Medienphilosophie als ethisches Projekt? Vilém Flussers Wittgenstein
Medienphilosophie als ethisches Projekt? Vilém Flussers Wittgenstein

Abstract

Der Medienphilosoph Vilém Flusser (1920–1991) gilt als einer der wichtigsten und meistdiskutierten Begründer der heutigen Medienphilosophie. Bekannt ist Flusser in wissenschaftlichen Kreisen vor allem für sein holistisches Konzept der Medienevolution und seine Theorie einer nulldimensionalen „telematischen Gesellschaft“ des „Posthistoire“. Weniger bekannt ist der große Anteil Wittgensteins an der Ausarbeitung dieser Philosophie. Dies dürfte vor allem daran an dem Umstand liegen, dass der tschechische Staatsbürger Flusser 1938 emigrieren musste und wesentliche Bestandteile seines Ansatzes in Brasilien, wo er vom Beginn der vierziger Jahre bis Ende der sechziger Jahre lebte, und d.h. in portugiesischer Sprache formulierte. Wittgensteins Denken spielt namentlich in dem bis heute nicht auf deutsch zugänglichen Língua e Realidad (1963, ²2004) eine herausragende Rolle.

Im Vortrag soll der prägende Einfluss Wittgensteins auf Flusser am Beispiel einiger seiner Hauptschriften, aber auch unter Berücksichtigung einiger bisher praktisch unbeachtet gebliebener, wenn auch höchst bedeutsamer kleinerer Schriften herausgearbeitet werden. Das Material gibt Anlass zu der These, dass Flusser Wittgenstein programmatisch „gegen den Strich“ liest, um ihn vor allem als Medienethiker fruchtbar zu machen. Diese Lesweise, so die These des Vortrags, vermag, auch wenn sie zu einem nicht unerheblichen Teil in einem „misreading“ Wittgensteins besteht, durchaus zur Bewahrung von dessen Legat und zu dessen Aktualität in der philosophischen Diskussion beizutragen.

Table of contents

    Ludwig Wittgenstein, schreibt Vilém Flusser 1966 in seiner Rezension der PB 1 für den Band 16 der Revista brasileira de folosofia, sei eine „figura gigantesca“ und zähle zu den bedeutendsten Denkern („dos maiores pensadores“) des 20. Jahrhunderts, wenn nicht der Moderne überhaupt. Das zur Besprechung stehende Buch sei unzweifelhaft von erstrangiger Größe und verdiene daher eine eingehende Würdigung (Flusser 1966, 129).

    Das Werk, das Flusser hier preist, erschien 1966 in einer zweisprachigen Ausgabe. Es enthält Auszüge aus den umfangreichen Aufzeichnungen Wittgensteins zwischen 1929 und 1930. Es gewährte dem Publikum erstmals einen genaueren Einblick in die Entstehungsgeschichte seiner so genannten „Spätphilosophie“, die der nach Cambridge zurückgekehrte Denker zehn Jahre nach der LPA zu entwickeln begonnen hatte.

    In seiner drei Seiten umfassenden Rezension lässt Flussers uns freilich diesen werkimmanenten Zusammenhang nicht erahnen, denn er ignoriert alle werkimmanenten Bezüge und Verwicklungen, die bis heute die Diskussion um Kontinuität oder Bruch in Wittgensteins bestimmen. Er stellt vielmehr einen eher persönlichen Bezug zu dem Verfasser der PB her Spricht Flusser über das zu rezensierende Buch, so spricht er sich über sein Verhältnis zum Autor aus und kommentiert das Gelesene mehr als dass er es referiert.

