Wittgenstein, Brandom und der analytische Pragmatismus
Wittgenstein, Brandom und der analytische Pragmatismus

Abstract

Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, in welcher Beziehung Brandoms analytischer Pragmatismus zur Spätphilosophie Wittgensteins steht. Die Antwort darauf ist geteilt. Eine Übereinstimmung besteht in der Konstruktion pragmatischer Geschichten, welche die Logik unserer Handlungsräume übersichtlicher darstellen sollen. Jedoch kann die Engführung auf algorithmische Abhängigkeiten zwischen Praktiken kaum mit Wittgenstein in Einklang gebracht werden. Ich plädiere deshalb für eine Ausweitung des analytischen Pragmatismus, hin zur systematischen Erfassung des hermeneutischen Verstehens.

Table of contents

    1. Analytischer Pragmatismus als Synthese aus analytischer Philosophie und Pragmatismus

    In ‚Between Saying and Doing’ 1 unternimmt Brandom den Versuch, das philosophische Projekt der begrifflichen Analyse mit einigen Errungenschaften des Pragmatismus zu verbinden. Ziel ist es, durch die Anbindung semantischer Beziehungen zwischen Begriffssphären an die pragmatische Fundierung von Gehalten, d.h. an die Praktiken des Gebrauchs, das analytische Werkzeug zu neuer Leistungsfähigkeit zu verhelfen. Die Synthese beschreibt er wie folgt:

    „If we approach the pragmatist’ observations in an analytic spirit, we can understand pragmatics as providing special resources for extending and expanding the analytic semantic project.” (Brandom 2008: 8).

    Wie häufig bei Hochzeiten, so verändert auch diese Beziehung beide Seiten. Der Pragmatismus, man denke an Wittgenstein und Rorty, steht in der Regel für ein unsystematisches, quietistisches und auf den Einzelfall bezogenes Vorgehen. Durch das analytische Korsett sollen die positiven Einsichten des Pragmatismus systematisiert werden 2. Die analytische Philosophie auf der anderen Seite wird um Abhängigkeiten zwischen begrifflichen Gehalten und deren konstituierende Praktiken ergänzt.

    McDowell hat das Ergebnis dieser Hochzeit als ein Frankenstein-Monster3 bezeichnet und zielt mit diesem Bild kritisch auf den Beitrag der analytischen Philosophie. Was aber soll im vorliegenden Zusammenhang darunter verstanden werden? Brandom spezifiziert diesen Zweig der Philosophie auf eine sehr allgemeine Weise, in der etwas zum Tragen kommt, was ich den ‚Geist des Empirismus’ nennen möchte. Dieser Geist handelt von einer Asymmetrie zwischen Begriffen, genauer: zwischen Satzklassen und Diskursen. Die Asymmetrie kann als Erbe Humes bezeichnet werden und führt zu einer Einteilung der Begriffe in problematische und unproblematische. Erstere sind philosophisch rechtfertigungsbedürftig, letztere dagegen ungefährlich, weil in einem näher zu erläuternden Sinne selbstverständlich. Bekanntermaßen ging es Hume um die Frage, wie wir vom abgesicherten Ist zum Sollen und Müssen kommen. Die drei Schlüsselfragen der analytischen Philosophie lauten demnach: Welche Diskurse sind problematisch, welche unproblematisch und welche Form der semantischen Anschlussfähigkeit wird ins Auge gefasst. Idealerweise erhellt eine solchermaßen aufgebaute analytische Geschichte sowohl das Ziel- als auch das Ausgangsvokabular. Soviel zum Projekt der semantischen Analyse.

    Da Brandom den Pragmatismus analytisch färbt, dieser aber wesentlich mit der Philosophie des späten Wittgensteins verbunden ist, kann man auch von einer analytischen Lesart Wittgensteins sprechen. Genau dieses Unterfangen greift McDowell an, wenn er bezweifelt, dass Wittgensteins Philosophie von der Idee getragen wurde, Satzklassen gemäß ihres philosophischen Wertes unterscheiden zu können.

    Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, in wieweit der analytische Pragmatismus mit der Philosophie Wittgensteins in Einklang gebracht werden kann und wo mögliche Grenzen liegen. Dazu meine These: Brandom markiert durchaus einen wichtigen Gedanken der Philosophie Wittgensteins, den ich unter das Stichwort vom ‚Nachzeichnen einer pragmatischen Stufung von Handlungskompetenzen’ bringen möchte. Gleichzeitig sollte dieser Gedanke aber weniger ‚analytisch’ ausbuchstabiert werden als es Brandom tut. Bevor ich diese Andeutungen ausbuchstabiere, soll zunächst das formale Rüstzeug des analytischen Pragmatismus vorgestellt werden.

    2. Das formale Rüstzeug des analytischen Pragmatismus

    Zu den semantischen Beziehungen auf der Ebene von Vokabularen (VV-Relationen) tritt der pragmatische Unterbau prinzipiell in zweierlei Form hinzu. Erstens werden Relationen zwischen Vokabularen und Praktiken, zweitens aber auch solche innerhalb des Bereichs praktischer Vollzüge analysiert. Dieser Unterbau bestimmt dann die VV-Relationen auf eine interessante Weise neu, nämlich so, dass die pragmatische Geschichte unterhalb der Sphäre des Begrifflichen zu pragmatisch vermittelten semantischen Relationen führt. Schauen wir uns etwas genauer an, wie die pragmatische Erweiterung der semantischen Analyse aussieht.

    Auf der zuerst erwähnten Ausbaustufe der Beziehung zwischen Vokabularen und Praktiken unterscheidet Brandom PV- von VP-Relationen. Die Abkürzung ‚PV’ soll anzeigen, dass die Bestimmungsrichtung von der Praxis zum Gehalt verläuft. Eine Praxis P1 kann entweder hinreichend oder notwendig für das Verfügen über einen bestimmten begrifflichen Gehalt (V1) sein. Auf der anderen Seite fragt die VP-Relation danach, wie die V1-konstituierende Praxis P1 zu spezifizieren sei. Wie können wir in Worte fassen, was jemand tun muss, um bestimmte Bedeutungen (V1) ausdrücken zu können? In der Regel führen die sprachlichen Ressourcen einer solchen Spezifikation in eine Begriffssphäre V2. Die so sichtbar werdende Relation zwischen V1 und V2 beschreibt Brandom wie folgt: V2 ist ein pragmatisches Metavokabular für V1.

    Gehen wir einen Schritt weiter und werfen einen Blick auf die Relationen zwischen Praktiken (P1, P2). Diese Zusammenhänge sind für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung.

    Die leitende Frage lautet: Gibt es zwischen einer Praxis P1 und einer Praxis P2 philosophisch relevante Formen der Abhängigkeit? Brandom nennt zwei Optionen: P1 kann für P2 entweder hinreichend oder aber notwendig sein. Ich will mit wenigen Worten verdeutlichen, was die Rede von Beziehungen auf der Ebene von Fähigkeiten bedeuten soll. Eine Praxis P1 ist eine notwendige Voraussetzung für P2, wenn die Kompetenzen der zweiten Praxis nur dann erworben oder manifestiert werden können, wenn der Akteur bereits die Praxis P1 beherrscht. So gilt beispielsweise, dass der Gebrauch von ‚Es erscheint mir so und so’ sinnlogisch an Praktiken gebunden ist, in denen wir gelernt haben zu sagen, wie die Dinge sind.

