Hesiods Thaumas und Platons Mythos von den Zikaden: Bilder für Wittgensteins Staunen
Hesiods Thaumas und Platons Mythos von den Zikaden: Bilder für Wittgensteins Staunen

Abstract

Wittgensteins hohe Bewertung von Kunst und Literatur als Medien, sich dem „Unaussprechlichen“ zu nähern, ist bekannt. Während er selbst betonte, wenige Philosophen gelesen zu haben und sich insgesamt über philosophische Werke kritisch äußerte, bekundete er in schriftlichen Auf-zeichnungen und in Gesprächen mit Freunden seine Sympathie für Werke der Literatur – insbesondere auch für Märchen sowie Volkserzählungen, die seiner Meinung nach „für alle Völker“ (Drury, 129) geschrieben worden, daher von universaler Bedeutung seien. Häufig wies er auf russische Autoren wie Tolstoi und Dostojewski hin, seine Beziehung zur Antike – abgesehen von mehreren Anspie-lungen auf Sokrates, Platon und Heraklit – ist hingegen wenig erforscht.

Table of contents

    Hesiods Thaumas und Platons Mythos von den Zikaden:
    Bilder für Wittgensteins Staunen

    Wittgensteins hohe Bewertung von Kunst und Literatur als Medien, sich dem „Unaussprechlichen” zu nähern, ist bekannt. Während er selbst betonte, wenige Philosophen gelesen zu haben und sich insgesamt über philosophische Werke kritisch äußerte, bekundete er in schriftlichen Aufzeichnungen und in Gesprächen mit Freunden seine Sympathie für Werke der Literatur – insbesondere auch für Märchen sowie Volkserzählungen, die seiner Meinung nach „für alle Völker“ (Drury, 129) geschrieben worden, daher von universaler Bedeutung seien. Häufig wies er auf russische Autoren wie Tolstoi und Dostojewski hin, seine Beziehung zur Antike – abgesehen von mehreren Anspielungen auf Sokrates, Platon und Heraklit – ist hingegen wenig erforscht.

    Mit Bezug auf das Thema des diesjährigen Wittgenstein-Symposiums möchte ich im Folgenden über Bilder der griechischen Mythologie sprechen, die aus meiner Sicht für Wittgensteins Philosophieren in mehrfacher Hinsicht relevant sind: Zum einen für dessen ‚staunende‘ Betrachtung der Welt, zum anderen für dessen Präferenz für Bilder – Metaphern, Gleichnisse usw. – deren Bedeutung er insbesondere in späteren Jahren anstelle rationaler Erklärungsversuche im Bereich des verbal und wissenschaftlich schwer Zugänglichen hervorhob. Als dritter Aspekt sei das sinnliche, anschauliche Element bei Wittgenstein und den Griechen erörtert.

    I. Thaumas und Iris bei Hesiod

    In seiner Theogonie (Die Entstehung der Götter oder Vom Ursprung der Götter) nennt Hesiod den „gewaltigen Thaumas” (vom Stamm thaum: das Staunen) – ein Kind des Meeres (Pontos) und der Erde (Gaia).1 Bereits in der Antike wurde Thaumas mit dem Wort thauma (Wunder) in Verbindung gebracht. Dessen Tochter Iris (der Name leitet sich vom griechischen Wort Iris für Regenbogen als auch von Eiris für Bote ab) steht als Botin zwischen der Welt der Menschen und der Götter. Bekannterweise haben sowohl Platon als auch Aristoteles in ihren Bemerkungen über das Staunen als Anfang des Philosophierens auf Hesiods mythologische Darstellung hingewiesen.

    Im Hinblick auf die Bedeutung des Kosmos für die griechische Antike ist es nicht schwer zu verstehen, dass das Phänomen des Staunens als Kind des Meeres und der Erde dargestellt und dessen Tochter, Iris, aus dem Bild wechselnder Lichtverhältnisse und Farben erklärt wurde. Darin enthalten sind sowohl ruhende Betrachtung bzw. Schau – Bewunderung – als auch reges Beobachten der Veränderungen, die zu einer fragenden Verwunderung führen – beide Bestandteile des philosophischen Staunens. Dass Thaumas in der Spätantike auch als Vater des Flussgottes Hydaspes gedeutet wurde, könnte meines Erachtens in Zusammenhang mit dem Staunen über die steten Veränderungen bzw. das Fließen des Flusses, somit auch Heraklits Panta rhei, gesehen werden.