    Freilich war in Brasilien kaum jemand besser geeignet als Flusser, sich zu einem Werk Wittgensteins zu äußern: Er beherrschte die deutsche Sprache und vermochte daher die nuancenreiche und kunstvolle Ausdrucksweise Wittgensteins besser zu würdigen als andere, und zugleich waren ihm die Gedankengänge des Cambridger Philosophen aus eingehender Beschäftigung mit der (sprach)analytischen und logischen Philosophie vertraut. Und in seinem noch nicht ins Deutsche übersetzten Werk LeR (Flusser 1963) findet der Leser eine ausführliche Auseinandersetzung mit der LPA, wenn auch eingebettet in die kursorische Beschäftigung mit einer Myriade anderer kontinental-europäischer Philosophen – bspw. Dilthey, Cassirer, Misch, Lipps, Russell, Carnap, Mauthner, Husserl, Heidegger, Nietzsche, Frege oder Freud.

    I.

    In LeR ordnet Flusser Wittgenstein der Haupttendenz der europäisch-abendländischen Philosophie zu, die er im wesentlichen als den Dualismus von Positivismus und Existentialismus identifiziert. Der Medientheoretiker Flusser hat sich in LeR intensiv mit dem ontologischen Status von Bildern der Welt und den Weisen der Repräsentation von Tatsachen der Welt in Sprache auseinandergesetzt und dabei selbstverständlich auch die Isomorphietheorie Wittgensteins rezipiert, aber es wird schnell klar, dass ihn dabei weniger deren formallogischer Gehalt interessierte, als deren Projektions-Status im Sinne eines Bilder-„Entwurfs“ des Menschen auf die Welt. Deshalb beschäftigt er sich vor allem mit jenen Sätzen der LPA, in denen jene von Wittgenstein selbst als „unsinnig“ bezeichneten Sätze formuliert werden, mit denen wiederum transzendierend über die Beziehungen zwischen Welt und ihrem Bild in Denken und Sprache berichtet wird.

    Für seine eigene Deutung der Bild-Theorie der LPA hebt Flusser drei Aspekte hervor, die Wittgenstein zur Medienphilosophie beizutragen habe:

    • (1) Die sich in den Bildern von der Welt zeigende Logik ist zirkulär hinsichtlich ihrer Geltung; sie beruht daher auf einem Nichts.
    • (2) Sätze der Ethik (wie auch die der Ästhetik) sind für die Philosophie essentiell, aber sie sind unsinnig und lassen sich nicht sinnvoll in der positivistischen Sprache der Tatsachenlogik formulieren, da sie nicht auf das Verifikationsprinzip festzulegen sind. Wittgenstein: „Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. Die Ethik ist transcendental.“ (T 6.421)
    • (3) Die selbstgesetzte Aufgabenstellung der traditionellen Philosophie, nach letzter oder erster Begründung der Geltung von Weltbildern zu suchen, ist offensichtlich absurd. Sie ist erstens unerreichbar und zweitens überflüssig. Die Logik der Bilder muss, aber sie kann auch für sich selber sorgen, ist freilich auch bodenlos und nicht zu verteidigen, wenn sie in Frage gestellt wird.

    Allerdings: Wittgenstein hatte mit der LPA den grandiosen Versuch unternommen, die Philosophie von dem Begründungszwang für die Abbildungsbeziehungen zwischen Welt und Bildern von zu entlasten. Er hatte auf die Frage: Wie kommt die Wirklichkeit ins Bild und wie können wir sie aus ihm dann wieder entnehmen? die einfache Antwort gefunden: Weil Bilder – in welchen Zeichensystem auch immer sie komponiert sein mögen – logisch schon immer binär auf die Abbildung von Sachlagen in der Welt – mögen sie nun wirklich existieren oder nicht – ausgerichtet sind, so dass sie die Welt niemals verfehlen können. Wittgenstein glaubte daher keine metaphysische Vermittlungsinstanz mehr zu benötigen, die den sich im Abbildungsverhältnis offenbarenden Weltbezug ermöglicht und zugleich dessen Gelingen garantiert. Flusser hingegen – und hierin besteht die eigentliche Orginalität seiner Laktüre der LPA –begreift Bilder der Welt immer als wirklichkeitserzeugende Projektionen, die aus einem existentiellen Entwurf hervorgehen. Dieser Entwurf, so deutet Flusser Wittgensteins Metaphysik-Verzicht, bleibt allerdings auf sich selbst gestellt, er geschieht vor dem Hintergrund eines „Nichts“ gestellt.