    Im Zentrum des analytischen Pragmatismus stehen jedoch hinreichende Beziehungen zwischen Kompetenzen. Was kann es bedeuten, dass eine Praxis P1 für eine Praxis P2 hinreicht? Genau genommen geht es Brandom um Fälle, in denen das Verfügen über P1 im Prinzip das Verfügen über P2 sicherstellt. So können wir sagen, dass, wer über die Multiplikation und die Subtraktion verfügt, der kann im Prinzip bereits alles, was man können muss, um schriftlich dividieren zu können. Brandom greift in diesem Zusammenhang immer wieder auf bildhafte Ausdrücke zurück, wenn er sagt, dass P1 mit P2 schwanger ist oder P1 das pragmatische Potential für P2 in sich trägt. Die Bildhaftigkeit geht mit einer Mehrdeutigkeit der Rede vom Impliziten einher. Um den bildhaften Ausdrücken einen präzisen Sinn zu geben, muss Brandom bestimmen, was die Einschränkung ‚im Prinzip’ bedeuten soll. Seine Antwort lautet: → P1 reicht für P2 im Prinzip hin, wenn P1 algorithmisch zu P2 weiterentwickelt werden kann. D.h.: Was wir zu P1 hinzunehmen müssen, um P2 zu erhalten sind einzig algorithmisch-formale Kompetenzen. Was der Schüler lernen muss, so können wir bezogen auf den Fall der Rechenoperationen sagen, ist die Anordnung und Reihenfolge der bereits bekannten Operationen. Werden Multiplikation und Subtraktion in die richtige Anordnung gebracht, dann entsteht die Division.

    Eine Bedingung dafür, dass die pp-sufficiency-relation erfüllt ist, besteht also in der algorithmischen Elaboration. Die philosophische Brisanz dieser These ist erkennbar, wenn wir den mathematischen Fall gegen andere Kompetenzen eintauschen. Eine der Hauptthesen Brandoms lautet dementsprechend, dass das Verfügen über empirisch-deskriptive diskursive Fähigkeiten bereits das Verfügen über logische, modale und normative Praktiken und Begriffe impliziert. So ist zum Beispiel zu lesen:

    „The ability to use ordinary empirical descriptive terms such as ‚green’, ‚rigid’, and ‚mass’ already presupposes grasp of the kinds of properties and relations made explicit by modal vocabulary.” (Brandom 2008: 96f.)

    Im Zuge dieser These kann Brandom dann behaupten, dass logische, modale und normative Begriffe wesentlich explikativ sind, was soviel heißt wie: sie machen eine inferentielle Struktur der Ausgangspraxis explizit. Auf die Plausibilität dieser Sicht komme ich später zurück. Einige Bedenken seien hier jedoch erwähnt. Für Brandom gilt: Liegt eine normativ strukturierte Praxis des Gebens und Verlangens von Gründen vor dann haben wir damit in einem gewissen Sinne auch schon alle weiteren Früchte sprachlicher Kompetenz. Zu fragen ist aber gerade, ob wir, geht es um das Erzählen pragmatischer Geschichten, auf einer so hohen Stufe der Diskursivität anfangen sollten? Plausibler erscheint mir dagegen die Idee Wittgensteins:

    „Glauben, dass der Andere Schmerzen hat, zweifeln, ob er sie hat, sind so viele natürliche Arten des Verhaltens zu den andern Menschen; und unsere Sprache ist nur ein Hilfsmittel und ein weiterer Ausbau dieses Verhaltens. Ich meine: unser Sprachspiel ist ein Ausbau des primitiven Benehmens.“ (Wittgenstein 1999b: 151, S.37).

    Sollten höherstufige inferentielle Zusammenhänge nicht selbst Gegenstand (und nicht Anfang) einer pragmatischen Konstruktion sein?

    3. Analytischer Pragmatismus und die Darstellung pragmatischer Handlungszusammenhänge

    Der letzte Abschnitt hatte unter anderem das Ziel, die algorithmische Elaboration als das Wesen des analytischen Verstehens herauszustellen. Bevor ich diesen Gedanken kritisch erörtere, soll zuvor festgehalten werden, was am analytischen Pragmatismus überzeugt. Meine These lautet: Die durch das formale Rüstzeug ins Bild gesetzten Abhängigkeiten zwischen Praktiken und Begriffen können pragmatische Geschichten unseres Könnens und Wissens erzählen. Was wir hier vorfinden, ist dem Vorgehen Wittgensteins verwandt, Übergänge zwischen Sprachspielen zu skizzieren.

