Abstract
Wittgenstein´s „Über Gewißheit“ ist zum Teil motiviert durch die Auseinandersetzung mit Moore über den Skeptizismus. Neben Gewißheiten, die sich nach Wittgenstein skeptischen Fragen entziehen, wo ein Irrtum logisch ausgeschlossen ist, gibt es auch ein breites Spektrum subjektiver Gewißheiten. Vorliegende Arbeit versucht zu zeigen, dass solche Gewißheiten durch subjektives Verstehen und Beurteilen einer Sachlage, durch subjektive Erfahrungen usw. begründet und somit relative Gewißheiten sind, die nicht „richtig“ im naturwissenschaftlichen Sinn, sondern pragmatische Hilfen für richtiges Handeln sein sollen und dem Drang nach einem geordneten Weltbild entgegenkommen. Beim Aufnehmen von Informationen spielt das Verstehen eine wichtige Rolle. Zum Erleichtern des Verstehens von Informationen werden diese oft vereinfacht, aufbereitet, was zu missbräuchlichen Manipulationen führen kann. Die radikale Auffassung von der Subjektivität und somit auch Relativität von Gewißheiten scheint in ein Chaos subjektiver Standpunkte zu führen. Dem wirken aber soziale Kräfte entgegen, die subjektive Meinungen einander annähern.
Table of contents
Von Wittgensteins Schriften haben der Traktat und die Philosophischen Untersuchungen die meiste Aufmerksamkeit erfahren. Seine letzte Arbeit, „Über Gewissheit“ (ÜG), mit der sich Wittgenstein noch zwei Tage vor seinem Tod beschäftigt hat, ist dagegen weniger beachtet und interpretiert worden, obwohl nach Meinung mancher Autoren die darin vertretenen Gedanken zu Wittgensteins besten gehören (von Wright).
Wittgensteins philosophische Entwicklung wurde immer an seinen Arbeiten abgelesen. Das hat zu dem Bild des frühen Wittgenstein, dem des Traktats, und zum Bild des späten, dem der Philosophischen Untersuchungen, geführt. Nun vertreten viele Autoren die Meinung, schon der zweite Teil der Philosophischen Untersuchungen (PU) zusammen mit den „Bemerkungen über die Farben“, mit „Zettel“ und ÜG seien Ausdruck neuer Wege, die über den ersten Teil der PU (bis PU 693) hinausgehen, und sprechen daher von einem Dritten Wittgenstein.
Von den oben genannten späten Schriften, die in der Tat in neue Gedankengänge führen, möchte ich mich hier auf ÜG beschränken und beim Versuch einer Interpretation bestimmte Aspekte behandeln, die etwas im Hintergrund geblieben sind. Für Wittgenstein war ein Anstoß zu ÜG sicherlich die kontroversielle Debatte mit Moore über commonsense und Skeptizismus und so ist es auch verständlich, wenn Kommentatoren sich vor allem mit dem Skeptizismus und seiner Zurückweisung durch Wittgenstein befassen (Moyal-Sharrok 2002 und 2004). Das führt zur Analyse der „absoluten“, der „fundamentalen Gewißheiten“ und deren epistemischem Status. Ohne auf die diesbezüglichen Interpretationen einzugehen, sei nur eine wichtige Schlussfolgerung erwähnt, die nach meiner Meinung überzeugend ist: Aussagen von fundamentaler Gewißheit (z.B. „hier ist meine Hand“, „es gibt physische Gegenstände“, „in diesem Moment träume ich nicht“) sind nicht als empirische Sätze aufzufassen, sind nicht falsifizierbar und entziehen sich daher skeptischen Fragen. Ob man sie zu den grammatischen, logischen Propositionen zählen kann, ist eine andere Frage; jedenfalls haben sie nach Meinung aller Autoren einen besonderen Status, der sie jedem Zweifel entzieht. Sie sind die festen Punkte, um die sich unsere Sprachspiele bewegen, diese überhaupt erst möglich machen. So sagt Wittgenstein (ÜG 341-343): „D.h. die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen sich jene bewegen. -- D.h. es gehört zur Logik unserer wissenschaftlichen Untersuchungen, daß Gewisses in der Tat nicht angezweifelt wird. -- Es ist aber damit nicht so, daß wir eben nicht alles untersuchen können und uns daher notgedrungen mit der Annahme zufrieden stellen müssen. Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen“.
