Abstract
In diesem Referat analysiere ich den Begriff der Form der Wirklichkeit, wie er in Wittgensteins Tractatus auftritt. Diesen Begriff untersuche ich im Kontext der Unterscheidung von „Wirklichkeit“ und „Welt“. Ich weise hin auf die grundlegende Spaltung in Sprache und Wirklichkeit/Welt, deren Quelle das Subjekt ist. Die Form der Wirklichkeit ist das, was identisch ist; sie erweist sich als innere Relation, und das Subjekt nicht ihre Repräsentation hervorbringen. Ich plädiere für die transzendentale Interpretation des Tractatus.
Table of contents
Einleitung
In diesem Referat analysiere ich den Sinn der Bezeichnung „Form der Wirklichkeit” aus These 2.18 von Wittgensteins Tractatus. Die Form der Wirklichkeit bildet, wie es scheint, den Kern der Wirklichkeit. Die Schwierigkeit beruht darin, dass dieser Begriff in Nachbarschaft anderer Begriffe mit scheinbar ähnlicher Bedeutung steht: „Form der Abbildung“, „Form der Darstellung“ oder „logische Form“. Was nun unterscheidet die Form der Wirklichkeit von den übrigen Formen?
Zweifel begleiten auch Wittgensteins Auffassung des Begriffs der „Wirklichkeit”, insbesondere bezüglich der rätselhaften Unterscheidung von „Wirklichkeit” und „Welt” (TLP 2.04; 2.05; 2.06; 2.063).
Die Reihenfolge meiner Überlegungen ist folgende: Zuerst erörtere ich verschiedene Arten des Verständnisses der Wirklichkeit. Danach versuche ich zu bestimmen, welche Arten des Verständnisses der Wirklichkeit im Tractatus auftreten. Schließlich stelle ich die Frage nach der hinreichenden Begründung für die Berechtigung der Wittgensteinschen Unterscheidung von „Wirklichkeit“ und „Welt“. Im zweiten Teil erörtere ich den Begriff „Form der Wirklichkeit“ vor dem Hintergrund der Methode der so genannten Sinnprojektion. Zum Abschluss stelle ich die Frage, ob der Begriff der Repräsentation im Tractatus für eine transzendentale Interpretation spricht oder für eine realistische.
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Die Wirklichkeit – wie leicht festzustellen ist – kann verschiedenartig aufgefasst werden. Der Begriff „Wirklichkeit“ bzw. „wirklich” offenbart seine Bedeutungsnuancen, wenn er Gegenbegriffen gegenübergestellt wird. So lassen sich etwas die folgenden Begriffspaare unterscheiden:
- (1) Wirklichkeit – Fiktion (Nichtwirklichkeit)
- (2) Wirklichkeit – Erscheinung
- (3a) Wirklichkeit – Möglichkeit
- (3b) Wirklichkeit – Notwendigkeit
- (4) Wirklichkeit – Erfahrung
- (5) Wirklichkeit als Wahrheit – Nichtwirklichkeit als Falschheit
- (6) Wirklichkeit als das, was handelt – Ergebnis des Handelns
In einem kurzen Kommentar zu einigen der oben genannten Unterscheidungen sind folgende Punkte zu beachten: In Fall (2) kann man vom Begriff der Dinge in ihrem Wesen ausgehen in Opposition zu dem, was gewissermaßen an ihrer Oberfläche liegt, sekundär ist (entsprechend der Kantschen Unterscheidung „Dinge an sich“ – „Phänomene“). In den Fällen (3a) und (3b) ist sichtbar, dass der Begriff der Wirklichkeit mit dem Begriff des Bestehens, der Existenz verknüpft ist; darüber hinaus ist die Wirklichkeit das, was der Fall ist (Tatsche/Ereignis) im Gegensatz zur reinen Möglichkeit, dass ein Fall eintritt, und zu den Gesetzen, gemäß derer Ereignisse eintreten. Die Wirklichkeit steht hier dem Sein gegenüber, da wir im Fall des letzteren Begriffs vom Bestehen/Nichtbestehen abstrahieren, was bedeutet, dass der Begriff des Seins sich gegenüber dieser Unterscheidung neutral verhält. Hegel wiederum definiert in seiner Wissenschaft der Logik die Wirklichkeit als „Einheit von Wesen und Existenz“, was darauf hinweist, dass Existenz selbst an sich nur ein abstrakter Moment einer gewissen Gesamtheit ist. Bradley hingegen – ähnlich wie Hume – unterstreicht die wesenhafte Identität von Erscheinung und Wirklichkeit; die Wirklichkeit ist nichts anderes und nicht mehr als die Gesamtheit der Erscheinungen.
