„Vom Weißdorn und vom Propheten“ – Poetische Kunstwerke und Wittgensteins „Fluß des Lebens“
„Vom Weißdorn und vom Propheten“ – Poetische Kunstwerke und Wittgensteins „Fluß des Lebens“

Abstract

War Wittgenstein ein Philosoph, dessen Gedankengänge durch strukturelle Phänomene der Dichtkunst beeinflusst, ja vielleicht sogar erst ermöglicht worden sind? Sein Umgang mit Poesie und seine persönlichen Äußerungen über Dichter lassen immerhin derartige Überlegungen zu. Wittgensteins Bemerkungen zu Gedichten Ludwig Uhlands und Aleksandr Sergeevič Puškins können vielleicht einen Einblick geben in sein Verständnis von Sprache und deren Eingebundenheit in ganz bestimmte „Flüsse des Lebens“, wo den einzelnen Wörtern nicht nur die grundsätzliche lexikalische Bedeutung zukommt. Eine konsequenteWeiterführung solcher Überlegungen evoziert aber letztlich die Frage, ob Wittgensteins Philosophie ihrem Wesen nach selbst „poetisch“ sei und auch in diesem Sinne verstanden werden kann bzw. soll.

Table of contents

    „Das uhlandsche Gedicht ist wirklich großartig. Und es ist so: Wenn man sich nicht bemüht das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, - unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten.“ (Engelmann S 78). Das Gedicht, zu welchem Wittgenstein sich hier äußert, ist die aus 7 Strophen zu je 4 Zeilen bestehende Ballade „Graf Eberhards Weißdorn“ von Ludwig Uhlland (1787-1862). Die „Handlung“ ist rasch erzählt: Graf Eberhard „vom Württemberger Land“ schneidet sich auf „frommer Fahrt“ nach Palästina in einem dortigen Wald ein „grünes Reis von einem Weißdorn“ ab, welches er nach vollbrachten Taten mit nach Hause nimmt. Dort grünt es und wird zum stattlichen Gewächs, unter dessen „Wölbung“ der Ritter gegen Ende seines Lebens sitzt und gleichsam wie im Traum der Zeit gedenkt, als er das Reis gebrochen hatte. Der Dichter schildert hier weniger ein „Geschehen“, als vielmehr zwei in der Person des Grafen ineinander verwobene Zustände: jenen der Jugend und jenen des Greises. Die nach außenhin scheinbar volksliedhaft-schlicht erscheinende Form beruht auf einer sehr subtilen Gestaltung. Das Gedicht hat 7 Strophen. Der Mittleren, in welcher die Heimkehr Eberhards mit dem Weißdornreis geschildert wird, kommt eine besondere Funktion zu, als dort nämlich die beiden Zustände ineinander übergeführt werden. Im weiteren Verlauf bezieht der Dichter die nun folgende 5. Strophe inhaltlich auf die 3., des Weiteren die 6. auf die 2. und letztendlich die 7. auf die 1.. Konkretisiert wird diese Bezugnahme durch die Schlussworte:

    „Die Wölbung hoch und breit,
    Mit sanftem Rauschen mahnt
    Ihn an die alte Zeit
    Und an das ferne Land.“

    In dem, was dem Grafen gegen Ende seines Lebens nahe ist, nämlich im mittlerweile zur „Wölbung“ ausgewachsenen Weißdorn, evidiert sich demnach für ihn das nunmehr zeitlich Ferne und dieses ist somit durch das, was ihm jetzt nahe ist, auch selbst wieder nahe.