Bei allem Bemühen um eine Analyse „absoluter“ Gewißheiten weist Wittgenstein immer wieder auf die Möglichkeit von Gewißheiten, die diesen Status nicht haben. Heißt es doch in ÜG 194: „Mit dem Wort <gewiß> drücken wir die völlige Überzeugung, die Abwesenheit jedes Zweifels aus, und wir versuchen damit den Andern zu überzeugen. Das ist subjektive Gewißheit. Wann aber ist etwas objektiv gewiß?- Wenn ein Irrtum nicht möglich ist. Aber was für eine Möglichkeit ist das? Muß der Irrtum nicht logisch ausgeschlossen sein?“ Dieses Beispiel unterstreicht die Trennung von subjektiver und objektiver Gewißheit; der andere ist anderer Meinung, ich muß ihn erst von der meinen überzeugen. In ÜG liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung jener absoluten Gewißheiten, wie das auch bei den oben zitierten Literaturstellen der Fall ist. Und obwohl Wittgenstein immer wieder die subjektive Gewißheit als Gegenpol zur absoluten, erwähnt, werden die Konsequenzen aus dem Phänomen subjektiver, falsifizierbarer Gewißheit nicht weiter verfolgt. Das soll in dieser Arbeit versucht werden. Welches sind nun die Merkmale dieser subjektiven Gewißheit, wie wird sie begründet und wie äußert sie sich im Alltag?
In vielen erläuternden Anmerkungen, in denen Wittgenstein auf Gewißheiten verweist, die aus subjektiven Erfahrungssätzen gewonnen und damit auch wieder skeptischem Zweifel ausgesetzt sind, schließt er ausdrücklich nicht aus, daß eine subjektive Aussage zu einer von allgemeiner Gültigkeit werden kann und damit auch den kategorial verschiedenen Charakter einer absoluten Gültigkeit annimmt. In ÜG untersucht er, was <wissen> bedeutet, insbesondere, welche Sicherheit, welche Gewißheit der Ausdruck <ich weiß> enthält. Und er zeigt anhand vieler Beispiele, daß eine subjektive Behauptung ein breites Spektrum von der bloßen flüchtigen persönlichen Meinung bis hin zu absoluter Gewißheit besetzen kann, wie sie beispielsweise durch Aussagen wie: „das ist meine Hand“ oder „2 mal 2 = 4“ representiert wird. „Aber es gibt keine scharfe Grenze zwischen ihnen“ (ÜG 53). Zwischen den Extremen, der bloß subjektiven Meinung und Überzeugung, die sich sogar als Aberglaube zeigen kann, und den absoluten Gewißheiten liege ein Gebiet von Erfahrungen und Überzeugungen, die man sich so vorstellen könne, „daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionieren; und daß sich dieses Verhältnis änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden“ (ÜG 96). Das ergibt ein subjektives Weltbild, das durch Erfahrungen stets ergänzt und korrigiert wird, wobei es aber nicht darauf ankommt, einzelne Erfahrungen exakt auf ihre „Richtigkeit“ zu überprüfen, wie etwa eine naturwissenschaftliche Beobachtung. „Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf dem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“ (ÜG 94). Ziel dieser pragmatischen Weltsicht ist es, einem jeden ausreichende Sicherheit im Alltag zu geben und die subjektive Gewißheit, jeweils richtig zu handeln. Absolute Gewißheiten bleiben dabei allen Zweifeln entzogen und unbewußt.
Ganz allgemein läßt sich sagen, daß unsere Handlungen, auch verbale (Sprechakte), durch Signale und Informationen ausgelöst, beeinflußt, begründet sind, die das Subjekt empfängt. Auch wenn subjektive Wünsche und Bedürfnisse diese Handlungen auslösen, bleiben Verhalten und Handlungen doch in hohem Maß vom umgebenden Weltbild beeinflußt. Für unsere Überlegungen ist wichtig festzustellen, daß die Informationen in subjektiv unterschiedlicher Weise aufgenommen, verstanden und interpretiert werden, entsprechend dem Charakter, Gefühlszustand, den Vorkenntnissen, Interessen, dem ganzen „überkommenen Hintergrund“ des Subjekts, wie Wittgenstein sagt. Eine gleiche Sachlage wird durch verschiedene Subjekte unterschiedlich verstanden und interpretiert, die Interpretation entspricht dem jeweils urteilenden Subjekt. So erreicht letztlich jedes Subjekt eine persönliche Basis für seine Handlungen. Das gilt auch, wenn ein subjektiver Standpunkt einmal „ich weiß es nicht“, „ich verstehe es nicht“ lauten und gar keine aktive Handlung stattfinden sollte.
