Die Musik als „ancilla philosophiae“ – Überlegungen zu Ludwig Wittgenstein und Nikolaus Cusanus
Die Musik als „ancilla philosophiae“ – Überlegungen zu Ludwig Wittgenstein und Nikolaus Cusanus

Abstract

In der Philosophie Nikolaus‘ Cusanus und Ludwig Wittgensteins ist Musik immer wieder Mittel der Erkenntnis und verdeutlichender Beschreibung.

In beider Leben hat die Tonkunst eine bedeutsame Rolle gespielt und beide dürfen – unabhängig von ihren ästhetischen Vorstellungen – als musikalisch sehr gebildet, aber auch als sehr empfänglich bezeichnet werden. Zudem sind sie Zeitzeugen enormer Veränderungen im Bereich der Musik. Lassen sich Erkenntnisse über derartige Parallelitäten auch im Hinblick auf die Erkenntnis von Musik und musikalischer Werke nützen? Vielleicht eröffnen sich hier - einerseits über Epochengrenzen hinweg, andererseits aber auch durch die mögliche Parallelsetzung von Epochenphänomenen – Möglichkeiten, durch die Suche nach Ergänzungen in den Denksystemen des Kusaners und Wittgensteins, um damit Phänomenen der Kontinuität in der Musik auf die Spur zu kommen, sie besser zu verstehen und auch besser zu beschreiben.

Table of contents

    „Licet enim Musicae scientiam habeam...“ sagt Nikolaus Cusanus von sich selbst (Cusanus 2002 Bd. 3 S 120).

    „Einen dreifachen Kontrapunkt gibt es nur in einer ganz bestimmten musikalischen Umgebung.“ (Wittgenstein 1984 Bd. 8 S 566).

    Ludwig Wittgensteins denkerischer Rekurs auf eines der kompliziertesten und artifiziellsten kompositionstechnischen Phänomene kann als Belegstück für seine hohe musikalische Bildung und ein ausgeprägtes Verständnis für strukturelle Zusammenhänge gelten und der durchaus begründeten Selbsteinschätzung des Kusaners an die Seite gestellt werden. Kues und Wittgenstein weisen sich in solchen Aussagen und in den Zusammenhängen, in welchen dieselben innerhalb ihrer Werke stehen, durchaus kontinuierlich als Kenner der Tonkunst aus, als bewanderte und kenntnisreiche Menschen, welchen die Musik sowohl als Wissenschaft als auch in deren Manifestation als bestimmter Klang oder als dezidiert benennbares Werk Möglichkeiten gibt, eine Frage nicht nur so weit wie möglich zu verfolgen, sondern die Art und Weise eingeschlagener Wege bei deren Untersuchung und allenfalls gefundene Ergebnisse gleichsam zu „veranhörlichen“. Daher schreibt der Kusaner beispielhaft: „Omnia enim universalia, generalia atque specialia in te Iuliano iulianizant, ut harmonia in luto lutinizat, in cithara citharizat, et ita de reliquis. Neque in alio hoc et in te possibile est.” (Cusanus 2002 Bd. 17 S 102). – Und bei Wittgenstein heißt es: „Der Satz ist kein Wortgemisch. – (Wie das musikalische Thema kein Gemisch von Tönen).“ (Wittgenstein 1985, 3.141).

    An den beiden Sätzen, zwischen deren Niederschrift rund 470 Jahre liegen, fällt die Gleichsetzung des Denkergebnisses mit dessen musikalischer Umschreibung, respective mit dem dieser Umschreibung zugrunde liegenden musikalischen Phaenomen auf.