    Wittgensteins Philosophie war stets von der Überzeugung getragen, dass hinter dem scheinbaren ‚philosophischen Rätsel’ eine begriffliche Verwirrung steckt. Der Ursprung der Verwirrung hat etwas damit zu tun, dass wir unsere Sprachformen nicht immer überschauen. Entscheidend ist für mich nun, dass dem grammatischen Missverständnis durch das ‚Erzählen einer Geschichte’ vorgebeugt werden kann. Was ist damit gemeint? Unser Verstehen höherstufiger sprachlicher Kompetenzen kommt in Schritten daher. Einfache Sprachspiele werden schrittweise modifiziert und erweitert. Die Schritte des Verstehens werden in einer pragmatisch-genealogischen Geschichte sichtbar, da diese die Stufen des Könnens nachzeichnet. Verstehen wir die Übergänge, dann kann uns die grammatische Oberfläche nicht so leicht in die Irre führen.

    Ich lese den analytischen Pragmatismus Brandoms in seiner generellen Ausrichtung nun so, dass er uns Dank der Ausweitung der Analyse von einer Logik der Gehalte zu einer Logik des Könnens führt:

    „Algorithmic elaboration is a kind of logic of practical abilities.” (Brandom 2008: 33).

    An dieser Ausrichtung will ich festhalten, wenngleich die Fokussierung auf algorithmische Weiterentwicklungen später aufgehoben wird.

    Eine Gemeinsamkeit zwischen Brandom und Wittgenstein sehe ich demnach im Bestreben, eine konstruktive, diachrone und bottom-up vorgehende Sprachphilosophie darzustellen. Bottom-up bezeichne ich ein Vorgehen, welches versucht zu zeigen, wie höherstufige Kompetenzen logisch von einfacheren abhängen.4 Diachron wird eine solche Darstellung dann, wenn zusätzlich gezeigt wird, wie der Erwerb des Komplexen durch Modifikation und Erweiterung des Einfachen zu denken ist. Die diachrone Perspektive deutet an, wo sich Genese und pragmatische Logik treffen. Konstruktiv will ich darüber hinaus nicht nur im Sinne der Rekonstruktion verstanden wissen, sondern so gebrauchen, dass es für einen systematischen Umgang mit philosophischen Fragen und Verwirrungen steht. In den Abschnitten 4.2 und 4.3 soll skizziert werden, wie die drei Begriffe aufeinander bezogen sind, nämlich so, dass wir den begrifflichen Verwirrungen konstruktiv-systematisch entgegen treten können, indem diachron und bottom-up vorgegangen wird. Das Aufdecken der Diskrepanz zwischen grammatischer und logischer Form ist der philosophische Wert des Erzählens genealogischer Geschichten.

    Fazit: Woran ich beim analytischen Pragmatismus festhalten will, ist neben der logischen Rekonstruktion praktischer Fähigkeiten, der Versuch, Wittgenstein in gewisser Hinsicht analytisch zu lesen. Wobei ich ‚analytisch’ ganz allgemein als ‚systematisch’ deute und so einen Unterschied zur speziellen Interpretation im Sinne des Algorithmischen aufmache.

    4. Die Engführung des analytischen Pragmatismus auf algorithmische Zusammenhänge

    4.1 Bottom-up jenseits von Naturalismus und Propositionalismus

    Ich möchte im vorliegenden Abschnitt für eine Öffnung des Argumentationsfeldes plädieren. Genau genommen besteht die Öffnung darin, das skizzierte Bild vom analytischen Pragmatismus um einige Striche zu ergänzen, um so wichtige Differenzierungen ins Spiel zu bringen. Einleitend seien diese Striche wie folgt angedeutet: Ich vertrete die These, dass Brandoms Position über zwei miteinander zusammenhängende blinde Flecken verfügt. Der erste Fleck zeigt sich darin, dass Brandom glaubt, wir müssten uns beim Erzählen konstruktiver Geschichten entscheiden zwischen Naturalismus auf der einen und Propositionalismus auf der anderen Seite. Der zweite kommt dagegen in der These zum Ausdruck, analytisch-algorithmisches Vorgehen und unsystematischer Quietismus seien erschöpfende Alternativen.