Die Vielfalt so entstandener individueller Urteile und Gewißheiten ist natürlich nicht das letzte Wort. In der Praxis werden bei sozialen Kontakten ursprüngliche Meinungen verändert und einander angenähert. Auch hier zeigt sich worauf Wittgenstein hingewiesen hat, daß sich „feste Meinungen verflüssigen und flüssige verfestigen“ können (ÜG 96). Auch besteht unabhängig von sozialen Kontakten eine natürliche Tendenz, sich Bilder und Sachverhalte zu vereinfachen, um sie besser verstehen zu können. Details werden ausgeblendet, Informationen umgedeutet bis zu ihrer Verfälschung, um sie dem jeweiligen persönlichen „überkommenen Hintergrund“, beziehungsweise einem aus persönlicher Sicht „richtigen“ Verstehen anzupassen. Dazu kommt, daß Informationen, aus denen wir unsere täglichen Gewißheiten ableiten, zumeist so aufbereitet sind, daß sie dem Verstehen des Empfängers entgegenkommen und auch so verteilt werden, dass große Menschenmengen gleiche Informationen erhalten (siehe moderne Medien). Wie auch immer ein Subjekt letztlich einen persönlichen Standpunkt erreicht, eine Gewißheit für sein Verhalten und Handeln, es bleibt letztlich die Entscheidung des Einzelnen, was er für richtig hält. Das gilt auch, wenn Befehle, Ratschläge oder Warnungen befolgt werden, welche die subjektive Gewißheit beeinflussen können.
Der Begriff einer „subjektiven Gewißheit“ impliziert also, daß ich selbst es bin, der über die Richtigkeit meines Verstehens und meiner Entscheidung urteilt und daß ich mir selbst, reflexiv, die Gewißheit richtigen Verstehens und Handelns vermittle. Anders also als beim Verstehen zwischen zwei oder mehreren Personen wird hier ein Urteil, ob ich richtig oder falsch verstanden habe, durch mich selbst gefällt. Wittgenstein behandelt zwar oft und ausführlich Fragen des Verstehens (in den PU, beispielsweise beim Problem des Regelfolgens) immer aber ist von Verstehen in dialogischen Situationen die Rede. Wittgenstein betont, daß, gleichsam von außen her, nicht bewiesen oder widerlegt werden könne, ob einer einen Sachverhalt versteht (BPPII 694. Ähnlich liegt der Fall, wo nicht bewiesen werden kann, wie einer eine Figur sieht. Siehe PU II, XI). Das würde bedeuten, ein Urteil über richtiges oder falsches Verstehen sei ohnehin nicht von außen her, durch Rekurs auf die Meinung anderer, sondern nur durch das Subjekt selbst und in der Folge durch Erfolg oder Mißerfolg einer Handlung zu fällen. Immer muß das Subjekt selbst sich um das eigene Verstehen bemühen und beurteilen, ob es richtig verstanden hat. Dieser Umstand und die Unmöglichkeit, angesichts der prinzipiellen Subjektivität des Verstehens dem Begriff „richtig“ eine allgemein gültige Bedeutung zu geben, führt dazu, statt „richtiges Verstehen“ besser „hinreichend richtiges Verstehen“ zu sagen. So soll in der Folge „hinreichend richtig“ gemeint sein, wenn „richtig“ gesagt wird.