    Es kann dieses Gedicht durchaus verstanden werden als ein ganz bestimmter „Fluß des Lebens“, in welchem „die Worte ihre Bedeutung haben“ (Wittgenstein 1984, 913). Es ist diese Bedeutung als eine anzusehen, welche über eine solche auf dem den reinen lexikalischen Gehalt beruhende weit hinausgeht. Mit allen gebrauchten Wörtern – also mit dem kompletten Gedicht – zielt Uhland auf mehr denn auf ein Verständnis der einzelnen durch die Wörter ausgesprochenen Begriffe. Das Gedicht fasst diese Begriffe gewissermaßen als eine „Gesamtheit der Tatsachen“ zusammen, so dass sie in dieser Gesamtheit und als solche eine eigene Tatsache ergeben, als welche das von Uhland beschriebene ineinander Übergehen der von Eberhard gerade zum Zeitpunkt der Beschreibung erfahrenen und bedachten Lebenszustände des Greisen– und Jugendalters bezeichnet werden darf. Und so kann vielleicht doch gesagt werden, dass die Wörter nur in der durch den Dichter gegebenen Form des ganzen Gedichtes mit seinen inneren Bezügen zwischen den einzelnen Strophen ihrer Funktion für die Erreichung dieser „Tatsache als Gesamtheit der Tatsachen“ – nämlich der im Gedicht erwähnten, wie etwa „Eberhard“ oder „Weißdorn“ – gerecht werden können. In diesem Sinne ist dieses Gedicht nun auch selbst „Welt“, wenn man diese nämlich mit Wittgenstein als „die Gesamtheit der Tatsachen“ begreift (Wittgenstein 1984, 1.1., S 11). In dieser Welt gibt es das „Aussprechliche“, worunter der rein lexikalische Gehalt eines Wortes verstanden werden kann. So ist beispielsweise der im Gedicht so wesentliche Weißdorn eine genau definierte „Tatsache“ der Welt in deren Unterordnung „Pflanzenwelt“, für dessen wissenschaftliche Erkenntlichmachung und Beschreibung die Botanik das lateinische Wort „Crataegus“ verwendet. Es steht außer Zweifel, dass mit dieser rein lexikalischen Bedeutung auch im Gedicht etwas gesagt wird. Das „Weiße“ und das „Dornige“, durch welches sich diese Pflanze auszeichnet macht sie selbst als die bestimmte Tatsache „Weißdorn“ erkennbar. Gerade in diesen Bestimmtheiten mag auch Uhland den Grund gesehen haben, diese Pflanze als ein Medium seines Gedichtes erkoren zu haben. Allerdings eben nur als „Medium“, als Mittel, welches die Annäherung an etwas Anderes, ja, vielleicht sogar die Handhabung dieses „Anderen“ ermöglicht. „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Wittgenstein 1984, 6.522, S 85). Gemäß dieser wittgenstein’schen Feststellung kann das Wort „Weißdorn“ – und zwar notwendigerweise im Kontext mit seiner lexikalisch-botanischen Bedeutung – in jenem uhland’schen Gedicht als definitorischer Teil der „Gesamtheit der Tatsachen des an sich Unaussprechlichen“ in jenem Gedicht angesehen werden. Das Unaussprechliche ist ja nicht das, was durch die Wörter „erzählt“ wird – also die Fahrt des Grafen Eberhard nach Palästina, das Ausgraben des Weißdornreises und dessen Wiederanpflanzung in der württembergischen Heimat, etc. – sondern das, was formal durch die Hervorhebung der 4. Strophe und der nachfolgenden Verklammerung der weiteren mit den ersten drei Strophen bewerkstelligt wird und so zur Evidenz geführt werden soll. Es ist dies tatsächlich das Unaussprechliche, weil es eine „Gesamtheit von Tatsachen“ –und zwar von aussprechlichen solchen - ist, die so ineinander verwoben wurden, dass sie im Einzelnen nicht mehr ausgesprochen werden können. Demnach ist auch die kunstvolle formale Gestaltung dieser Ballade ein Medium der Evidenzialisierung dieses Unaussprechlichen. Durch Uhlands poetisch-formale Bemühungen ist es aber auch „ausgesprochen“ und es ist ihm dabei tatsächlich nichts verloren gegangen, wie Wittgenstein doch richtig festgestellt hat. Und so gesehen ist das uhlandsche Gedicht wirklich großartig, weil es in der Gesamtheit seiner Struktur eben nichts weniger ist als ein „Fluß des Lebens“, in welchem den verwendeten Wörtern die Bedeutung zukommt, im Ausgesprochenwerden etwas Unaussprechliches handhabbar zu machen.

    Einen vielleicht noch extremeren Fall als Uhlands Ballade stellt das Gedicht „Пророк“ („Der Prophet“) von Aleksandr Sergeevič Puškin (1799-1837) dar. Wittgenstein hat dieses Gedicht eigenhändig in russischer Sprache und in kyrillischer Schrift abgeschrieben (s.: Rothaupt, S 278). Der Dichter schildert darin die Berufung des Jesaja zum Propheten, genauer eigentlich die Wandlung und somit Werdung zum Propheten, ausgehend von jenem Bericht, den der Berufene selbst im 6. Kapitel seines zu den wesentlichen prophetischen Schriften des aus christlicher Perspektive sogenannten Alten Testamentes gehörenden Buches gibt. Auch hier geht es um die Darstellung einer wesentlichen Zustandsveränderung, um die Evidenzialisierung jenes Augenblickes – oder als was sollte es bezeichnet werden – in welchem Jesaja sich vom Nicht-Propheten zum Propheten wandelt. Diese Wandlung, die im Gedicht der nunmehr Verwandeltwordende und somit Verwandeltseiende selbst beschreibt und reflektiert, geschah im göttlichen Auftrag durch einen Seraph, welcher dabei dem Jesaja u.a. „die sündige und geschwätzige Zunge aus dem Mund herauszog“ und in den durch dieses Herausziehen „verklingenden Mund“ mit der „blutbefleckten Rechten“ „den Stachel der klugen Schlange“ hineinlegte.