Welche Anschauung von der Wirklichkeit tritt im Tractatus auf? Auf den ersten Blick mag scheinen, dass nach Wittgenstein Welt und Wirklichkeit eins sind. Die Welt als Gesamtheit der Tatsachen (TLP 1.1) ist dem gegenübergestellt, was rein möglich ist, das heißt dem logischen Raum (TLP 1.13). Wittgenstein bedient sich eines Begriffs der „Welt“, der sein Verständnis als „mögliche Welt” ausschließt. Die Welt ist demnach das, was wirklich ist, im Gegensatz zum logischen Raum, also dem, was möglich ist, und in Hinsicht auf das, was notwendig ist, also zur Tautologie. Weiterhin wird die Welt als „Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte“ definiert (TLP 2.04). So könnte es scheinen, dass dieses existenzielle Moment – das Bestehen – ein Synonym zu „wirklich sein“ darstellt, dass also Welt und Wirklichkeit für Wittgenstein identisch sind.
Jedoch wird die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Welt durch zwei andere Thesen des Tractatus problematisiert: „Das Bestehen Und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit. (Das Bestehen von Sachverhalten nennen wir auch eine positive, das Nichtbestehen eine negative Tatsache.)“ (TLP 2.06) „Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt.” (TLP 2.063) These 2.06 suggeriert, dass die Wirklichkeit in einem bestimmten Sinn mehr ist als die Welt, wohingegen These 2.063 deutlich feststellt, dass die Wirklichkeit nicht über die Welt hinausreicht; man kann nicht von irgendeiner Transzendenz (im starken Sinne) der Wirklichkeit gegenüber der Welt sprechen. Wittgenstein gibt einen Hinweis, wie der begriffliche Unterschied zwischen Welt und Wirklichkeit zu verstehen ist „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.” (TLP 2.04) „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte bestimmt auch, welche Sachverhalte nicht bestehen.” (TLP 2.05) Anders gesagt, die nicht bestehenden Sachverhalte – die für den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Welt entscheidend sind, tauchen gewissermaßen automatisch auf; sie sind ein Nebenprodukt einer vollständigen Erfassung der Welt.
Als entscheidender Punkt, was den Unterschied zwischen Welt und Wirklichkeit anbelangt, erweist sich der Begriff der Negation. Eine Konsequenz daraus ist die besondere Weise des Erfassens der Welt. Wenn wir von den bestehenden und nichtbestehenden Sachverhalten sprechen, unterscheiden wir die Welt (die Gesamtheit der positiven Tatsachen) und ihren „Schatten“, ihre Ergänzung (die Gesamtheit der negativen Tatsachen). Dank dieser Negation wird der Antagonismus von Existieren – Nichtexistieren (der Sachverhalte) zunächst begründet, um daraufhin im Rahmen des Wirklichkeitsbegriffs „aufgehoben“ zu werden (um mit Hegel zu sprechen).