    Bereits vor Hesiod wird im Denken der antiken Dichter wie Homer und Solon eine Haltung der Bewunderung vor der Schönheit des Kosmos deutlich, der zufolge Kroner im Verweis auf Hegel die Religion der Griechen als eine „Religion der Schönheit” zu bezeichnen sei. „Die Darstellung der griechischen Götter hatte zum Gesetz die Schönheit, die zum Geistigen gesteigerte Natur.“2 Die Verehrung der Götter sei im Grunde eine Verehrung der Schönheit der phänomenalen Welt gewesen, im Polytheismus der Griechen demnach implizit ein Pantheismus enthalten.

    Die mythologische Deutung des Kosmos wich mit der Zeit einem Fragen wissenschaftlich-rationaler Art, wie es bei den milesischen und späteren Naturphilosophen zu beobachten ist. Doch bereits Hesiod ging vom homerischen Denken in Bildern einen Schritt weiter, indem er den Musen die Fähigkeit zusprach, nicht nur das „Trügliche, dem Wahren Ähnliche” zu sagen, sondern auch die Wahrheit selbst im Sinne der Unverborgenheit (aletheia), womit laut Schadewaldt ein Beginn des Philosophierens gesehen werden könne (Schadewaldt, 85f.).

    Trotz des allmählichen Übergangs vom Mythos zum Logos finden sich auch bei späteren Denkern der Antike häufig Bilder, um philosophische Fragestellungen sozusagen zu ‚erhellen’. Platon, der gegenüber dem Mythos als einem Werk des Dichters, das immer Falsches – wenn auch Wahres – enthält3, zwar eine kritische Haltung einnimmt, verwendet immer wieder Gleichnisse, Metaphern, Bilder, wie sie auch in Mythen vorkommen. Es soll hier weniger auf klassische Beispiele wie das Höhlengleichnis eingegangen werden, als vielmehr auf den Mythos von den Zikaden, der für das zur Diskussion stehende Thema des Philosophierens als Akt des Staunens bedeutsam ist.

    Die vorhin angesprochenen Aspekte des Staunens – schweigende Betrachtung und neugieriges Fragen – sind auch bei Wittgenstein zu beobachten: Erstere zeigt sich insbesondere im Tractatus (in der mystischen Annäherung an die Welt außerhalb des Tatsachenraumes) und im Vortrag über Ethik (im Staunen „über die Existenz der Welt“), während der bewegte Zugang und das stete Fragen vor allem in späteren Jahren bei der Untersuchung der unterschiedlichen Aspekte der Objekte der phänomenalen Welt sowie der Wörter im alltäglichen Gebrauch zum Ausdruck kommen.

    Dabei verwendet Wittgenstein fiktive Beispiele oder Bilder und macht auf nicht verbale Ausdrucksformen wie Mimik, Gestik und dergleichen aufmerksam. Sein Appell „denk nicht, sondern schau!” (PU, § 66) soll den Leser vom abstrakten Denken und Räsonieren zu einer genauen Bobachtung des sinnlich Wahrnehmbaren, auch einer Art der Betrachtung in Bildern führen. Wesentlich dabei ist ein ganz in der Gegenwart stehendes Wachsein und Aufgehen in der philosophischen Untersuchung des konkret Gegebenen, wobei der Vorstellung einer Idee im Platonischen Sinne eine Absage erteilt wird. Anstelle einer metaphysischen Betrachtung der Dinge fordert Wittgenstein, das „Urbild“ in den „hausbackenen“ Fällen der Erscheinungen zu suchen. Denn es solle „das Bild sein womit wir die Wirklichkeit vergleichen, wodurch wir darstellen, wie es sich verhält. Nicht, ein Bild wonach wir die Wirklichkeit umfälschen“ (DB, 163f). In seiner Auseinandersetzung mit dem Anspruch der „Kristallreinheit“, die die Logik fordert, und die im Widerspruch zur tatsächlichen Sprache steht, appelliert Wittgenstein dafür, auf den „rauhen Boden“ zurück zu kehren (PU, § 107).4 Doch es fällt ihm schwer, die „Brille“ abzunehmen (PU, § 103), durch die wir die Dinge – mit einer uns vorschwebenden Idee – betrachten. Trotzdem setzt er alles daran, um die Dinge von ihrer „metaphysischen Verwendung“ durch die Philosophen wieder auf ihre „gewöhnliche“ zurückzuführen:

    Zu „Idealer Name“ & Ursprung des Ideals gehört die Bemerkung daß wir die Wörter die der Philosoph in Metaphysischer Weise verwendet ihrer gewöhnlichen Verwendung wieder zuführen.
(MS 157b, 14v. Vgl. auch PU, § 116)

    Trotz der Kritik an Platon gibt es meines Erachtens einige Aspekte, die zum Vergleich mit diesem herangezogen werden könnten, auf die in diesem Rahmen jedoch nicht näher eingegangen werden kann; im Hinblick auf die Bedeutung von Bildern und Wittgensteins Philosophieren im Sinne einer staunenden Haltung soll jedoch, wie erwähnt, der Mythos von den Zikaden erörtert werden.

    II. Der Mythos von den Zikaden in Platons Phaidros

    Bei seinem Gang mit Phaidros, der Sokrates an den Rand der Stadt hinausführt, nehmen die beiden Platz im Schatten einer Platane, um zu philosophieren. Als in Folge der Hitze Phaidros Müdigkeit überkommt, warnt ihn Sokrates, einzuschlafen und weist auf den unaufhörlichen Gesang der Zikaden hin: Diese, so Sokrates, seien einer Legende nach vor langer Zeit Menschen gewesen, die bei der Entstehung der Musen so hingerissen waren, dass sie alles andere darüber, selbst Essen und Trinken, vergaßen, nur mehr sangen und dann starben. So entstand das Geschlecht der Zikaden, das die Gabe besitzt, ohne Essen und Trinken auszukommen, um tagaus, tagein auf den Bäumen zu sitzen und unentwegt zu singen, ungeachtet der sommerlichen Hitze, bei der die übrigen Menschen Siesta halten und schlafen. Diese Hingabe und Selbstvergessenheit in Anbetracht der Musen sind im Grunde Merkmale des Musik und Poesie liebenden Menschen wie auch des Staunenden vor der Schönheit des Kosmos, die ihn zu Gesang, Dichtung und Philosophie inspiriert. Dass die Musen in der griechischen Mythologie als Töchter des Zeus und der Mnemosyne (Erinnerung) dargestellt werden, zeugt vom hohen Stellenwert der Poesie – als vom höchsten Gott stammend und im Gedächtnis der Menschen bleibend.

    Wie Iris als Botin zwischen den Menschen und den Göttern steht, so agieren die Zikaden in ähnlicher Weise als „Mittlerinnen“, indem sie den Musen berichten, welche von den Menschen diese verehren. Der Terpsichore melden sie die, welche sie in den Reigentänzen ehrten, der Erato, welche sie durch Liebesgesänge feierten usw. Der Kalliope aber, der Ältesten, und Urania, der dieser am nächsten Stehenden, melden sie die, „welche in Philosophie leben und ihre Musenkunst ehren, denn diese, unter den Musen besonders dem Himmel und den göttlichen und menschlichen Reden obwaltend, lassen die schönste Stimme tönen …“ (Phaidros, 259B). Aus all diesen Gründen dürfen die Philosophen zur Mittagszeit nicht schlafen, sondern müssen wach sein und reden, so Sokrates. Damit zeigt sich der Unterschied zum ‚normalen‘ Menschen, den weder die Schönheit des Kosmos noch der Künste zu Begeisterung hinreißt und seine Kreativität weckt, sondern der den Schlaf vorzieht, sich mehr oder weniger wie ein Blinder gegenüber dem ihn Umgebenden verhält.

    Wach sein, beobachten, staunen und darüber philosophieren – diese Eigenschaften sind auch bei Wittgenstein festzustellen. Das aufmerksame Beobachten und rege Zugehen auf die Objekte seiner Betrachtung zeichnen insbesondere seine philosophischen Untersuchungen der späteren Jahre aus, während die bewundernde Haltung der frühen Jahre zu einem mystisch anmutenden Schweigen führt.

