aufs Glatteis’ (DB, 164).
"Zurück auf den rauhen Boden!"2 heißt es im MS 157, doch es fällt ihm schwer, die „Brille“ abzunehmen (PU, § 103), durch die wir die Dinge – mit einer uns vorschwebenden Idee – betrachten. Trotzdem setzt Wittgenstein alles daran, um die Dinge von der "metaphysischen Verwendung" der Philosophen wieder auf ihre "alltägliche" zurückzuführen:
Zu "Idealer Name" & Ursprung des Ideals gehört die Bemerkung daß wir die Wörter die der Philosoph in Metaphysischer Weise verwendet ihrer gewöhnlichen Verwendung wieder zuführen (MS 157b, 14v. Vgl. auch PU, § 116)
Im MS 157a, 58v, schreibt Wittgenstein, dass der ideale Name folgendermaßen funktionieren solle: „’Diesem Namen entspricht das.’ Und das ‚das’ soll einfach sein, ganz einfach.“
Wenn man etwas Alltägliches sieht, so soll man nicht etwas hinter dem Satz sehen. In der Bemerkung, „der Satz sei etwas sehr merkwürdiges“, liege bereits der Fehler.
Denn die „Analyse, das Denken als seelische Tätigkeit“ berge Gefahren, die uns verleiten, nach einem Ideal zu suchen, da wir von der Idee besessen sind, dass ein Satz so und so gebaut sein müsse. Es sei wie bei Plato, bei dem auch immer geschlossen werde. Die Annahme, es müsse sich „auch dort so und so verhalten“, verführe uns dazu, diese Vorstellung bzw. Idee in unserem Kopf zu einem Ideal zu erheben (MS 157a, 59r).
Anstatt denkend zu zerlegen, geht es jedoch darum, zu "schauen":
"denk' nicht, sondern schau!"(PU, § 66)
Trotz dieser Distanzierung von einem platonischen Idealismus gibt es auch in der Spätphilosophie Wittgensteins Parallelen zu Platon: Dies betrifft nicht nur die Sprachphilosophie, wo bei beiden Denkern das „Benennen“ und „Beschreiben“ anstelle des Erklärens im Vordergrund steht, sondern vor allem die kritische Betrachtung von Philosophie als einer zu befriedigenden Ergebnissen gelangenden Wissenschaft. Die von Platon bekannte Äußerung über das Wissen vom Nichtwissen kommt in Wittgensteins Bemerkungen über die Rolle der Philosophie wiederholt zum Ausdruck, die bereits im Tractatus angedeutete Infragestellung der Ergebnisse der Philosophie, wie überhaupt die der Wissenschaften, verstärkt sich mit den Jahren.
Der in der Metapher von der Glasglocke angesprochene Gedanke von der Begrenztheit wissenschaftlicher Erkenntnis spielt insofern auch in späteren Jahren eine tragende Rolle:
Das Bild des in Kultur und Wissenschaft befangenen Menschen, der sich nur in einem begrenzten Teil des eigentlichen Raumes bewegt und mit seinem Kopf immer wieder an die Grenzen seines Raumes stößt, findet später im Gleichnis von der Fliege im Fliegenglas eine Entsprechung (PU, § 309).
Diese Grenze, an die man durch bloße Befassung mit Kunst und Wissenschaft unweigerlich stößt, könne durch Religiosität überschritten werden. D.h., laut Wittgenstein durch ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Religiösen, dem Bewusstsein der Unzeitlichkeit des Lebens – bereits im Frühwerk angesprochen –, laut Platon dem Bewusstsein der Unsterblichkeit der Seele. Die durch den Eros – den Trieb zur „Erzeugung im Schönen“ – erfolgte Auseinandersetzung mit dem Ewigkeitsgedanken kann auf unterschiedliche Art und Weise geschehen: auf niedrigerer Ebene durch den Trieb zur Erzeugung von weiterem Leben in körperlicher Hinsicht, auf höherer – dichterischer und philosophischer – Ebene, durch den Trieb zur Erzeugung von Dauerhaftem im Geistigen. In Wittgensteins Metapher der Glasglocke ist dieser Gedanke Platons in der Auseinandersetzung mit der Grenze zwischen Wissenschaft und Religion nachvollziehbar: auch hier geht es um eine Auseinandersetzung mit dem Religiösen und damit Unsterblichkeitsgedanken – eine Auseinandersetzung, die „genialen Menschen“ zugesprochen wird, deren Werke von Dauer seien. Wie bei Platon geht es um den Geist – von Wittgensteins als „reines weißes Licht“ beschrieben, als „das Licht“ – ähnlich der „Idee der Ideen“ bzw. der „Idee des Guten“, die bei Platon an höchster Stelle steht.
III
Es scheint wie ein Widerspruch, dass Wittgenstein in seinem Gleichnis von rot gefärbter Weltsicht der in Kultur und Wissenschaft verankerten Menschen spricht, das reine geistige (platonische) Ideal wahrer Erkenntnis als die religiöse Sicht beschreibt, später aber im Zusammenhang mit seinen kritischen Äußerungen gegenüber Platon gerade dessen idealistische, auf das Ewige gerichtete Betrachtung als eine durch eine metaphysische Brille gesehene bezeichnet.
Das, was er in seinem Brief an Hermine als „Ideal“– als reines weißes Licht – beschreibt, durch das eigentliche Erkenntnis gewährleistet wäre, scheint später eine Art „Umkehrung“ ins Gegenteil zu erfahren: der platonische Anspruch eines Ideals wird als etwas Negatives, Abzulehnendes bewertet – als eine mit einer Brille gesehene Sicht definiert, die 1925 ja gerade der anderen, gegenteiligen, „begrenzten“, da nur auf Wissenschaft und Kultur sich stützenden, Weltsicht zugesprochen wurde.
Doch dies betrifft, wie vorhin erörtert, nur die „Ideale“, nach denen wir die konkreten Erscheinungen der phänomenalen Welt „umfälschen“ wollen. Wir sollten jedoch, so Wittgenstein, umgekehrt vorgehen: d.h., die konkreten Fälle als Ausgangspunkt nehmen und sie dann mit dem Ideal vergleichen.
Was den religiösen Bereich anbelangt, so gilt dieser auch später – vor allem in den persönlichen Tagebuchaufzeichnungen – als „Ideal“ und Wittgenstein verwendet in dieser Hinsicht nach wie vor häufig Metaphern, insbesondere die Metapher des Lichts: als Symbol für Klarheit, Transparenz in seiner Philosophie, sowie als Symbol für ethische und religiöse Angelegenheiten, womit die Nähe zu Platon immer noch gegeben ist.
Literatur
- Nyíri, Kristóf 2005 „Wittgenstein’s philosophy of pictures“. In: Wittgenstein: The Philosopher and his Works. Ed. by Alois Pichler and Simo Säätelä. Bergen: Working papers from the Wittgenstein archives at the university of Bergen.
- Platon 1958 Sämtliche Werke. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Hamburg: Rowohlt
- Somavilla, Ilse (ed.) 2004 Ludwig Wittgenstein. Licht und Schatten. Innsbruck: Haymon.
- Wittgenstein, Ludwig 2000 The Bergen Electronic Edition Bergen, Oxford: Oxford University Press.
- Wittgenstein, Ludwig 1997 Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932/1936-1937. Hg. von Ilse Somavilla. Innsbruck: Haymon.
- Wittgenstein – Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen 2006. Hg. von Ilse Somavilla unter Mitarbeit von Brian McGuinness. Innsbruck: Haymon, 2006.
- Wittgenstein, Ludwig 1990 Werkausgabe in 10 Bden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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