    II

    Dass sich der Leser der LPA nach der Lektüre in Schweigen hüllt bzw. seinem Sprechen das Geschirr der verifikationistischen Alltagssprache anlegt, immer auf der Hut, nichts Unsinniges zu äußern, mag Wittgensteins ethischer Wunsch für das rechte Verständnis seines Werks gewesen sein. Flusser hingegen nimmt den ethischen Anspruch des Verfassers der LPA in ganz anderem Sinne ernst. Wenn man mit Wittgenstein ästhetische und ethische Sätze aus dem Bereich des sinnvoll Sagbaren ausschließt, so Flusser, dann verkürzt man das Sprechen gerade um dessen wichtigste Aufgabe, in ihrem Vollzug die Spezifik der conditio humana zu bezeugen. Mit dem Eintritt des Menschen in eine symbol- und zeichenhaltige Austauschbeziehung mit der Um- und Mitwelt, also mit seinem Eintritt in die Bilderwelt wird nämlich nicht allein pragmatisch eine Lebenswelt entworfen, sondern wird ein „Kunstgriff“ – dieser Ausdruck Flussers ist hier ganz wörtlich zu verstehen – angewandt, um „die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu machen“, also jenes Nichts zu bannen, das den „bedeutungslosen Kontext [anzeigt], in dem wir vollständig einsam und incommunicado sind.“ (Flusser 1998, 10) Das Gespräch, die Kommunikation ist Welterschließung und Kulturstiftung; der Austausch erschöpft sich nicht im Gerede positivierbarer Gegenstandsaussagen, sondern erschließt uns die Welt als Welt unter Einschluss von Schönheit und Moralität. Wohl hatte Wittgenstein das Ethische und das Ästhetische selbst als seine eigentliche, gleichsam als die hidden agenda seines Buches bezeichnet (vgl. B 96f.), aber er hatte es dann, eben weil er die ontologische Dimension des Nichts auf eine bloß logische reduzierte, zutiefst verkannt. Deshalb, so Flusser, breche die LPA im Grunde in zwei Hälften auseinander: in einen logisch wohlabgesicherten, aber existenziell entkernten Part bloßer Tatsachenaussagen, und einen jenseits der Logizität angesiedelten, existentiell hochaufgeladenen Teil, der sich der Aussagbarkeitr entzieht. Flusser sieht seine Aufgabe nun darin, beide Teile wieder zusammenzuführen. Wenn Wittgenstein ein solches Unterfangen alsabsurd bezeichnet – und er tut dies –, dann ist für Flusser diese Diagnose nicht prohibitiv, sondern gerade als exhortativ zu deuten: Es ist just diese Absurdität, die es ontologisch auszubuchstabieren gilt und damit eine ethische Chance bietet. Es heißt folglich, mit Wittgenstein gegen Wittgenstein gerade dort weiterzudenken, wo dieser dem Denken eine unüberwindliche Grenze ziehen möchte: beim Nichts und dem Absurden. Auf diese Weise lässt sich laut Flusser jenes Auseinanderbrechen des Diskurses zwischen Positivismus und Existentialismus bei Wittgenstein vermeiden, dessen Überwindung gerade Wittgensteins ethisches Postulat an den Leser gewesen sei (vgl. auch Flusser 2006, 10).

    III

    In LeR findet sich kein Hinweis auf die 1953 erschienenen PU, die Wittgensteins Wende zu einer pluralistisch-pragmatischen Haltung zur Sprache markieren. Er kannte sie wohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Grundidee der Untersuchungen, dass das Feld der Sprache unüberschaubar und in seiner Vielschichtigkeit von einer „geschlossenen“ Philosophie nicht mehr zu erfassen ist, dürfte Flussers Einsichten in die Pluralität der sprachlich generierten Weltbilder vertraut gewesen sein. Allerdings dürfte Flussers Zugang zu Wittgensteins Spätwerk von der von ihm diagnostizierten Dichotomie Positivismus/Existentialismus so stark überformt worden sein, dass er glaubte, das eigentlich Neuartige der Spätphilosophie im Vergleich zur LPA vernachlässigen zu dürfen.