    III.

    Die Selbstvergessenheit bis zur Rauschhaftigkeit, die zu schöpferischer Tätigkeit führt, kommt auch in Sokrates‘ Preisrede auf den Eros zum Ausdruck. Die größten aller Güter werden uns „durch den Rausch zuteil, wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird”, so Sokrates. (Phaidros, 243E). Der Rausch sei nicht zu verurteilen, sondern notwendig, um Wahres zu schaffen; diejenigen ohne Rausch seien bloß Nachahmer, Dichter niederen Ranges. Nur die Berauschten seien geweiht, die Vernünftigen ungeweiht. Auch die Liebe ist göttliche Begeisterung, sie entzündet sich am Schönen, wobei die Seele durch stufenweise Schritte der Erkenntnis schließlich das vor ihrem Eintritt in den Körper geschaute Wahre und Vollkommene erkennt, somit zu philosophischer Erkenntnis gelangt.

    In einem Gespräch mit Ludwig Hänsel über Dostojewski, das Christentum und die Antike weist auch Wittgenstein auf das Rauschhafte, Dionysische bei den Griechen hin.

    13.Okt. Wittgenstein sagte: Dostojewski habe viel von den Alten, er sei antik (das von dem Gegensatz zwischen Antike u. Christentum sei überhaupt Geschwätz) – antik wie Plato allenfalls, meinte ich – sonst könnte ich ihn mir nicht denken. Dionysisch, nicht apollinisch. Nicht antik wie Goethe sich die Antike dachte – nicht konfliktlos, rein lebend, wie Goethe antik sein wollte und war, aber das, sagte er, war nur die primitive Antike, nur ein Ausgangspunkt [eine nie wirkliche Idylle, ein Ideal] und das reine Genügen an der Vitalität war das, worüber die Antike selbst, Plato [als Zerstörer der Antike], hinausstrebte. Das ist allgemeine Erscheinung sagt er. Der bedeutende Mensch, hat das, was ihm das Leben und die Zeit bieten, um es zu verzehren, um davon zu leben, um dadurch frei zu werden für sein eigenes Ziel. – Dost. habe einen ganz unmodernen Blick, wie ein Tier. Die Augen sind zum Schauen da, sind Organe. | sh V. (Hänsel Tagebuch, 13. Okt. 1921)

    Der „bedeutende Mensch“ – so äußert sich Wittgenstein auch in einem Brief-Fragment über seine Vorstellung von eigentlicher Geistigkeit. In diesem Schreiben vergleicht er das Dasein der Menschen mit dem Befinden in einer roten Glasglocke – ein Gleichnis, das unverkennbar Parallelen zu Platons Höhlengleichnis evoziert. Ähnlich Platon schreibt er, dass jene, die von Geburt an in einem Raum lebten, durch die das Licht nur durch rote Scheiben dringt, sich kein anderes Licht vorstellen könnten, sondern die Röte dieses Lichts für das Licht, und nicht für eine „besondere Art der Trübung des einen Lichts“ halten (Licht und Schatten, 44).

    Nur der bedeutende Mensch, der durch das Glas und damit aus seiner Begrenzung heraustrete und sich mit dem reinen weißen Licht befasst – Wittgenstein verwendet diese Metapher für Religiosität im Gegensatz zu Wissenschaft und Kultur, die er mit den gefärbten bzw. getrübten Lichtern vergleicht – sei fähig, geniale Werke zu schaffen. Derjenige hingegen, der sich in seiner Kunst nicht mit Religion befasst, sei nur als Talent zu bezeichnen, dem es an Tiefe und Glaubwürdigkeit mangle, weshalb er einen nicht zu fesseln vermöge: Nur „die Auseinandersetzung mit dem Geist, mit dem Licht, ergreift“, notierte Wittgenstein. Nur dann könne sich der Philosoph oder Künstler der Wahrheit nähern – wie dies auch in Platons Höhlengleichnis beschrieben wird. Dabei handelt es sich um die reine Wahrheit, nicht um den Schein, den Homer den Musen zusprach und von Hesiod bereits, wie erörtert, um den Aspekt der „unverborgenen Wahrheit“ erweitert wurde, doch der in gewisser Weise bis in die Ästhetik Goethes und Schillers reichte, wo „Schönheit” und „Schein” zusammengebracht werden und von „wahrem Schein“ die Rede ist. Die ursprünglich in dem Wort aletheia enthaltene Bedeutung von „Unvergessenheit“ war nach Hesiod im Sinne von „Unverborgenheit” zu verstehen – als Entbergen des Wahren bzw. des „Wirklichen an sich selbst, das sich von sich selbst her zeigt“ (Schadewaldt, 85).