    Meines Erachtens besteht zwischen diesen Gegenüberstellungen durchaus ein philosophischer Spielraum. Wittgenstein kann so gelesen werden, dass er eine systematische Form des Philosophierens verteidigt, die jenseits von Naturalismus und Propositionalismus angesiedelt ist. Eine solche Interpretation versucht die blinden Flecke dadurch zu beseitigen, dass zwischen zwei unterschiedlichen Verständnissen eines ‚bottom-up’-Vorgehens unterschieden wird. Brandom lehnt einerseits völlig zu Recht Vorgehen ab, die den Anspruch haben, „aus nicht-intentionalen Knochen eine intentionale Suppe zu kochen“ (Brandom 2002: 383). Naturalistische Projekte dieser Art verzichten an der Basis ihres Stufenmodells gezielt auf intentionale Begriffe.

    Wer solche Geschichten ablehnt, der ist jedoch nicht darauf festgelegt, mit propositional-inferentiellen Zuständen anzufangen.

    Die Wurzel des Propositionalismus liegt jedoch dort, wo Brandom gegen Wittgenstein für die These eintritt, die Sprache habe ein Zentrum. Zu lesen ist:

    „The core case of saying something is making a claim, asserting something. The practices I will call ‚linguistic’ or ‚discursive’ are those in which it is possible to make assertions or claims.“ (Brandom 2008: 42f.)

    Im Zentrum sprachlicher Vollzüge verortet Brandom also assertorische Akte, welche über die pragmatischen Signifikanzen des Gebens und Verlangens von Gründen bestimmt werden.

    Die Rede vom Zentrum der Sprache ist kritisch zu beurteilen, weil dadurch die propositionalen Vollzüge im luftleeren Raum konstruiert werden. Die These, dass das Verfügen über Sinn an Vollzüge in einem inferentiell gegliederten Raum der Gründe gebunden ist, versperrt den Weg, jene Stufen des Könnens selbst als Errungenschaft aus der Perspektive des Handelnden verständlich zu machen. Etwas als Grund für etwas anderes zu betrachten ist selbst eine höherstufige und damit zu erklärende Kompetenz. Die Rede vom basalen Verständnis eines ‚bottom-up’-Vorgehens ist demnach so zu deuten, dass bei einem solchen Formen des Sinns unterschieden werden und zwischen diesen, d.h. zwischen basalen und primitiven Sinnzusammenhängen auf der einen und höherstufigen Kompetenzen auf der anderen Seite, pragmatisch-genealogische Abhängigkeiten dargestellt werden. Die dabei erzählten Geschichten sind im Gegensatz zum Naturalismus, handlungsbasierte bzw. handlungsartige Geschichten. Brandom nimmt auf diese sinnhaften Übergänge und Zwischenglieder keinen Bezug.

    In ‚Articulating Reasons’ (deutsch Brandom 2000: 41) verweist er stattdessen auf Klassifikationsmechanismen, genauer: auf „bloß unterscheidend reagierende Wesen“, die im Fortlauf der Geschichte in eine normative Praxis eingewiesen werden können. Dazu möchte ich anmerken: Die Notwendigkeit von Formen des Sinns auszugehen, besteht nun aber gerade darin, dass wir streng genommen gar nicht wissen, was es bedeuten soll, ein ‚bloß unterscheidend reagierendes Wesen’ in eine soziale Praxis einzuweisen. Ich will damit sagen, dass die Klassifikationen um die es uns geht als sinngetränkte Klassifikationshandlungen zu beschreiben sind.

