Abstract
Heimito von Doderer hat in seinen späten Arbeiten versucht, seine Idee eines „Roman muet“ zu verwirklichen, in welchem nicht mehr die einzelnen Wörter Träger einer Handlung sind, sondern mittels der Wörter geschaffene Atmosphären zu Trägerinnen der Geschehnisse werden und somit das vom Schriftsteller Intendierte zur Evidenz bringen. Vieles von diesem zur Evidenz Kommenden ist unaussprechlich und kann folgerichtig nicht „zur Sprache“ gebracht werden, aber in der vom Autor geschaffenen Atmosphäre des „darüber Schweigens“ den Lesenden verständlich gemacht werden. In seinem vorletzten Roman „Die Wasserfälle von Slunj“ (1963) finden sich sprachliche Wendungen, welche es angezeigt machen, sie mit durchaus vergleichbaren Formulierungen Wittgensteins in Beziehung zu setzen, wodurch sich eine Möglichkeit ergeben könnte, Doderers Absichten und die von ihm stets geforderte Evidenz gleichsam philosophisch abzusichern.
Table of contents
„Tatsachen sind nur von vorne verständlich, aus den Wurzelbärten ihrer Genesis. Nachher nicht mehr. Sie zeigen uns dann ihren glatten Objekts-Hintern. Aber der Romancier denkt nicht daran, ihnen den Arschlecker zu machen. So weit zum ‚handlungsreichen Roman’.“ (Doderer1969 S 242). In voller Drastik äußert Heimito von Doderer (1896-1966) - auch mit der Fülle seiner Erfahrungen als promovierter und wissenschaftlich arbeitender Historiker - seine Ansicht dazu, wie etwas, das zur Evidenz gelangt ist in ebendieser Evidenzialisierung zu verstehen ist. In seinem letzten vollendeten Roman „Die Wasserfälle von Slunj“ – erschienen 1963 - zeigt er sich demgemäß auch höchst vorsichtig gegenüber Tatsachen, welche ihm zum Beispiel auch die Ereignisse einmaliger sexueller Begegnungen in deren - im doppelten Sinne des Wortes – „Einmaligkeit“ sind. So formuliert er hier denn auch folgerichtig: „Sie sind Tatsachen, solche Ereignisse, aber völlig alleinstehende Tatsachen, und dadurch als solche bald fragwürdig.“ (Doderer 1995/1 S 127). So geschieht es denn auch einer handelnden – und im konkreten Falle durchaus auch „behandelten“ - Person in diesem Roman, nämlich dem Gymnasiasten Zdenko von Chlamtatsch, der aufgrund eines Besuches bei einem Klassenkameraden in dessen chemischem Laboratorium einmaliger Sexualpartner der Mutter dieses Klassenkollegen – sie heißt Henriette Frehlinger – wird, dass Einzelheiten dieser Einmaligkeit „viele Jahre später von ihm eigentlich immer noch bezweifelt wurden...Aber es war doch unleugbar so gewesen.“ (Doderer 1995/1 S 226).
Der Autor macht es den Lesenden plausibel, dass die Zweifel des jungen Zdenko nicht aus der Luft gegriffen sind: sie sind begründet in den „Wurzelbärten“ und deren „Genesis“ im Bezug auf dieses einmalige intime Beisammensein.
Zdenko ist nicht sonderlich interessiert an der Chemie. Er wird durch die Frage, ob ein Ingenieur auch ein Gentleman sein könne, auf den vor ihm sitzenden Heinrich Frehlinger, Sohn des Direktors einer chemischen Fabrik, aufmerksam und sucht das Gespräch mit diesem. Das führt letztendlich zu einer sonntäglichen Einladung in die frehlingerische Wohnung, wo dem Gymnasiasten von dessen Vater ein kleines chemisches Laboratorium eingerichtet wurde, in welchem die beiden Klassenkollegen denn auch ein paar Experimente durchführen. „Zdenko war zunächst so erstaunt, als hätte er mitten in Wien einen neuen Erdteil entdeckt.“ (Doderer 1959/1 S 209). Der Konvention gemäß werden dann die beiden Gymnasiasten nebst dem Hausherren, der sich ihnen bereits zugesellt hat, von Frau Frehlinger zur Jause gebeten, was bedeutet, dass sie das Laboratorium verlassen und durch mehrere Räume zum Speisezimmer gehen. „Zdenko schien es später, in der Erinnerung, immer, als seien sie nun sehr lange gegangen; und je mehr in die Tiefe der Zeiten ihm dieser Nachmittag und Abend entwichen, desto weiter streckte sich im Raume ein Weg, der zwar durch eine fast endlose Wohnung führte, immerhin aber im ganzen nur durch fünf oder sechs Zimmer.“ (Doderer 1995/1 S 216). Dort erwartet sie sitzend „machtvoll die Hausfrau: das heißt (und jetzt sehen wir aus Zdenko’s Augen), sie explodierte immerwährend nach allen Seiten, vernichtete den Raum um sich und machte sowohl Menschen wie Dinge unsichtbar.“ (Doderer 1995/1 S 217). Damit war „alles sofort passiert“. Am Ende wird der Gymnasiast ein Kärtchen Frau Frehlingers in seinem Mantel finden mit der Adresse, wo das einmalige Ereignis dann auch stattgefunden hat.