    Die Musik ist demnach in beiden Sätzen, bedacht und niedergeschrieben von zwei eigenständigen, durch Epochen getrennte Persönlichkeiten, etwas entscheidend Verbindendes. Und dies mag darauf deuten, dass Geschichte nicht nur als linearer Prozess, als lose verbundene Kette eines scheinbar unaufhörlichen Fortschreitens zu verstehen ist, sondern auch eine vertikale Sicht auf zeitlich auseinanderliegende Gegebenheiten ihre Berechtigung hat. Denn durch eine solche kann zwischen Persönlichkeiten und Ereignissen, als welche auch Denken und Schaffung von Kunstwerken anzusehen sind, eine bemerkenswerte Zusammengehörigkeit offenbar werden, auch wenn sie im Einzelnen im späten Mittelalter beziehungsweise im 20. Jahrhundert situiert sind. Wenn demnach die Musik berechtigterweise als verbindendes Merkmal zwischen Cusanus und Wittgenstein angesprochen werden kann, so zeigt ein Blick auf die kulturgeschichtlichen Gegebenheiten der jeweiligen Lebenszeiten weitere Parallelitäten. Sowohl in der Epoche des Kusaners als auch in jener Wittgensteins macht die Musik ein Stadium ungeheurer Veränderung durch, einen exzessiven Schub hin in Richtung auf etwas Anderes, welches mit dem Begriff der jeweiligen „Modernität“ nur höchst ungenau und letztendlich eher nur im Sinne eines nach eigenen Vorstellungen wertenden Fortschrittsglaubens beschrieben wird.

    Jedenfalls: Cusanus (1401-1464) erlebt ganz neue Ansätze zu einer symphonischen vielstimmigen Musik, realisiert in großen Messzyklen und geschaffen von Komponisten, die nun auch wirklich als solche bezeichnet werden wollen und die als philosophisch und theologisch gebildete Menschen die durch Autoritäten kontinuierlich überlieferten alten geheiligten Regeln aufs Genaueste und vielleicht zum allerersten Mal in aller Umfassendheit anwenden, sodass sie diese gerade deshalb nicht mehr als Fesseln empfinden, sondern als notwendige Anregungen zur Entfaltung von Freiheiten. Als Nikolaus’ Zeitgenossen sind hier vor allem die beiden Niederländer Guillaume Dufay (1400 – 1474) und Jan van Ockeghem (1425-1497) zu nennen. Ihre Leistungen im Bereich der Kunst stehen natürlich in Lebenszusammenhängen und müssen beispielsweise engstens mit dem Phänomen der „devotio moderna“, jener hochintensiven, nach leidenschaftlichem Ausdruck und alles preisgebender Verinnerlichung gleichermaßen verlangenden spätmittelaterlichen Art katholischer Frömmigkeit zusammengesehen werden. Strengste Form und schier grenzenloser Ausdruck – das ist denn auch das, was etwa an den Messen der beiden genannten Meister von deren zeitgenössischer Kritik gleichermaßen gelobt wie gebrandmarkt wird – unter Berufung auf dieselben geheiligten Autoritäten und Regeln.

    Ähnliches – und auch hier nicht losgelöst von im weitesten Sinne religiösen Implikationen – vollzieht sich im biographischen Umfeld Wittgensteins gegen Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, zwischen Dekadenz und Aufbruch. Als Initium fungiert hier im Wesentlichen Richard Wagners „Tristan und Isolde“, das Kunstwerk der alle Grenzen sprengenden Leidenschaft schlechthin, dessen frappierende Andersheit und alles über Bord werfende Intensität aber auf gleichermaßen strengster wie exzessivster Handhabung musikalischer Mittel, die in der Theorie bestens begründet sind, beruht. Musik dieser Art – und hier sind neben dem wagner’schen Œvre auch die Bestrebungen des Russen Aleksandr Nikolajevič Skrjabin (1872-1915) zu bedenken - nimmt für sich den Charakter einer die Religion ersetzenden, alle Lebensbereiche durchformenden Kraft in Anspruch, durch welche die Religion Kunst, die Kunst Religion wird.

    Und was für die zu bisher Unbekanntem sich wendenden Meister des 15. Jahrhunderts die katholische Theologie und die auch Musiktheorie enthaltende Philosophie des Aurelius Augustinus oder des Johannes Scotus Eriugena, das ist später für Richard Wagner Beethoven, das ist danach für Arnold Schönberg Brahms und – um auf eine ganz andere Art von Gewinnung bisher unbekannter Gebiete zu verweisen – für Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch die Musik des Josquin des Prés aus dem Spätmittelalter, sowie jene Haydns und Bruckners. Des Russen älterer Landsmann Skrjabin verkehrt in Kreisen, in welchen man sich mit dem Denken von Jakob Böhme und Meister Eckhart auseinandersetzt. Der Letztgenannte wiederum beschäftigt zur selben Zeit auch den von Wittgenstein beachteten böhmisch-jüdischen Sprachphilosophen Fritz Mauthner.