Der Prozeß des Verstehens, an dessen Ende ein richtiges Verstehen stehen soll, wird also immer undeutlicher, je besser wir ihn zu fassen versuchen. Er bleibt ein Phänomen, das wir nur sehr vage als ein Aha-Erlebnis umschreiben können oder mit Wittgensteins Worten: „Es muß etwas einschnappen“ (BBP I 546). In PU 151 erläutert Wittgenstein, Verstehen sei kein seelischer Zustand wie etwa traurig sein, man könne beispielsweise seit gestern und auch ununterbrochen traurig sein, man könne sagen „ich verstehe etwas seit gestern“ aber nicht „ich verstehe etwas ununterbrochen“. Es gelingt nicht, „den seelischen Vorgang des Verstehens, der sich, scheint es, hinter jenen gröbern und uns daher in die Augen fallenden Begleiterscheinungen versteckt, zu erfassen. … Ja, wie konnte denn der Vorgang versteckt sein, wenn ich doch sagte <jetzt verstehe ich>, weil ich verstand?“ (PU 153). Wir meinen den Zustand des Verstehens erreicht zu haben, wenn wir selbst mit unserem Verständnis zufrieden sind. Offenbar ist unser subjektiver „Beweis“ für richtiges Verstehen dann und nur dann gegeben, wenn es zu einem „befriedigenden Verstehen“ wird. Dazu Wittgensteins Hinweis: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen.“ (PU 129). Das entspricht der philosophischen Position des späten Wittgenstein, nicht hinter der Sprache, den Sprachspielen, etwas zu vermuten, das die Sprache erklärt, und ganz allgemein, nicht hinter den Dingen etwas Verborgenes, „Eigentliches“, zu postulieren, das sie erklären soll. So sollte auch das Verstehen als solches hingenommen werden als ohne etwas dahinter Stehendes, das es begründet und steuert. In der Tat ist dieses zumeist ungenaue, unscharfe und auf das verstehende Subjekt zugeschnittene Verstehen unser eigentliches Verstehen und die Gewißheit unserer Standpunkte, die wir daraus ableiten, unsere eigentliche subjektive Gewißheit, die mit unserem Verstehen, Können und Handeln eng verwoben ist. „Die Grammatik des Wortes <wissen> ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte <können>, <imstande sein>. Aber auch eng verwandt der des Wortes <verstehen>“ (PU 150).
Nicht immer besteht Anlaß zum Handeln, wenn z.B. eine Information bloß aus Neugierde und Wissensdurst aufgenommen wird, um Kenntnis von einer Sachlage zu erreichen. Hier besteht offenbar ein angeborener menschlicher Drang, Eindrücke und Informationen aus der Umwelt zu ordnen, in geordneter Form aufzunehmen und sich anzueignen. Man versucht zu „verstehen“, was um einen herum geschieht; man ordnet neue Informationen ein, indem man sie mit Erinnerungen und Vorwissen in Verbindung setzt, Analogien sowie Gegensätze zu früheren Gedanken drängen sich auf usw. Am Ende dieses Prozesses steht dann die Überzeugung, ein richtiges Bild, einen richtigen Eindruck von den Ereignissen gewonnen zu haben. Auch hier gilt natürlich wieder, daß die Eindrücke subjektiv geordnet sind entsprechend dem eigenen Vorwissen. Der Drang, sich Klarheit bezüglich der uns bedrängenden Eindrücke zu verschaffen, kann so stark sein, daß er sich sogar unsinniger Argumente bedient, nur um ein geordnetes, subjektiv „verständliches“ Bild zu erhalten. Das lässt sich interpretieren als die ständige Ergänzung von Vorwissen und Erfahrung, mit Wittgenstein gesprochen, des überkommenen Hintergrunds, der ja, wie an früherer Stelle ausgeführt, mitbestimmend ist für Verstehen, Verhalten und Handeln in aktuellen Fällen. Das gilt für überlegte Handlungen ebenso wie für emotionale, unüberlegte. Auch die Korrektur eines ursprünglichen Bildes ist subjektiv, selbst wenn Ratschlägen, Verboten oder Befehlen gefolgt wird.