In seinem Spätwerk zielt der Autor auf die Verwirklichung der Idee eines „Roman muet“, einer schweigenden Prosa, deren Ziel nichts weniger ist als die „schweigend-sprechende Ausbreitung und Zusammenziehung des ‚fatologischen Gewebes’.“ (Weber 1995 S 272). Schweigen bedeutet in einer solchen Konzeption nichts weniger als Verschweigen, sondern ist ein probates Mittel, eine Tatsache „von vorne“ zur Evidenz zu bringen. Denn, so Doderer: „Wenn einer nicht spricht, spürt man’s doch, daß er nicht spricht; wir fühlen’s nun einmal, wenn beim anderen Menschen das Schweigen in seinen Riegeln ächzt.“ (Doderer 1995/1 S 282).
Dem Schreibenden kann es also innerhalb der Konzeption eines „Roman muet“ gelingen, durch das Nichtausgesprochene bei den Lesenden vollste Klarheit hervorzurufen. Denn wenn er schreibt, so befindet er sich – im Gegensatz zu den von ihm beschriebenen Personen und den Lesenden – in einem von Wittgenstein so bezeichneten „Zustand des Sich-auskennens“. (Wittgenstein 1984/7 721 S 337). Aus diesem Zustand heraus vermag der Schriftsteller demnach auch das Phänomen des Schweigens und Verstummtseins als zielführendes Mittel der Evidenzialisierung anzuwenden. Und sich dieses Zustandes bewusst seiend wird er schlüssig und mit Notwendigkeit zwei Grundsätzen gerecht:
1.) „Was sich sagen läßt, läßt sich klar sagen“
und
2.) „Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ (Wittgenstein 1984/1 S 9).
Entscheidend ist hier tatsächlich das „Über-etwas-Schweigen“, dem die Fähigkeit des eindeutigen Auskunftgebens innewohnt. Zudem: im literarischen Kunstwerk gelingt es dem Schriftsteller ja, das Schweigen und das Nichtaussprechen zur Sprache zu bringen. Denn - so Wittgenstein: „Wenn man sich bemüht das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist, - unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten.“ (Engelmann S 78).
Unaussprechlich ist letztendlich auch die Qualität einer Sinneswahrnehmung, auf deren Wesentlichkeit für die Evidenz Doderer in diesem Roman in diversen Exempeln geradezu leitmotivisch verweist: das Riechen. „Was sind schon alle Organe des Erkennens im Vergleich zu unserer Nase! Sie erst gibt dem Wissen einen Körper.“ (Doderer 1995/1 S 165). Es ist daher wesentlich, jemanden oder etwas – wie es der Romancier hier mehrmals ausdrückt und zur Darstellung bringt - „in den Wind zu bekommen“. Das bedeutet aber nichts anderes als Evidenzialisierung. Evidenzialisierung aber wovon? Wittgenstein kann eine Antwort geben: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Wittgenstein 1984/1 6.522 S 85).