    „И он к устам моим приник,
    и вырвал грешный мой язык,
    и празднословный и лукавый,
    и жало мудрыя змеи
    в уста замершие мои
    вложил десницею кровавой.“

    Bei 16 der insgesamt 30 Zeilen des ohne strophische Gliederung in einem durchlaufenden Gedichtes steht am Anfang das Wort „и“ („und“), wobei von Zeile 10 – 18 dieses Worte jeweils 9 mal hintereinander den Anfang bildet, von Zeile 21 - 23 3 mal hintereinander. Auf diese Weise bringt der Dichter die Zusammengehörigkeit, ja das gewissermaßen „Punkthafte“ all des hier vor sich Gehenden zur Sprache. Auch hier ergibt also ein Konglomerat von Einzeltatsachen die Gesamtheit einer Tatsache, auf welcher die Bestimmung des Jesaja zum Propheten und sein dadurch ein solches gewordenes „Prophetsein“ beruht.

    Bestimmung, Wandlung und Werdung zum Propheten, deren Realisierung Puškins Jesaja durch den von Gott beauftragten Seraph an sich im Wahrnehmen derselben reflektiert, sie alle drei sind samt ihrem Ergebnis des „Prophet geworden Seins“ in ihrem Kontext mit dem Göttlichen etwas „Geheimnisvolles“ und somit letztlich „Unaussprechliches“. Der Dichter zeigt mithin nicht nur, dass es dieses Geheimnisvoll-Unaussprechliche gibt, sondern „dies zeigt sich“ – um nochmals Wittgenstein zu Wort kommen zu lassen – und es zeigt sich mithin in seiner Notwendigkeit, das „Mystische“ zu sein.

    Ausgehend von Wittgensteins Wertschätzung des Gedichtes „Graf Eberhards Weißdorn“ von Ludwig Uhland und des Gedichtes „Пророк“ von Aleksandr Sergeevič Puškin könnte folgender Gedanke entwickelt werden: Ein Wort gewinnt „im Fluß des Lebens“ seine Bedeutung. Die Dichter schaffen mit ihrem ganz bestimmten Werk, also etwa mit „Graf Eberhards Weißdorn“ oder „Пророк“ einen ganz bestimmten solchen „Fluß des Lebens“. Im Gedicht kommt dank des strukturellen Vermögens des Dichters und seiner Fähigkeit, Wörter mit bestimmter lexikalischer Bedeutung zu einer neuen „Gesamtheit der Tatsachen“ zusammenzufassen und innerhalb der Struktur ihres Werkes als solche zur Geltung zu bringen das Unaussprechliche als Gezeigtes zur Evidenz.

    Wenn dies aber „das Mystische“ ist, dann ist dieses „Mystische“ nichts weniger als ein vom Dichter in seiner bestimmten Art strukturierter „Fluß des Lebens“. In letzter Konsequenz könnte dies bedeuten, dass die Wörter Uhlands und Puškins aus den beiden hier angesprochenen Gedichten gleichsam in ein und denselben „Fluß des Lebens“, nämlich den „mystischen“ eingebettet sind – und dies unabhängig von der Verschiedenheit der angewendeten Sprachen Deutsch und Russisch. Das Bett des Lebensflusses ist aber dann auch gestaltgebend für die Struktur des poetischen Kunstwerkes – so es denn ein solches ist, wie im konkreten Fall von Uhland und Puškin. Die von beiden angewandte präzise Form ist demnach im den beiden Gedichten gemeinsamen „Fluß des Lebens“, nämlich jenem des „Mystischen“ grundgelegt und die beiden Künstler gestalten dieses dort Grundgelegte gemäß ihrer individuellen künstlerischen Fähigkeit und den diesbezüglichen Möglichkeiten der von ihnen verwendeten Sprachen. So gesehen haben beispielsweise die Wörter „und“ bei Uhland bzw. „и“ bei Puškin in ihrer Funktion für die Akkumulierung von Einzeltatsachen zu einer „Gesamtheit der Tatsachen“ als neuer, unaussprechlich gezeigter Tatsache trotz ihrer Zugehörigkeit zu einer jeweils anderen Sprache die selbe Bedeutung, sind also, um bei Wittgensteins Bild zu bleiben, in diesem Falle der zwei Gedichte zwei Tropfen im selben Flusse. In diesen Fluss hineinzusteigen – ist das nicht „ein Erlebnis“, vermittelt durch das Kunstwerk in seiner durch den Künstler angewandten Struktur und Wortwahl? „Aber“, so Wittgenstein, „es gibt Erlebnisse charakteristisch für den Zustand des „Sich-auskennens.“ (Wittgenstein 1984, 721, S 337).