Wittgenstein behauptet, dass das Subjekt nicht zur Welt gehört (TLP 5.632), sondern seine Bedingung darstellt. Kann man diesem Subjekt die Durchführung der Operation der dualen Einteilung und der Reflexion zuschreiben? Mit anderen Worten: Ist das Subjekt als „Grenze der Welt“ und Bedingung der Welt nur/lediglich ein abstraktes Moment der Welt? Oder ist das Subjekt ein authentisch handelndes metaphysisches Sein? An dieser Stelle ergeben sich weitere Interpretationen. Nach der ersten ist das Subjekt die Sprache als Gesamtheit der Sätze (Hintikka 1958). Die zweite Interpretation, die an die Lesart der Thesen des Tractatus durch das Prisma der Metaphysik Schopenhauers anknüpft, erkennt das Subjekt als Subjekt des Willens (Birk 2006). Wie dem auch sei, entweder (1) in der Sprache als Subjekt ist die begriffliche Unterscheidung von Welt und Wirklichkeit enthalten, oder (2) das denkende transzendentale/metaphysische Subjekt ist Voraussetzung nicht nur der Welt, sondern auch der begrifflich von der Welt unterscheidbaren Wirklichkeit.
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Zuweilen wird die Welt nicht von der Wirklichkeit unterschieden (Mc Guinness 1981) und werden diese Begriffe synonym gebraucht. Wittgenstein jedoch bedient sich der Begriffe „Form der Welt“ und „Form der Wirklichkeit“, die er deutlich voneinander abgrenzt, was auf einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Begriff der Welt und dem Begriff der Wirklichkeit hinweist. Die Form der Welt sind die Gegenstände (TLP 2.022; 2.023), die seine Substanz bilden (TLP 2.021). Der Begriff der Welt und seiner Form beinhaltet jedoch keine Dimension, die aus dem Auftreten der Repräsentation sich ergeben würde. In These 2.1 stellt Wittgenstein fest: „Wir machen uns Bilder der Tatsachen.“ Unter dem Gesichtspunkt des empirischen Realismus bedeutet dies, dass der Mensch als konkretes empirisches, erkennendes Subjekt eine Art Verdoppelung oder Spaltung der Welt vollzieht. Um mit den Worten Whiteheads zu sprechen, bedeutet diese „Bifurkation“, dass die ursprüngliche Gesamtheit in Fakten (Originale) und ihre Repräsentationen zerfällt. Bei transzendentaler Betrachtung jedoch sind sowohl die Tatsachen/Situationen in der Welt als auch ihre Bilder Tatsachen (TLP 2.141). Es gilt also die transzendentalen Voraussetzungen zu untersuchen, die jene Spaltung ermöglichen und bestimmen, die also die Möglichkeiten des Auftretens von Tatsachen zweifacher Art bedingen. Unabdingbar dazu sind die Begriffe des transzendentalen (oder metaphysischen) Subjekts (TLP 5.633), der Wirklichkeit (TLP 2.06) und der Form der Abbildung (TLP 2.15 -2.151). Der Begriff der Wirklichkeit, der es erlaubt, den zweifachen Aspekt der Welt – den positiven und den negativen – auszudrücken, sowie der Begriff der Form der Wirklichkeit stecken eine rein transzendentale Perspektive ab, die es erlaubt, den ganzen Nuancenreichtum in den Relationen von „Bild“ und „Tatsache“ darzustellen. Kurz gesagt, „Negation“, „Bestehen“ und „Identität“ sind reflexive Begriffe, die erst aus der transzendentalen Perspektive, in welcher der Begriff der Wirklichkeit gründet, sich vollständig artikulieren lassen.
Die „Form der Wirklichkeit“ gehört zu den schwierigsten Begriffen im Tractatus. Er verweist auf die „Form der Abbildung und die „logische Form“. Die „Form der Welt“ hingegen verweist auf die Form der einfachen Gegenstände (TLP 2.0141; 2.026). Die „Form der Wirklichkeit“ begründet demnach die Spaltung/Bifurkation der Welt, die „Form der Welt“ nicht.