Sei es nun also durch das „In-den-Wind- bekommen“ oder durch die Erstreckung eines Weges im Raume, „der zwar durch eine fast endlose Wohnung führte, immerhin aber im ganzen nur durch fünf oder sechs Zimmer“ umfasst – hier werden die „Wurzelbärte der Tatsachen“ erkennbar, vor allem auch im Hinblick auf deren Funktion für das „Mystische“. Dieses „Mystische“ sind diese nämlich mitnichten, sondern ausschließlich dessen Werkzeug. Das Chemielaboratorium des Klassenkameraden Heinrich Frehlinger ist im Hinblick auf die intime Begegnung zwischen dessen Mutter und Zdenko von Chlamtatsch eine zwar hier keineswegs austauschbare, dennoch aber bloß „werkzeugliche“ Tatsache, welche im langen Gang durch die eben doch gar nicht so vielen Räume in ihrer sogearteten Bedeutung für den Lesenden deutlich wird. Den anderen Beteiligten dieser Szene – dem Ehemann der Frau Henriette und deren Sohn – kommt genau die gleiche werkzeugliche Funktion zu: Dies äußert sich darin, dass sie von den Vorgängen zwischen Zdenko und Henriette überhaupt nichts wahrnehmen und auch dann, als „alles sofort passiert“ war immer noch – wie vor dem Gang aus dem Laboratorium zum Speisezimmer - in Gesprächen über Chemie befindlich sind. So kann eben nur für Zdenko alles, was sich nach diesem letztlich doch so langen Gang durch die Räume ergibt, als ein Ereignis sui generis erkannt werden. Sogeartete Ereignisse sind gemäß Doderer „unendlich kostbar. Manchmal fragen wir zu ihnen hin. Aber sie antworten nie. Sie sind zu vornehm dazu. Sie haben sich nie unter das Volk der wimmelnden Tatsachen gemischt.“ (Doderer 1995/1 S 227). So mag es sich erweisen, dass es sich hier zwar um eine von Wittgenstein so genannte „Gesamtheit der Tatsachen“ (Wittgenstein 1984/1 1.1 S 11) handelt, aber dass ein Ereignis mehr ist als diese Gesamtheit, weil die Tatsachen gerade in ihrem „Wimmeln“ nach Gesamtheit ihre bloße Werkzeuglichkeit offenbaren.
Es wimmelt also hier das Chemielaboratorium, der Klassenkamerad samt Vater, der lange Gang, die Räume – ihre Gesamtheit finden sie aber in dem, was sich zeigt – dem „Mystischen“, als welches die solcherart zustande gekommene sexuelle Begegnung zwischen Frau Henriette Frehlinger und Zdenko von Chlamtatsch vor den Lesenden evident wird.
Eine werkzeugliche Funktion kommt in Doderers Roman auch den Namen der einzelnen Handelnden zu. Es ist eine Funktion einer akustischen Fassbarkeit, welche eine sinnliche Deckung zwischen benannter Person und Namen voraussetzt. Das bedeutet: Name und Person – soll heißen auch Wirkung der Person – müssen voll aufeinander abgestimmt sein.
Bei Wittgenstein heißt es: „Namen der Komponisten. Manchmal ist es eine Projektionsmethode, die wir als gegeben betrachten. Wenn wir uns etwa fragen: Welcher Name würde den Charakter dieses Menschen treffen? Manchmal aber projizieren wir den Charakter in den Namen und sehen diesen als das Gegebene an. So scheint es uns, daß die uns wohl bekannten großen Meister gerade die Namen haben, die zu ihrem Werk passen.“ (Wittgenstein 1989 S 484). Heimito von Doderer findet demnach passende Namen, um die intendierte Deckungsgleichheit auch für die Lesenden nachvollziehbar zu machen. Dies geht bis ins kleinste Detail. So heißt es etwa über den Hausmeister in der Wiener Villa des englischen Industriellen Robert Clayton: „Wie er eigentlich hieß, ist in Vergessenheit geraten. Wir erfinden für ihn den Namen Broubek. So sah er aus.“ (Doderer 1995/1 S 152).