    Diese Vernachlässigung kennzeichnet jedenfalls Flussers bereits eingangs erwähnte Rezension der PB, auf die ich jetzt zurückkommen kann. Ich hatte bereits bemerkt, dass der Rezensent Wittgensteins sprachanalytische Detailstudien, die ja den eigentlichen Inhalt des Buches ausmachen, gänzlich beiseite lässt. Er konzentriert sich vielmehrausschließlich auf das Vorwort, das er zunächst dem brasilianischen Leser in Gänze übersetzt:

    Dieses Buch ist für solche geschrieben, die seinem Geist freundlich gegenüberstehen. Dieser Geist ist ein anderer als der des großen Stromes der europäischen und amerikanischen Zivilisation, in dem wir alle stehen. Dieser äußert sich in einem Fortschritt, in einem Bauen immer größerer und komplizierterer Strukturen, jener anderen in einem Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit welcher Strukturen immer. Dieser will die Welt durch ihre Peripherie – in ihrer Mannigfaltigkeit – erfassen, jener in ihrem Zentrum – ihrem Wesen. Daher reiht diese ein Gebilde an das andere, steigt quasi von Stufe zu Stufe immer weiter, während jener dort bleibt, wo er ist, und immer dasselbe erfassen will. // Ich möchte sagen ‚dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben’, aber das wäre heute eine Schurkerei, d.h. es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben, und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredenzien reinigen, als er selbst davon rein ist. (PB, Vorwort)

    Flussers anschließende Interpretation verfolgt auch hier die von seiner Rezeption der LPA her bekannte Strategie: den ‚positiven’ Teil des Buches – die analytischen Detailstudien – lässt er aus. Vielmehr ruft er Wittgenstein als Kronzeugen gegen die Hegelsche „Fortschrittsideologie“ zunehmender „Versöhnung“ von Welt und Bild im Namen der Positivität des Weltgeistes auf. Sodann nimmt er Wittgenstein ausdrücklich gegen Positivismus und Marxismus in Schutz. Wittgenstein sei keinesfalls ein reaktionärer Bourgeois oder ein bornierter analytischer Logiker gewesen , sondern ein Denker, der sich diesen Systemen verweigere, weil er die Haltlosigkeit, eben die Absurdität der Systemkonstruktionen erkannt habe, die sich, wie der Logiker Wittgenstein schließlich in der LPA gezeigt habe, auf nichts zu stützen, oder besser: sich nur auf ein Nichts stützen können.

    Im abschließenden Teil des Vorworts hat Wittgenstein, so Flusser, dieses „Nichts“ zum Ausgangspunkt für eine religiös eingefasste existentialistischen Denkgeste genommen. Das tauto-logische „nichts“, das uns in der LPA begegnet, wird gleichsam unter der Hand Flussers bei Wittgenstein zu dem onto-logischen Nichts der Absurdität eines Camus’schen „quand-meme“: Das Denkunmögliche und Unsagbare – eben das allem Systemdenken vorausgesetzte liegende Nichts – offenbart, so Flusser, Wittgenstein als einen auf existentzielle Authentizität gerichteten Denker.

    Damit spielt Flusser also erneut das Motiv eines gespaltenen Wittgenstein aus, das er bereits in LeR herausgearbeitet hatte: Auf der einen Seite der positivistische Logiker, auf der anderen der existentialistische Denker, der an der Autonomie und Ineffabilität des Ethischen sprachlos wird. Und wieder glaubt Flusser Wittgenstein gerade dann auf eine paradoxe Weise treu zu bleiben, wenn er den Leser am Ende seiner Besprechung auffordert, diese Schizophrenie in Richtung auf eine neue, wahrhafte Authentizität zu überwinden. Der „neue“ Wittgenstein der PB ist laut Flusser, im Grunde der alte: Hatte der frühe Wittgenstein am Ende seiner LPA nicht selbst vom Leser – und damit von sich selbst – verlangt, die Sätze des Buches zu überwinden und fortzuwerfen, um die Welt richtig zu sehen, indem er sich Schweigen verordnet hatte und damit, anstatt sich in kommunikativer Rede existenziell neu zu entwerfen, in das Nichts des schwere- und bodenlosen Schwebens eingetaucht war?