    4.2 Wittgensteins primitive Sprachspiele

    Wenn gesagt wird, dass die pragmatische Geschichte basaler ansetzen muss als es Brandom tut, dann kann die Erweiterung in zwei Stufen erfolgen. Ein erster Schritt ist getan, wenn die propositionalen Sprachformen an ihre vor-propositionalen Vorgänger angebunden werden. Wittgenstein vollzieht diesen Schritt zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen. Der Sprachkompetenz, sagen zu können, dass 5 große Platten zerbrochen sind, gehen einfachere sprachliche Fähigkeiten voraus, die zu der komplexeren in einer pp-sufficiency-Relation stehen. Der Sprecher muss gelernt haben, wie das Sprachspiel ‚Platte’ um Zahlwörter, Adjektive und Prädikate erweitert wird. Dabei erscheint es mir überaus plausibel, die einfachen Formen wie ‚Platte’, ‚3 Platten’, etc. weder propositional, noch als verortet in einem inferentiellen Raum der Gründe (des Begründens) zu beschreiben. Gleichwohl sind die vor-propositionalen Voraussetzungen gehaltvolle Züge, weil ihre Äußerung Teil eines größeren Handlungszusammenhanges ist. Auch wenn die Sprecher eines solchen Sprachspiels nicht wissen, was es heißt, Sätze in Folgerungsbeziehungen zu bringen und sie ihr Tun nicht explizit begründen, so gibt es doch bereits normative Vorläufer dieser Kategorien. Die Äußerung ‚Platte’ ist an nicht-sprachliche Aus- und Eingänge gebunden, die es uns erlauben, von adäquaten Vorgänger- und Anschlusshandlungen des jeweiligen Zuges im Sprachspiel zu sprechen. Damit hängt zusammen: Natürlich wissen die PU 2-Bauarbeiter nicht, was es heißt, einen Satz durch einen anderen zu rechtfertigen, aber wir können uns leicht ausmalen, wie ein zweifelnder Blick von B dadurch dialogisch beantwortet wird, dass A den B an die Hand nimmt und ihm voller Zuversicht zeigt, was er gesehen hat, nämlich 3 Platten.

    Entscheidend ist nun, dass zu diesem ersten Schritt ein zweiter hinzukommen kann und muss. Denn vor-propositionale Sprachformen ruhen ihrerseits auf primitive, nicht-sprachliche Kommunikations- und Reaktionssituationen auf. Auch an dieser Stelle können wir von einer pp-sufficiency-Relation sprechen.

    Wittgenstein arbeitet in seiner Spätphilosophie immer wieder mit dem Begriff ‚primitiver Sprachspiele’.5 Schauen wir uns das etwas genauer an.

    Erinnert sei an das obige Zitat Wittgensteins:

    „…unsere Sprache ist nur ein Hilfsmittel und ein weiterer Ausbau dieses Verhaltens. Ich meine: unser Sprachspiel ist ein Ausbau des primitiven Benehmens.“ (Wittgenstein 1999b: 151, S. 37)

    An anderer Stelle führt er weiter aus:

    „Was aber will hier das Wort „primitiv“ sagen? Doch wohl, dass die Verhaltensweise vor-sprachlich ist: dass ein Sprachspiel auf ihr beruht, dass sie der Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens.“ (Wittgenstein 1999b: 916, S. 168).

    Wittgensteins Rede von primitiven Reaktionen und vor-sprachlichen Verhaltensweisen bringt anthropologische Elemente ins Spiel, beispielsweise Phänomene wie Lachen, Weinen, Schmerzen zeigen, Spielen und Wahrnehmen. Diese Phänomene als Voraussetzungen für höherstufige Handlungsformen anzusehen, bedeutet exemplarisch etwa folgendes: Die wahrnehmungsbasierte Klassifikation von Spielsteinen im Kinderzimmer gemäß Farbe, Form oder Wohlgefallen stellt ein pragmatisches Sprungbrett für den Erwerb einfachster sprachlicher Etiketten (‚rot’, ‚guter Stein’) dar. Ganz ähnlich deutet Wittgenstein die Rolle des natürlichen Schmerzbenehmens im Privatsprachenargument. Weitere Beispiele dieser Art lassen sich leicht anführen. In allen diesen Fällen wird deutlich, dass Sprache aus einem natürlichen Sinnboden erwächst – andernfalls wäre der Erwerb begrifflicher Fähigkeit nicht verständlich zu machen.

    Um die hier angedeuteten Übergänge systematisch fassen und fruchtbar machen zu können, hat Canfield das folgende 3-Stufen-Modell vorgeschlagen: Proto-Sprachspiele → Gesten und Gebärden → sprachlich-konventionalisierte Vollzüge (Sprachspiele). 5 Natürliche Reaktionen (Greifbewegungen des Kindes) werden durch nicht-sprachliche Dialogstrukturen normiert. Es entstehen neue Sinnstrukturen, zum Beispiel eine Zeigegeste. Die Bewegung wird in Handlungsraum zielortiert eingesetzt. Auf der dritten Stufe wird die Geste sprachlich gefasst, was aufgrund des bereits bestehenden normativen Fundaments kaum problematisch sein dürfte. Statt der Zeigegeste verwendet das Kind nun den Ausdruck ‚Das’.