    Es ist demnach oftmals zu beobachten und damit zu beachten, dass und wie sehr sich jene, die bisher Unbekanntes entdecken und formen, auf nicht nur von ihnen selbst anerkanntes Bedeutsames der Vergangenheit berufen, sich damit rechtfertigen. So dient denn Johannes Brahms den sogenannten Konservativen als Argument gegen Wagner, von Arnold Schönberg wird er aber zum Paten eigener Radikalität. Der Theoretiker Henricus Glareanus (1488-1563) bemüht demgemäß ebenso die Bibel und Augustinus, um die leidenschaftliche Intensität in den Messen des großen Josquin des Prés (1450-1521) zu kritisieren, wie dies auch Martin Luther tut, um die Musik ebendesselben Josquin als in ihrer Großartigkeit mit jeder anderen unvergleichlich zu preisen und in ihrer hörbaren Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit wohlgeeignet wie keine andere als Mittel zur Erlangung religiöser Erkenntnis.

    Rechtfertigende Berufung auf Anerkanntes im Kontext mit radikal anderer Orientierung und zur Gültigmachung derselben – im Bereich der Musik haben Cusanus und Wittgenstein vieles in ihrer eigenen Zeit davon mitbekommen.

    Es ist eine – wiewohl kaum schlüssig zu einem Ende zu führende - Überlegung wert, inwieweit die Virulenz aktueller musikästhetischer Fragen, hinzutretend zu den persönlichen hochentwickelten musikalischen Fähigkeiten die Hinwendung zur Musik im Kontext mit philosophischem Tun gefördert hat. Vieles in den diesbezüglichen Äußerungen des Kusaners ist jedenfalls ohne die Kenntnis der altüberlieferten Theorien und gleichzeitig der aktuellen Bestrebungen in der vielstimmigen Musik seiner eigenen Zeit wenig vorstellbar. Etwa : „Quando enim audimus concinentes, voces sensu attingimus, sed differentias et concordantias ratione et disciplina mensuramus.“ (Cusanus 2002 Bd. 3 S 102). Dieser Satz reflektiert zweifelsohne das Gesamterlebnis einer zeitgenössischen vielstimmigen Komposition, wie sie etwa Guillaume Dufay verfasst hat, und damit auch eine Grundvorstellung damaligen Komponierens, nach welcher ein musikalisches Werk als Versinnlichung hochkomplexer struktureller, philosophisch-theologischer und mathematischer Zusammenhänge zu verstehen ist. Kues verflicht jene Grundvorstellung mit der augustinischen Aussage, dass die Musik die Wissenschaft vom richtigen Abmessen ist.

    Bei Wittgenstein wiederum, der schließlich 21 Jahre Zeitgenosse Gustav Mahlers gewesen ist, muss mit Unbedingtheit eine reflektierende Kenntnisnahme der Werke dieses seit seinem Erscheinen gerade in Wien heftig umstrittenen Komponisten angenommen werden, sodass seine verstreuten Bemerkungen über denselben keineswegs im unbedachten Raum stehen, auch wenn sie – oder gerade weil sie wie die folgende lauten: „Wenn es wahr ist, wie ich glaube, daß Mahlers Musik nichts wert ist, dann ist die Frage, was er, meines Erachtens, mit seinem Talent hätte tun sollen. Denn ganz offenbar gehört doch eine Reihe sehr seltener Talente dazu, diese schlechte Musik zu schreiben. Hätte er z.B. seine Symphonien schreiben und verbrennen sollen? Hätte er sich Gewalt antun, und sie nicht schreiben sollen? Hätte er sie schreiben, und einsehen sollen, daß sie nichts wert seien? Aber wie hätte er das einsehen können? Ich sehe es, weil ich seine Musik mit der der großen Komponisten vergleichen kann. Aber er konnte das nicht; denn, wem das eingefallen ist, der mag wohl gegen den Wert des Produkts mißtrauisch sein, weil er ja wohl sieht, daß er nicht, sozusagen, die Natur der andern großen Komponisten habe, - aber die Wertlosigkeit wird er deswegen nicht einsehen; denn er kann sich immer sagen, daß er zwar anders ist, als die übrigen (die er aber bewundert), aber in einer anderen Art wertvoll. Wenn Keiner, den Du bewunderst, so ist wie Du, dann glaubst Du wohl nur darum an Deinen Wert, weil Du`s bist.“ (Wittgenstein 1984 Bd. 8 S 544f).