    IV

    Wittgenstein hat Flusser gewiss gute Gründe für eine solche existenzialistische Interpretation und auch Kritik geliefert. In dem von Flusser besprochenen Vorwort-Entwurf und in seinen Eintragungen in seine Notizbücher hat er die existentiellen Antriebe für sein Philosophieren offen eingestanden hatte. Zwar waren solche Bemerkungen gewiss nicht für die Veröffentlichung bestimmt, sie sind aber sicherlich ebenso ernst zu nehmen wie die sprachanalytische Ackerei auf den Wortfeldern. Flusser war sofort bereit, die überragende Rolle der Sprache als Medium der Weltvergewisserung als gegeben anzunehmen – auch wenn er, wie ich hier leider nicht eingehend ausführen kann, ein nur schwer konsistent zu denkendes universalhistorisches Stufenmodell der Medien entwickelt, in dem die das Zeitlalter der Sprachdominanz lediglich eine von insgesamt fünf Stufen ausmacht. Doch blieb Flussers Interpretation des Wittgensteinschen Werks immer von einer existenzialistisch-ethische Primäroption konfiguriert, der gegenüber die Arbeit der Sprachanalyse bloß technisches Beiwerk bleiben sollte (vgl. dazu auch Kroß 2007a).

    Dafür möchte ich ein letztes Beispiel geben. In dem undatierten Typoskript Was der Fall ist (TS 2503) beschreibt Flusser sein „Unbehagen“, das ihm der erste Satz der Abhandlung, die Welt sei alles, was der Fall ist verursache. Denn wenn man diesen ersten Satz der LPA lese, führe kein Weg zu den folgenden Sätzen des Buches, sondern „die Gedanken kreisen um ihn herum [...]. Der Leser beginnt auf eigene Faust zu philosophieren [...]. Das ist der Fall einer philosophischen Liebe auf den ersten Blick.“ Sodann beginnt Flusser mit dem Wort „Fall“ zu spielen, 2 das ihn zunächst zu den Wortfeldern „leichter“ und „schwerer Fall“ führt, die uns bei unserer Begegnung mit der Welt begegnen können. Das menschliche Leben wird dabei zu einem Schreiten von Fall zu Fall, geleitet von ‚Zu-Fällen’ oder ‚Ak-zidentien’, aus denen das Dasein zunächst zu bestehen scheint:

    Die Welt der eingetroffenen Fälle: zufällig also. Aber die Welt der eingetroffenen Fälle: gelegentlich also. Die Welt als Zufall und die Welt als Gelegenheit, das ist die Welt der Fälle. Diese beiden Aspekte des Lebens zu vereinigen, ist das Thema des Lebens. [...] Wir müssen sie entscheiden. Fälle entscheiden heißt: veranlassen, daß sie von nun an nicht mehr eintreffen. [...] Wir wandern von Fall zu Fall, damit wir sie nach und nach entscheiden und Welt verarmen. Das ist unsere Freiheit: Fälle entscheiden. Entropie. Den zufälligen Fall als Gelegenheit für eine Entscheidung nehmen: Ziel und Sinn des Lebens. (TS 2503, 2)

    Mit dieser existentiellen Exposition des homo viator als Wanderer in die Entropie führt Flusser den Leser zu der Überlegung, dass das von Fall-zu-Fall-Schreiten eigentlich ein ‚Ver-Fallen’, eine ‚De-kadenz’ ist, die wiederum Ausdruck „meines Falls“ als desjenigen, der nur mich angeht, ist. So gelangen wir mit der Meditation des ersten Satzes der LPA zu jenem Existentialismus, den Flusser selbst beim frühen Wittgenstein mit seinen monoton-eindringlichen Satzgebinden verorten möchte, um ihn zum Kronzeugen für die Philosophie der Bodenlosigkeit aufrufen zu können:

    Wie weiß ich, daß ich ein Fall bin? Ich bezweifel, daß ich es durch die cartesische Methode wissen kann. Ich weiß, daß ich ein Fall bin, weil ich in mir meinen Verfall spüre. Ich weiß, daß ich ein Fall bin, weil ich falle. Ich weiß, daß ich falle, weil ich vom Tod weiß. Ich bin ein Fall, weil ich weiß, daß ich zum Tod falle. Dieses Wissen von meinem Tod erlaubt mir, das Gravitationsfeld, „Welt“ genannt zu erahnen, in dem sich mein Fall abspielt [...]. (Ebd. 2f.)

    Dieses Fallen zum Tod, das nicht von ungefähr an Heideggers Philosophie der Verfallenheit des Daseins an die uneigentliche Welt und das Man erinnert, wird für Flusser nun zum Ausgangspunkt jenes Entscheidens, in dem sich das Individuum gegen den „Todespol“ wendet und sich auf seine Welt hin gegen den Tod entwirft. Selbstverständlich vermag sich das Ich aufgrund seines Gegen-Entwurfs nicht aus dem Fall zu lösen – der „Todespol“ bleibt vorhanden, und seine Gravitation wird am Ende obsiegen. Insofern ist die Absehung vom Tod keine, wie Flusser schreibt, wirkliche Entscheidung, sondern ein Vorgang, der sich bereits ereignet haben muss, bevor er von einem Bewusstsein realisiert und als Entscheidung erkannt wird. Insofern kann er auch schreiben, dass diese Entscheidung „ohne Alternative“ sei, denn das Leben ist nicht das „Gegenteil“ des Todes, sondern die Verneinung des Todes:

    Mein Wissen [von meinem Tod, MK] dringt in den Fall, der ich bin, ein wie ein leerer Sack. Infolge dieser Leere bin ich nicht gänzlich ein Fall.[ ...] Der Sack ist der Ort, wo ich mich entscheiden kann. Die Welt ist alles, was der Fall ist. Der Sack in mir ist kein Fall. Er nimmt an der Einheit, „Welt“ genannt, nicht teil. Der Ort der Entscheidung ist nicht in der Welt. Ich entscheide mich und ich entscheide meine Fälle an einem Ort, der nicht in der Welt ist. Ist das Theologie? 3

    Meine Entscheidung ist gegen den Tod. Deswegen verwandelt er Fälle in Aufstieg und wendet die Schwerkraft der Welt um. Infolge meiner Entscheidung laß ich den Strom der Welt zurückfließen. Ich mache Kultur. (Ebd. 3)

    Der Rückfluss des „Stroms“ in die Welt der Kultur ist für Flusser ein neg-entropischer Vorgang, der, ganz analog dem Satz Wittgensteins, gedacht, dass der Tod kein Bestandteil des Lebens sei und dass die Motive für das Handeln, insbesondere die Ethik, außerhalb der Welt liegen müssen, uns zu Kulturleistungen befähigt, die nicht aus der Logik des „Falls“ abzuleiten sind, sondern außerhalb des Tatsachengefüges stehen. Die Entscheidung gegen den Fall und für das Leben als Schaffen und Kulturleistung ist eine genuin ethische, weil nichts in der Welt sie uns aufzuzwingen vermag.

    Derart in das alteuropäische Haus der Ethik heimgeholt, mutiert unter Flussers quasi-liturgischen Sprachkaskaden der Logiker und Sprachspieler Wittgenstein zu einem tiefsinnigen theologischen Zeugen des Un-Falls und des Zu-Falls des menschlichen In-der-Welt-seins. Wohl wird dieses Ur-drama des Un-Falls auf der Bühne der Sprache inszeniert, doch wissen die Akteure um den Abgrund des Nichts und des Todes, vor den sie gestellt sind.