    Zwei inhaltliche Gesichtspunkte soll dieses Stufenmodell deutlich machen: Erstens sind die Vorformen der Sprache handlungsartig zu beschreiben. Im Gegensatz zu Brandom finde ich es mehr als befremdlich, den Anfang mit kausalen Dispositionen zu wagen. Wir treten im Gegenteil dazu als menschliche Wesen von Beginn unseres Lebens an in soziale Handlungsräume ein, die uns unweigerlich zum Mitspielen auffordern. Eine solche Aufforderung macht jedoch nur dort Sinn, wo jemand motivierbar ist, also einen Drang zum Mitspielen verspüren kann.

    Zweitens sind die geschilderten Übergänge vom Vor-Sprachlichen zum Sprachlich-Vor-Propositionalen und weiter zum Propositionalen nicht im Sinne einer algorithmischen Elaboration zu verstehen. Wenn wir sagen, dass Kinder das pragmatische Potential haben, in inferentielle Zusammenhänge einzutreten, dann deutet die Rede vom Impliziten an dieser Stelle auf eine andere Form des Übergangs von P1 zu P2 hin, nämlich jene des Lernens, Eintauchens und hermeneutischen Verstehens.

    Eine Grundaussage der Regelfolgendiskussion Wittgensteins besteht darin, dass die Fähigkeit, eine paradigmatische Beispielsreihe selbstständig fortzusetzen, nicht noch einmal philosophisch zerlegt werden kann. Wir gehen von ‚Diese Blume ist rot’, ‚Dieser Stift ist rot’ selbständig zu neuen Anwendungen des Begriffs ‚… ist rot’ über. Alles was sich hier sagen lässt, ist, dass Menschen, die in eine Praxis P1 eingeführt werden, unter bestimmten Lernbedingungen sehr wahrscheinlich diese fortsetzen bzw. die Praxis P2 erreichen. In diesem Fällen manifestiert sich ein hermeneutisches Verstehen, bei dem der Akteur eine Situation erfassen muss. Situatives Verstehen geht dem algorithmischen voraus, da das formale Geländer, an dem wir uns später abarbeiten können, allererst kreativ erzeugt werden muss.

    4.3 Hermeneutisches Verstehen mit System

    Interessanterweise hat Brandom diese Art des Übergangs von einem zum anderen Können im 3. Kapitel von ‚Between Saying and Doing’ explizit in seine Überlegungen miteinbezogen. Dort grenzt er das algorithmische Weiterentwickeln vom ‚practical elaboration by training’ (Brandom 2008: 86) ab. Was die Differenzierung der Elaborationsarten anbelangt, gibt es kaum Unterschiede zwischen Brandom und dem, was ich im letzten Abschnitt vorgestellt habe. Die Wege trennen sich jedoch dort, wo ich an einer stärker philosophischen Ausbuchstabierung und Systematisierung des hermeneutischen Verstehens interessiert bin. Brandom tendiert zu einer quasi-empirischen, quietistischen Aufzählung hermeneutischer Übergänge. Es wird so der Eindruck vermittelt, wir könnten nicht mehr tun als festzustellen, dass Wesen wie wir, unter normalen Bedingungen, von einer Praxis P1 zu P2 übergehen. Meines Erachtens kann an dieser Stelle mehr gesagt werden.