    Wittgenstein zieht aus diesen Feststellungen samt folgenden Überlegungen immerhin noch einen Extrakt für die eigene Person: „Ich selber mache immer wieder den Fehler, von dem hier die Rede ist.“ Auch diese letzte Konsequenz hat also das konkrete Erleben der Musik Mahlers zum Ausgangspunkt.

    Ein fruchtbar zu machender Unterschied zwischen dem Philosophieren anhand von Musik bei Wittgenstein und Cusanus liegt in der Art und Weise der Konkretisierung der musikalischen Phänomene. Beim spätmittelaterlichen Denker gibt es - historisch begründbar – keine Erwähnung von Komponierendennamen. Auch wenn die Tonkunst schon seit Jahrhunderten mit konkreten Namen in Verbindung gebracht werden kann, so bietet sie hier ihre verständnisfördernden Beispiele doch stets als sie selbst entweder in ihrer Gesamtheit, über welche die Theorie Auskunft gibt, oder in von dieser Gesamtheit abgetrennten Teilen, als welche dem Kusaner konkrete klangliche Realisierungen mittels eines Instrumentes oder menschlicher Stimmen gelten.

    Bei Wittgenstein spielt einerseits die durch einen bestimmten Komponisten realisierte Musik eine Rolle, andererseits sind aber auch allgemeine musikalische Begriffe, wie etwa Melodie, Harmonie oder Kontrapunkt zentraler Ausgangspunkt für ein weiteres Nachdenken.

    So zeigt sich bei ihm, wie sehr er davon geprägt ist, dass die Musik seit dem ausgehenden Mittelalter in ihren jeweils höchsten Entwicklungen zunehmend mit bestimmten Namen von Komponisten in Zusammenhang gebracht wird, dass aber auch ein Denken in Musik schlechthin und mit Hilfe ihrer durch die Theorie benennbaren Konstituenten weiterhin von Bedeutung ist. Ein solches abstraktes musikalisches Denken, welches sich durchaus jenseits aller klanglichen Realisierung bewegen kann, wird auch von den wesentlichen Theoretikern und Lehrern in der Zeit zwischen 1700 und 1900 beherrscht und weitervermittelt. Hier ist zumal an den „Gradus ad Parnassum“ des Johann Joseph Fux – Wien 1725 - zu denken, gestaltet als platonischer Dialog in lateinischer Sprache und an die Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt Anton Bruckners, der sich mit höchster Energie dafür einsetzte, solche an der philosophischen Fakultät der wiener Universität halten zu dürfen und die vorgetragenen Gegenstände damit aufs Neue als philosophisch-wissenschaftliche Disziplinen zu etablieren.

    Somit schlussendlich ein Versuch, einem musikalischen Phänomen unter den Denkbedingungen Wittgensteins und des Kusaners näher zu kommen: wie ist es mit dem dreifachen Kontrapunkt und seiner Einbettung in „eine ganz bestimmte musikalische Umgebung“? Wie ermöglicht ein Komponist dessen einerseits sinnliche, andererseits verstandesmäßige Wahrnehmung als Einzelerscheinungen der Stimmen respective als deren Gesamtheit, welche den dreifachen Kontrapunkt darstellen? Zunächst: die Tatsache „dreifacher Kontrapunkt“ ist gegeben durch den Sachverhalt, dass in einem mehrstimmigen Satz drei Stimmen so beschaffen sind, dass sie jeweils die Stelle jeder beliebigen anderen innerhalb dieser Dreiheit einnehmen können. Ein Beispiel par excellence findet sich am Ende des Streichquartettes g-moll Hob. III Nr. Nr. 74. , 4. Satz, Takte 131 – 143. Das Beispiel ist deswegen so herausragend, weil Haydn den dreifachen Kontrapunkt hier in eine vierstimmige Gesamtkonzeption hineinstellt, sodass dieser selbst keine alleinbestimmende, sondern eine mitbestimmende Rolle einnimmt, und somit eine Einzeltatsache in einer Gesamtheit von Tatsachen darstellt. Ein Streichquartett als Miteinander von grundsätzlich sehr ähnlich klingenden, nur durch die Parameter hoher, mittlerer und tiefer Lagen bestimmter Instrumente erfordert ein ungemein differenziertes Hören, dem Haydn als Meister des Klanges nachhaltigste Nahrung gibt. Die den dreifachen Kontrapunkt realisierenden Stimmen werden nämlich beim jeweiligen Wechsel der Stimmenzusammenhänge unterschiedlich eingesetzt, sodass etwa einmal die Bratsche höher spielt als die 2. Geige und damit ihr etwas gedackt-näselnder Klang als besonderes akustische Ereignis wahrgenommen werden kann. Eine Stimmen ist jeweils synkopiert und hebt sich so merklich von den im regelmäßigen Schlag spielenden Instrumenten ab, wodurch auch auf der rhythmischen Ebene Verschiedenartigkeit gehört werden kann.