    Der Preis, den Flusser für eine solche Lektüre des Sprachphilosophen zu entrichten hat, ist freilich hoch. Wittgensteins anti-ontologische Sprachanalytik verliert ihre spielerische Geschmeidigkeit und gerinnt zu einem jener existentialistischen Seins-Entwürfe, die uns nicht nur als Produzenten von Bildern identifiziert, sondern uns darüber hinaus die Verantwortung für die Bild-Produktion aufbürdet. Indem wir uns sprachlich selbst verfehlen können, droht uns der Ver-Fall und damit der Rück-Fall in die Sprach-Barbarei. Flusser hat in seinen Büchern immer wieder vor diesem Ernstfall gewarnt und sich selbst als Mahner und Wächter aufgeboten. Den Frieden in Gedanken und die Ruhe des Herzens, die Wittgenstein sich von der Arbeit an der Philosophie als Modus der Arbeit an sich selbst erhoffte, ist, folgt man Flusser, eine trügerische Hoffnung – ohne Aussicht auf Erfolg.

    Ein Blick auf die Entwicklung der Philosophie seit Wittgenstein und Flusser zeigt, dass diese Diagnose empirisch wohl haltbar ist. Fraglich bleibt allerdings, ob wir wünschen, dass es dabei bleibt.

    Literatur

    1. Flusser Vílem 1966 “ Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen”, Revista brasileira de folosofia 16, 129–132.
    2. Flusser, Vilém 1998 Kommunikologie, Frankfurt/M.: Fischer
    3. Flusser, Vílem ²2004 Língua e Realidade [1963], revisão técnica Gustavo Bernardo Krause, São Paulo: Annablume, (LeR)
    4. Flusser, Vílem 2006 Vom Zweifel [port. 1963/64], übers. von Edith Flusser, Göttingen: edition flusser.
    5. Flusser, Vílem o.J. „Was der Fall ist“ (= TS 2503), Flusser Archiv, Universität der Künste, Berlin.
    6. Kroß, Matthias 2007a “Sprünge im Bild. Flusser, Heidegger und Wittgenstein“. Vortrag, gehalten im Rahmen der Tagung Die Medien- und Bildtheorie Vílem Flussers, Weimar: Bauhaus Universität.
    7. Kroß, Matthias 2007b “The Quest for Authenticity: St. Augustine’s and St. Ludwig’s Confessions.” Vortrag, gehalten im Rahmen der Tagung The Future of Character, Potsdam: Einstein Forum.
    8. Wittgenstein, Ludwig Briefe. Briefwechsel mit B. Russell, G.E. Moore, J.M. Keynes, F.P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann und L. von Ficker. (B)
    9. Wittgenstein, Ludwig Philosophische Bemerkungen. (PB)
    10. Wittgenstein, Ludwig Philosophische Untersuchungen. (PU)
    11. Wittgenstein, Ludwig Logisch-Philosophische Abhandlung / Tractatus Logico-Philosophicus. (LPA/T)
    Notes
    1.
    Abkürzung- und Literaturverzeichnis s. Ende des Beitrags.
    2.
    Flusser weiß, dass seine Deutung nicht im Sinne Wittgensteins ist: „Die von der Etymologie vorgeschlagene Deutung [des Wortes ‚Fall’, MK] ist diese: Der Fall ist, was gefallen ist. Das Wort ‚Fall’ hat die Bedeutung von ‚fallen’. Diese Antwort taucht unsere Spekulation in [ein theologisches, MK] Klima [...]. Ich bezweifel, daß es Wittgensteins Ausgangspunkt ist. Das ist unbedeutend. Ist es nicht wahr, daß wir uns entschlossen haben, auf eigene Faust zu philosophieren?“ (Ebd. 1)
    3.
    Flusser spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von „protestantischer“ Theologie (ebd. 1, 4), vermutlich nicht wissend, dass Wittgenstein getaufter Katholik war. Die Assoziation mit dem Sündenfall (und, vielleicht mit der Erbsünden- und Prädestinationslehre des Augustinus, zu dem Wittgenstein offensichtlich ein starke Affinität besaß, vgl. Kroß 2007b) hätte Flusser gewiss zu analogen Meditationen führen können.
    Matthias Kroß. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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