Was passieren kann, wenn der Name den Charakter eines bestimmten Menschen nicht trifft, er also nicht als das Gegebene angesehen werden kann, das demonstriert Doderer deutlichst in seiner Kurzerzählung „Die Teller“ aus dem Zyklus der „Acht Wutanfälle“ – entstanden 1954/55: „Mein Grimm erwachte, als ich feststellen mußte, daß der Dentist gänzlich anders aussah, als er hieß. Unter dem Namen Bodorenko hatte ich mir freilich ein kleines Gesicht vorgestellt, mit tiefen Schatten. Statt dessen erwartete mich die Glätte eines Ferkels bei Vollmond.“ (Doderer 1995/2 S 311). Eine solche Deckungsungleichheit erzeugt ein Loch, aus welchem ehebaldigst profundester Grimm herauswächst, weil hier plötzlich ein absolutes Manko an Werkzeuglichkeit evident wird. Die daraus resultierende Enttäuschung hat als Tatsache ihre Wurzelbärte in der durch diese Deckungsungleichheit hervorgerufenen Verhinderung des Sich-Zeigens. Um eine solche Verhinderung zu verhindern ist es demnach nur allzu verständlich, wenn der Schriftsteller bis hin zu den kleinsten Wurzelbärtchen um die notwendigen Deckungsgleichheiten bemüht ist – und im Notfall eines konstatierten Vergessen-worden-Seins eben einen Namen „erfindet“, welcher den also Benannten so nennbar macht wie er aussieht. Damit erhält auch ein solch „erfundener“ Name seine Qualität, wie eben alles, was dem sich auch unaussprechlich zeigen Wollenden als Werkzeug dient. Denn – so Wittgenstein - : „Das Unaussprechliche (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.“ (Wittgenstein 1989 S 472). Diese Bedeutung verweist aber auf das, von dem ihm die Bedeutung zukommt. In dieser Bedeutung verweist demnach das Werkzeug auf das Sich-Zeigende, das Mystische, welchem es als Werkzeug dient. Doderer selbst setzt einen solchen Verweis mit der „analogia entis“ des Thomas von Aquin gleich und zieht daraus auch eine fundamentale Konsequenz für den Romancier. „Man könnte ihn ein Individuum nennen, dem eine ferne Abspiegelung der analogia entis in besonders hervorstechender Weise als persönliche Eigenschaft innewohnt…Man möchte beinahe sagen, er sei so etwas wie ein geborener Thomist.“ (Doderer 1996 S 167).
Gerade dieser Thomismus Doderers setzt aber die feinsäuberliche Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf voraus. Aus dieser lässt sich eine ebensolche notwendige Auseinanderhaltung von Verursachendem – als welches das anzusehen ist, was sich zeigen will – und dem, was dem sich zeigen Wollenden zum Zwecke des Sich-Zeigens als Werkzeug dient, ableiten.
Gemäß den wittgensteinischen Annäherungen kann demnach Doderers Vorgehensweise als ein Plaidoyer für eine solche notwendige Auseinanderhaltung verstanden werden
Denn : Der Romancier, welcher nicht den Tatsachen den Arschlecker machen möchte, geht seinen Werkzeugen nicht auf den Leim, lässt sich von ihnen nicht dazu verleiten, sie als Phänomene der Verursachung hoch zu stilisieren und damit zu verkennen. Vielmehr weiß er sie in deren Eigenschaft als Werkzeug im Sinne der Herbeiführung eines „Sich-Zeigens“ zu handhaben. Und solche wittgensteinischen Annäherungen können die Vermutung der deutschen Literaturwissenschaftlerin Helga Blaschek-Hahn plausibel erscheinen lassen, „daß Doderers Dichtung auf poetischem Felde leistet, was Wittgenstein auf philosophischem gelang.“ (Blaschek-Hahn 1991 S 26).
Literatur
- Blaschek-Hahn, Helga 1991: Übergänge und Abgründe. Phänomenologische Betrachtungen zu H. v. Doderers Roman „Die Wasserfälle von Slunj“. Würzburg, Unipress, Reihe Philosophie.
- Doderer, Heimito von 1969: Repertorium. München, Biederstein.
- Doderer, Heimoto von 1995/1: Die Wasserfälle von Slunj. München, Beck.
- Doderer, Heimito von 1995/2: Die Erzählungen. München, Beck.
- Doderer, Heimito von 1996: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze / Traktate / Reden. Beck, München.
- Engelmann, Paul 1970: Ludwig Wittgenstein. Briefe und Begegnungen. Herausgegeben von Brian McGuinness. Wien und München. R. Oldenbourg.
- Weber, Dietrich 1995: Fatologisches Gewebe. Wuppertal.
- Wittgenstein, Ludwig 1984/1: Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Erste Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
- Wittgenstein, Ludwig 1984/7: Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Vorstudien zum zweiten Teil der philosophischen Untersuchungen. Herausgegeben von G.H. von Wright und Heikki Nyman. Werkausgabe Band 7. Erste Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
- Wittgenstein, Ludwig 1989: Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8. Dritte Auflage, Frankfurt/M, Suhrkamp.
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