    Fein ausdifferenziert ist auch die Länge der Notenwerte in den einzelnen Elementen: den langgezogen hinschreitenden Synkopenbildungen – beruhend auf Achteln und Vierteln – treten kurze Achtelmotive und ein aus 4 Sechzehnteln und zwei Achteln bestehendes Element entgegen.

    Die „ganz bestimmte musikalische Umgebung“ schafft Haydn, indem er vor Beginn dieser hochkomplexen Passage eine Pause für alle Beteiligten setzt und danach durch abrupte Einführung rascher Sechzehntelfiguren, die - paarweise verteilt - die vorhergehende kontrapunktische Kompaktheit nochmals zu konterkarieren scheinen, innerhalb von drei Takten mit zwei Akkordschlägen aller vier Instrumente ans so nicht zu erwartende Ende kommt. Jene „ganz bestimmte musikalische Umgebung“, welche nur hier genau so ist wie sie ist, lässt es auf nur hier mögliche Weise zu „ut harmonia in quartetto illo quartettizat“. Durch die feinfühlige Klanglichkeit – wie etwa die hoch geführte Bratsche - gibt Haydn seinen Zuhörenden die Möglichkeit „voces sensu attingere“, die „bestimmte musikalische Umgebung“ macht aber auch auf die Besonderheit des darin Eingebetteten aufmerksam, sodass diese Zuhörenden in die Lage gesetzt werden, den dreifachen Kontrapunkt „ratione et disciplina mensurare“ und zur Erkenntnis zu gelangen, dass dessen thematische Bestandteile tatsächlich „kein Gemisch von Tönen“ sind.

    Kein solches Gemisch sind auch die Elemente, welche unterschiedlich „sensus“ beziehungsweise „ratio“ ansprechen, denn – so der ausgewiesene Kenner der haydn’schen Quartette Johann Wolfgang von Goethe - „Diese seine Werke sind eine ideale Sprache der Wahrheit, in ihren Teilen notwendig zusammengehörend und lebendig.“

    Cusanus und Wittgenstein waren imstande, derartiges zu hören, daraus ihre Schlüsse zu ziehen und diese Schlussfolgerungen durch Einkleidung in ein musikalisches Wortgewand allen, die ebenso hörfähig sind, zu verdeutlichen.

    „Quomodo in animae profectu auditus visum praecedat..... Auditum invenit quod non visus. Oculum species fefelit, auri veritas se infudit.“ (Bernhard 1994 S 432-438) – so der für Cusanus so wichtige Bernhard von Clairvaux. Akustische Wahrnehmung gibt demnach Sicherheit und in dieser Sicherheit kann der Mensch mit der Musik als einer Dienerin der Erkenntnis bekannt werden. Und: wer die Magd kennt - vermag er nicht auch besser mit der Herrin umzugehen?

    Literatur

    1. Bernhard von Clairvaux 1994: Sermo XXVIII (super Canticum Canticorum). In: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke. Lateinisch-Deutsch, Band V.Innsbruck, Tyrolia.
    2. Nikolaus Cusanus 2002: Dialogus de ludo globi. In: Philosophisch-theologische Werke Band 3, Hamburg, Meiner.
    3. Nikolaus Cusanus 2002: De coniecturis. Schriften des Nikolaus von Kues Heft 17. 3. Auflage. Hamburg, Meiner.
    4. Wittgenstein, Ludwig 1984: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Erste Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
    5. Wittgenstein, Ludwig 1984/Bd. 8: Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8. Erste Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
    Johannes Leopold Mayer. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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