    In den beiden hier angesprochenen Gedichten darf davon ausgegangen werden, dass sich die Dichter – ganz im Sinne Wittgensteins – eben nicht bemühten, „das Unaussprechliche auszusprechen“. Und weil dadurch durch sie und in ihnen nichts verloren gegangen ist, „sondern das Unaussprechliche - unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten“ ist, so lässt sich daraus ein letztendlicher Wert von Sprache – und zwar in der Gesamtheit der Tatsachen ihrer Erscheinungsformen, wie beispielsweise als Deutsch oder Russisch – wahrnehmen: Sinn und Funktion der Sprache ist schlechthin nicht das Aussprechen, sondern das Zeigen des Unaussprechlichen oder zumindest das Hinzeigen auf dieses. Ein sprachlich-poetisches Kunstwerk bewerkstelligt dies durch das Nichtbemühen um das Aussprechen und durch das Bemühen, die „Gesamtheit der Tatsachen“ als neue gemeinsame Tatsache zu zeigen, so dass ein „Zustand des Sich-auskennens“ herbeigeführt wird.

    „Was passiert, wenn man Wittgensteins Gesamtnachlass nicht nur als Philosophie, sondern auch als Literatur, als Dichtung ... betrachtet und liest? Man würde nichts verlieren und vieles gewinnen“ (Rothaupt, S 287). Josef Rothaupts Frage mit folgernder Feststellung hat auch den hier unternommenen Inbeziehungsetzungen von wittgenstein’schen Überlegungen mit den Möglichkeiten und Erscheinungsformen poetischer Kunstwerke.

    Nahrung gegeben. Äußerungen des Philosophen etwa zu Uhland, Puškin und machen anderen bedeutenden Vertretern der Literatur – so marginal sie auch fürs Erste erscheinen mögen – eröffnen vielleicht tatsächlich zusätzliche Möglichkeiten nicht nur des Verständnisses, sondern auch der Veranschaulichung von Gedankengängen, so wie es hier zu zeigen unternommen wurde. Und was spräche denn tatsächlich dagegen, Wittgenstein – unbeachtet des Gehaltes und der Originalität seines Argumentierens – auch in einem Zusammenhang zu sehen mit Denkern wie beispielsweise Johannes Tauler, Angelus Silesius oder Friedrich Nietzsche, deren Hervorbringungen ja auch durchaus anerkannten literarischen Rang besitzen oder auch mit Literaten wie Ljev Nikolajevič Tolstoj oder Rainer Maria Rilke, deren Einfluss auf die Philosophie im Allgemeinen und speziell auch auf Wittgenstein ja auch beachtlich ist? Kann eine solche Sicht nicht als durchaus angemessen erkannt werden einem Denker gegenüber, der sich selbst die Frage stellt: „O, warum ist mir zumute, als schrieb ich ein Gedicht, wenn ich Philosophie schreibe?“ (zitiert bei Rothaupt, S 288).

    Literatur

    1. Engelmann, Paul 1970 Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen. Herausgegeben von Brian McGuinness. Wien und München: R. Oldenbourg.
    2. Rothaupt, Josef G. F. 2006: Zu Engelmanns Buch der Erinnerung. Paul Engelmann als Dichter und Ludwig Wittgensteins diesbezügliche Wahlverwandtschaft. In: Internationale Wittgenstein Gesellschaft e. V. (Hrsg.), Wittgenstein Jahrbuch 2003/2006. München, Peter Lang, S 249 – 289.
    3. Wittgenstein, Ludwig 1984: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Erste Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
    4. Wittgenstein, Ludwig 1984 Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Vorstudien zum zweiten Teil der philosophischen Untersuchungen 711. Herausgegeben von G.H. von Wright und Heikki Nyman. Werkausgabe Band 7. Erste Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
    Annelore Mayer. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
    This page is made available under the Creative Commons General Public License "Attribution, Non-Commercial, Share-Alike", version 3.0 (CCPL BY-NC-SA)

    Refbacks

    • There are currently no refbacks.