Der Drang nach geordneten und verständlichen Bildern wird leicht Opfer von Mißbrauch, von bewußt tendenziösen Darstellungen und Erklärungen (z.B. durch die Medien, parteipolitische Nachrichten usw.), die mangels anderer Kenntnisse und Erklärungsmöglichkeiten begierig aufgegriffen werden, insbesondere dann, wenn sie subjektivem Vorwissen und subjektiver Meinung, kurz dem überkommenen Hintergrund, entgegenkommen. Wo sich eine manipulierte Information mit einer – richtigen oder falschen – vorgefaßten Meinung trifft, ist man besonders leicht geneigt, der Information zu glauben. Abgesehen von der Gefahr des Mißbrauchs wird jeder von uns täglich mit Informationen aus Politik, aus Ökonomie etc. überhäuft und bezieht zu ihnen Stellung. Diese wird umso ungenauer und gefühlsmäßiger sein, je weiter die Information von eigener Sachkenntnis und Erfahrung entfernt ist. Der Drang, irgendeine Einstellung zu haben, ist aber offenbar so stark, daß kaum jemand bekennen würde, er habe überhaupt keine Meinung zu einem Thema. Wo einer z.B. durch seinen beruflichen Hintergrund eine detaillierte Sachkenntnis hat und aktiv im Geschehen mitwirken kann, mag die Entscheidung, ob seine Meinung richtig ist, durch späteren Erfolg oder Mißerfolg getroffen werden. Für die große Menge der Außenstehenden aber bleibt die Frage, wer Recht hat, offen. Man denke an die politischen Positionen der Staatsbürger: Jeder ist von der Richtigkeit seiner subjektiven Meinung überzeugt. Daß es dabei – bei uns jedenfalls -- nur selten Exzesse gibt, liegt an der praktischen Unwirksamkeit der meisten Einzelmeinungen, an Verfahren zur geordneten Zusammenfassung subjektiver Meinungen (Demokratie) und der Akzeptanz übergeordneter ethischer Prinzipien (z.B. Menschenrechte).
Entfernt verwandt den Manipulationen ist es, wenn vereinfachte, ungenaue oder sogar falsche Informationen von einer Person bewußt als befriedigende Erklärungen akzeptiert werden. Der Wunsch nach einem ausreichend vollständigen und verständlichen Weltbild verbietet es, Informationen über Fachgebiete der Ökonomie, der Medizin, der Naturwissenschaften usw., mit der gleichen Genauigkeit und dem letzten Wissensstand entsprechend, an eine breite Öffentlichkeit weiterzugeben, wie das an die Fachleute geschieht. Man kann hier nicht von bewußter Täuschung sprechen. Der so informierte Einzelne ist mit einer vereinfachten Darstellung durchaus einverstanden, auch wenn sie in den Augen der Fachleute falsch ist. Der Wunsch nach einer hinreichenden Vollständigkeit des Weltbildes und seiner befriedigenden Verständlichkeit ist oft stärker als der nach einer exakten Darstellung, die doch nicht jeder verstehen würde. Dazu ein Beispiel: Wollte man den Aufbau eines Atoms auf einfache Weise erklären, würde man immer noch auf das alte Bohr´sche Modell zurückgreifen: Elektronen kreisen um einen Atomkern wie Planeten um die Sonne. Dieses Modell hat sich in der Forschung bewährt solange, bis man an seine Grenzen gestoßen ist. Auch, wenn die Physik es nicht mehr anwendet, bleibt es allgemein verständlich durch den Rückgriff auf die Analogie zum Sonnensystem, das jeder kennt. (Nebenbei bemerkt ist es in den Naturwissenschaften völlig normal, beim Beschreiten neuer Wege von Modellen auszugehen von denen man weiß, daß sie nicht „richtig“ sind, die aber zu Resultaten führen können, die das Experiment bestätigt.)
Ich hoffe gezeigt zu haben, daß die „subjektive Gewißheit“, auf die Wittgenstein hinweist, in ihrer Subjektivität eine relative ist, eine – wie es der Begriff „relativ“ meint – auf das jeweilige Subjekt bezogene. Und daß weiter auch das Verstehen und die Beurteilung einer Sachlage, die dieser Gewißheit vorangehen, relativ und an das Subjekt gebunden sind. (Das gilt natürlich auch für philosophische Positionen). Diese, wie ich zugebe, radikale Auffassung scheint in ein völliges Chaos subjektiver Standpunkte zu führen. Dem wirken aber offenbar starke soziale Kräfte entgegen und der Umstand, daß die meisten subjektiven Meinungen nach außen unwirksam bleiben. Darum erweist sich die relative Gewißheit im praktischen Leben als völlig ausreichend und auch der Begriff „Gewißheit“ als vertretbar.
Literatur:
- Wittgenstein, Über Gewißheit, ÜG.
- Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, PU.
- Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, BPP.
- D. Moyal-Sharrock (ed.), The third Wittgenstein, Ashgate Publishing Ltd., 2004.
- D. Moyal-Sharrock, The Third Wittgenstein & the Category Mistake of Philosophical Scepticism, Proceedings of the 24th International Wittgenstein Symposium, Vienna 2002.
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