    Der konstruktiv-systematische Charakter (nicht-algorithmischer) pragmatischer Geschichten zeigt sich u.a. in folgenden drei Aspekten. Erstens haben die Überlegungen Canfields gezeigt, wie mit Hilfe eines Stufenmodells hermeneutische Übergänge als Transformationen einer bereits beherrschten Kompetenz eingefangen werden können. Diese Transformationen versuchen verständlich zu machen, was uns aus eigener Erfahrung bereits vertraut ist. Zweitens erläutern pragmatische Geschichten den Witz der sprachlichen Darstellungsform im konkreten Sprachspiel. Dieser Gedanke wurde oben schon einmal angesprochen. Wittgenstein erinnert uns in seinen Schriften immer wieder daran, dass es die homogene sprachliche Oberfläche ist, die uns Analogien und Vergleiche sehen lässt, wo die Sprachspiele äußerst heterogen sind. Die Tatsache, dass die Subjekt-Prädikat-Form auf alle möglichen Handlungsbereiche übertragen werden kann und so die Form der Darstellung verallgemeinert wird, impliziert gerade nicht, dass stets auch die gleiche inhaltliche Deutung der Darstellungsform projiziert wird. Genauer gesagt: Die Übertragung der Komplexbildungsweise von einfachen empirisch-deskriptiven Sätzen auf modale, moralische und religiöse Satzklassen heißt nicht, dass in allen diesen Diskursen ein ‚Gegenstand unter einen Begriff’ fällt. Wittgenstein sagt:

    „Können wir denn nicht das Begriffsgebäude ausbauen als Behältnis für welche Anwendung immer daherkommt? Darf denn nicht … eine Sprachform vorbereiten für mögliche Verwendungen? Ist denn nicht die Subjekt-Prädikat-Form in dieser Weise offen und wartet auf die verschiedensten neuen Anwendungen?“ (Wittgenstein 1999c: S. 295)

    Wenn wir also wissen wollen, wie die Art der inneren Zusammengesetztheit eines Satzes zu verstehen ist, zum Beispiel einer moralischen Äußerung, dann empfiehlt uns Wittgenstein, zuerst auf die alten Anwendungen der Darstellungsform zu schauen und von dort eine Geschichte der inhaltlichen Übergänge nachzuvollziehen. Nur so können wir verhindern, durch sprachliche Bilder in die Irre geleitet zu werden, wenn sie uns auf die Suche nach modalen und moralischen Gegenständen schicken. Die alten Verwendungsweisen sind Sprungbrett der kreativen Ausweitung der Darstellungsform, jedoch nur dann, wenn sie als bereits verstanden in Anschlag gebracht werden können. An dieser Stelle können wir sehen, dass das Nachvollziehen der Übertragung der Subjekt-Prädikat-Form im konkreten Fall inhaltlich auf andere Bereiche ausstrahlt, da wir ähnliche Übergänge in vielen Bereichen unserer Lebenswelt vollzogen haben und vollziehen.

    Drittens wird durch die ersten beiden Aspekte sichtbar, dass das hermeneutische Verstehen in vielen Situationen durch Vergleiche, Analogien und Geschichten auf den Weg gebracht wird. Der Wert dieser Geschichten erschöpft sich jedoch nicht im jeweiligen Einzelfall. Wer einen Vergleich versteht, der gewinnt immer auch eine neue Perspektive hinzu, die ihn andere Vollzüge in einem neuen Licht erscheinen lässt.

    Literature

    1. Brandom, Robert B.: Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus (Articulating Reasons), Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001
    2. Brandom, Robert B.: Between Saying and Doing: Towards an Analytic Pragmatism, Oxford 2008
    3. Canfield, John V.: Becoming Human, Oxford 2007
    4. McDowell, John:in: Philosophical Topics 36/2 (im Erscheinen)
    5. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999a
    6. Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999b
    7. Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999c
    Notes
    1.
    Robert B. Brandom (2008).
    2.
    Zu Wittgensteins Pragmatismus schreibt Brandom: „I want to show how pragmatism can be turned from a pessimistic, even nihilistic, counsel of theoretical despair into a definite, substantive, progressive, and promising program in the philosophy of language.“ (Brandom 2008: 31f.)
    3.
    John McDowell (im Erscheinen).
    4.
    In Abschnitt 4.1 werden zwei Bedeutungen eines solchen Vorgehens unterschieden und so eine Differenz zwischen Brandom und Wittgenstein markiert.
    5.
    Dieser Begriff findet in der Sekundärliteratur wenig Beachtung, vgl. aber die interessante Ausnahme: John V. Canfield (2007).
    5.
    John V. Canfield (2007).
    Stefan Tolksdorf. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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