Die Form der Wirklichkeit ist – durch die Form der Abbildung mit dem Begriff der Identität verknüpft. „Die Tatsache muss, um Bild zu sein, etwas mit dem Abgebildeten gemeinsam haben.” (TLP 2.16) „In Bild und Abgebildeten muß etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.” (TLP 2.161) „Was das Bild mit der Wirklichkeit gemein haben muß, um sie auf eine Art und Weise – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist seine Form der Abbildung.” (TLP 2.17)
In den Thesen 2.17 - 2.18 behauptet Wittgenstein: Logische Form und Form der Wirklichkeit sind ein und dasselbe. J. Hintikka meint, dass diese Behauptung eines Beweises bedürfe. (Hintikka 1996, 161). Wittgenstein liefert keine ausführliche Argumentation, die sich als Beweis ansehen ließe. Man kann jedoch versuchen einen solchen Beweis zu skizzieren. Die „logische Form“ ist ein Begriff, der auf Sätze, Urteile anzuwenden ist. In These 3.315 beschreibt Wittgenstein die Prozedur der Verwandlung in Variablen, durch die wir die logische Form gewinnen, die er auch als „Urbild“ bezeichnet. Diese Auffassung der logischen Form hat Wittgenstein von Russell entlehnt (Russell 1992, 113). Die logische Form ist demnach eine Art Schema, das eine „Klasse von Sätzen“ generiert, also einen konkreten Satz ermöglicht. Die logische Form situiert sich auf der Seite der Sprache und des Denkens; ein Gedanke nämlich ist ein „sinnvoller Satz“ (TLP 4).
Auf der anderen Seite haben wir die Wirklichkeit, die sich aus positiven und negativen Tatsachen – bestehenden und nicht bestehenden Sachverhalten – zusammensetzt. Die Möglichkeit des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten hingegen ist eine Form der Wirklichkeit. Die logische Form ist eine syntaktisch bestimmte Form, wohingegen die Form der Wirklichkeit ontologisch bestimmt ist. Die Identität beider Formen wird durch die Form der Abbildung gewährleistet. Letztere gründet sich auf „Zuordnungen“ (TLP 2.1513 - 2.1515) unter der Bedingung, dass „die gleiche Mannigfaltigkeit“ der Strukturelemente auftritt (TLP 4.04). Die Hauptvoraussetzung für die Identität der logischen Form und der Form der Wirklichkeit kommt in der folgenden These zum Ausdruck: „Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.” (TLP 4.0312) Wenn eine Repräsentation der Gegenstände/Tatsachen unmöglich wäre, würde die Sprache nicht die Welt/Wirklichkeit repräsentieren. Angesichts dieser Tatsache wäre die logische Form nicht die Form der Wirklichkeit.
Die logische Form, das heißt die Form der Wirklichkeit, ist nichts Drittes, also unterschiedlich sowohl vom Satz als Bild der Wirklichkeit wie auch von der abgebildeten Tatsache. Entschieden lehnt Wittgenstein die an den Platonismus anknüpfende Auffassung ab, wie sie bei Russell zu finden ist. Dieser betrachtete in seiner Theory of Knowledge die logischen Formen für eigene Seinsformen, die – analog zu den platonischen Ideen – den Urteilen/Sätzen Einheit verleihen (Russell 1992, 116). Russells Standpunkt führt zu einem infiniten Regress.
Wittgensteins Lösung des Problems der Natur der logischen Form ist eher im Stil Aristoteles‘ als Platons. Der Beweis der Identität der logischen Form der Sätze und der Formen der Wirklichkeit erfordert eine Berufung auf den transzendenten Punkt hinsichtlich des Satzes und der Tatsache, in dem sich die Identität beider Formen erkennen lässt. Jedoch sind diese Formen selbst (oder eigentlich dieselbe Form!) gegenwärtig im Satz und in der Tatsache. Wittgenstein sagt nämlich, dass die Form sich nicht darstellen oder aussprechen lässt, sondern sich im Satz „spiegelt“ (TLP 4.121). Angesichts dessen ist das einzige, was man tun kann, sie zu „sehen“, sie als dieselben zu zeigen. Dieser transzendentale Punkt, in dem man einen solchen Vergleich vollziehen und die Identität der beiden Formen feststellen kann, ist das transzendentale Subjekt, also das philosophische Ich. (TLP 5.641)
Ähnlich wie Aristoteles betrachtete es den Intellekt als „Ort der Form“ – denn er vermag es die Form vom Gegenstand zu abstrahieren. So ist das metaphysische Subjekt im Stande die Identität der Strukturen des Bildes, also der Sätze, und der Tatsache zu erkennen. „Die Wirklichkeit wird mit dem Satz verglichen.” (TLP 4.05) Das Problem der Möglichkeit des Vergleichs der Wirklichkeit mit einem Satz ist seinem Wesen das Problem der Identität der logischen Form, das heißt der Form der Wirklichkeit. „Auf den ersten Blick scheint der Satz – wie er etwa auf dem Papier gedruckt steht – kein Bild der Wirklichkeit zu sein, von der er handelt. Aber auch die Notenschrift scheint auf den ersten Blick kein Bild der Musik zu sein...” (TLP 4.011) Die „innere Ähnlichkeit” des Satzzeichens und der Tatsache, also die Identität der logischen Form, ist nicht etwas Natürliches, sondern wird garantiert dank einer Regel, die von Wittgenstein als „Projektionsmethode“ bezeichnet wird (TLP 4.0141). Mit anderen Worten, nur dank der Projektionsmethode lässt sich die gleiche Struktur des Satzes und des Sachverhalts erkennen. Jenes ungreifbare etwas – die logische Form, das heißt die Form der Wirklichkeit – ist nicht möglich ohne das metaphysische Subjekt und die transzendentale Regel, also die Projektionsmethode. Das, was identisch ist, ist eben jene Form (TLP 4.04), die sich nicht „abbilden“ oder „darstellen“ lässt (TLP 4.041; 4.12; 4.121).
Die Frage kehrt zurück: Warum eigentlich lässt sich die logische Form nicht darstellen? Wittgenstein gibt natürlich eine Antwort, die aber eher ein Hinweis zum Weiterdenken ist als eine endgültige Lösung. Er stellt fest: „Um die logische Form darstellen zu können, müßten wir uns mit dem Satze außerhalb der Logik aufstellen können, das heißt außerhalb der Welt.“ (TLP 4.12). Es könnte scheinen, dass das Subjekt, eben dadurch, dass es sich der Regeln der Interpretation bedient (Projektionsmethode), diese außerweltliche Position einnimmt. Dann jedoch könnte das Subjekt wohl die logische Form darstellen. Da aber eine solche Lösung von Wittgenstein ausgeschlossen wird, könnte dies entweder (1) eine totale Kritik des Begriffs des Subjekts oder (2) eine innere Inkohärenz im Tractatus bedeuten. (Haller, 1989). Ist es also für irgendein Subjekt möglich, auf die Welt „sub specie aeterni” zu blicken (TLP 6.45), oder ist dies nur ein unerfüllbarer Traum?
Das transzendentale Subjekt, das sich der Projektionsmethode bedient, und die logische Form / die Form der Wirklichkeit zu zeigen und zu sehen vermag, ist jedoch nicht im Stande diese Form darzustellen. Als Grenze und Bedingung der Welt/Wirklichkeit ist es selbst etwas Sekundäres, ein Produkt der Spaltung, der Bifurkation, des ursprünglichen Ganzen. Davon spricht These 5.64, wo das „Ich“ auftaucht, also ein „ausdehnungsloser Punkt“ sowie „die ihm koordinierte Realität“. Andererseits ist gemäß These 5.63 das Subjekt – Ich – mit der Welt identisch. Die logische Form, die Form der Wirklichkeit ist das, was identisch ist (für Welt und Denken/Subjekt). Aber Identität setzt Unterschied voraus und Unterschied – Identität. Dies ist der der Unterschied zwischen Momenten desselben, das heißt des ursprünglichen Ganzen.
Wittgenstein hebt hervor, dass „die Identität keine Relation zwischen Gegenständen ist” (TLP 5.5301) und fügt hinzu: „Beiläufig gesprochen: Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.” (TLP 5.5303) Diese Thesen belegen, dass Wittgenstein die Identität ähnlich versteht wie Parmenides und Frege. Identität – im engeren Sinne – kann nur im Rahmen eines Ganzen auftreten, in dem zwei gegensätzliche Momente unterschieden werden können. Parmenides verkündet: „Denn dasselbe ist Denken und Sein.” Sein und Denken sind nicht zwei gesonderte Gegenstände, sondern Aspekte des Einen. So ähnlich sind Abend- und Morgenstern zwei verschiedene Aspekte, verschiedene Perspektiven, in denen wir denselben Gegenstand, den Planeten Venus, sehen, sagt Frege.
Die Wirklichkeit hat eine solche Natur, dass sie, beginnend mit dem ursprünglichen Ganzen, also dem Einen, sich durch die Spaltung entfaltet und dadurch die in ihr steckenden verschiedenen Momente offenbart, woraufhin die Spaltung aufgehoben wird; das bedeutet, die gegensätzlichen Momente Sprache/Gedanke und Tatsachen/Welt werden erneut miteinander gleichgesetzt. Dieser zweite Schritt jedoch – jene Gleichsetzung dessen, was zuvor voneinander geschieden war – lässt sich nicht in der Sprache ausdrücken. Er lässt sich sehen, „zeigen“, aber nicht aussprechen – so sieht es Wittgenstein.
Sprache und Welt, Subjekt und Wirklichkeit, sind zwei Gegenpole desselben. Die Identität, die zwischen diesen Polen besteht, ist keine Relation im eigenen Sinn, also ein äußerer Bezug (external relation), sondern eine uneigentliche Relation, also ein innerer Bezug (internal relation) (TLP 4.122), transzendental im scholastischen Sinn. Jene Quasi-Relation, also die Identität, ist die die logische Form und die Form der Wirklichkeit, die erkannt wird als Grundlage der Einheit der Einzelmomente im ursprünglichen Ganzen. Gleichzeitig offenbart sich diese Identität als Form der Wirklichkeit dank der Spaltung des ursprünglichen Ganzen, des Einen. Es gibt keine Form der Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit, das bedeutet, die Form der Wirklichkeit – die logische Form – ist nicht von außen oktroyiert dem, was wir Wirklichkeit nennen. Wittgenstein geht den von Aristoteles vorgezeichneten Weg, nicht den Platons und Russells.
Schlussbemerkungen
Ist Wittgenstein ein Realist? Das heißt: Sind Wirklichkeit (Welt) und Sprache (Gedanke) nach der im Tractatus dargelegten Konzeption gegenseitig autonom und lediglich im transzendentalen Subjekt zusammengefügt? Mit anderen Worten, ist die Relation zwischen Wirklichkeit und Sprache eine äußere Relation im Russelschen Sinn? Diese Ausführungen haben gezeigt, dass dem nicht so ist. Es lässt sich hingegen von einer gegenseitigen Abhängigkeit von Sprache und Wirklichkeit sprechen, und die Wirklichkeit erweist sich als Funktion der Natur der Sprache selbst (Morrison 1968, 29). Dies bestätigt die transzendentale Interpretation des Tractatus.
Literatur
- Birk, Andrea 2006 Vom Verschwinden des Subjekts, Paderborn
- Haller, Rudolf 1989 „Bemerkungen zur Egologie Wittgenteins”, [in:] Grazer Philosophische Studien 33/34, 353-373
- Hintikka, Jakko 1958 „On Wittgenstein’s Solipsism”, [in:] Mind 67, 88-91
- Hintikka, Jakko 1986 Untersuchungen zu Wittgenstein, Frankfurt am Main
- McGuinness, Brian 1981 „Der sogenannte Realismus in Wittgensteins Tractatus”, [in:] Sprache und Erkenntnis, R. Haller (Hrsg.), 23-34, Wien
- Morrison, James 1968 Meaning and Truth in Wittgenstein’s Tractatus, The Hague
- Russell, Bertrand 1992 Theory of Knowledge, London New York
- Wittgenstein, Ludwig 1984 Tractatus logico-philosophicus. Werksausgabe Band 1, Frankfurt am Main
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