    Auch Wittgensteins Suche nach Wahrheit und Klarheit ist mit einer behutsamen Annäherung an das Verborgene verbunden, dessen Entbergen oder Enthüllen mit dem Problem der Grenzen der Sprache, was ihn bereits im Tractatus zur Scheidung des Sagbaren vom Zeigbaren führte. Wie mühsam und langwierig das philosophische Argumentieren, der Weg des Fragens zur Antwort und zu weiterem Fragen ist, zeigt sich auch in seiner Spätphilosophie und wird in der Bemerkung „Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen“ (PU, § 309) deutlich, ein Gleichnis, mit dem er auf Nietzsche anspielt, der von der Torheit und dem Erstaunen der Fliege sprach, die an die für durchsichtig gehaltene Glasscheibe stößt.5

    Das Erstaunen nimmt somit kein Ende: nach jeder vermeintlichen Antwort folgt eine neue Frage – ein neues Erstaunen. Führt jeder Prozess des Philosophierens somit zur Aporie oder gibt es einen Ausweg aus den „wonders of the jungle” (MS 149, 5-6)?

    Im Scheitern rationaler Erklärungsversuche weist Wittgenstein zunehmend auf Möglichkeiten hin, die dem Mythos näher als dem Logos sind. Verbunden mit der Betrachtung in Bildern betont er die Anschauung, damit Intuitivität, Spontaneität, Sinnlichkeit. Das „Verschwinden der Probleme“ sieht er nicht durch eine Lösung, sondern durch eine „Auflösung“, nicht durch eine Theorie, sondern durch eine radikale Änderung im Philosophieren. Trotz seiner Behauptung, sich als „Terminus ad quem der großen abendländischen Philosophie“6 zu sehen und seinen Standpunkt als entgegengesetzten Standpunkt dessen, welchen Sokrates in den Platonischen Dialogen vertrete (TS 302, 14), zu charakterisieren, sind zwischen ihm und den antiken Denkern Parallelen zu beobachten, deren er sich wohl nicht bewusst war und worüber bis dato auch nicht hinreichend geschrieben worden ist.

    IV. Konklusion

    Während in der Antike mit der Zeit der Mythos dem Logos, das Denken in Bildern einer wissenschaftlichen Betrachtung der Welt, einem rationalen Argumentieren – dem Philosophieren – wich, könnte man bei Wittgenstein in mancher Hinsicht von einem umgekehrten Weg sprechen: dem Weg von einer analytisch orientierten Philosophie zur Kritik an den Wissenschaften und zur wachsenden Wertschätzung von Bildern (Gleichnissen, Metaphern, etc.), wie sie in Mythen zu finden sind, und denen neben Ausdrucksmitteln wie „Geste“, „Ton“, „Zeichen“ an Bedeutung zukommt, um das Nichtsagbare zu vermitteln bzw. zu „zeigen“. Dabei wird das Ineinandergreifen von Ethik, Sprache und Mythologie sichtbar.

    Und hier lässt sich auch eine Brücke zu Platon finden: Nicht nur der Dialog Timaios, der Mythos im Sinne von „wahrscheinlicher Rede” ist, sondern insbesondere auch im Phaidros wird die Bedeutung des Mythos offenbar. In diesem Dialog, wo es um den Eros, die Schau der Ideen und die Rhetorik geht, dient der Mythos neben dem dialektischen Gespräch als Mittel zur Erziehung. Denn wie schon Hesiod davon sprach, dass die Musen auch die Wahrheit sagen könnten, so ist Mythos auch bei Platon Logos – im Sinne der Rede mit Wahrheitsgehalt. Wenn Sokrates am Schluss des Dialogs sich auf die Weisheit der Nymphen und Musen beruft und zu Pan betet, ihn schön werden zu lassen „im Innern“ und dass, „was ich außen besitze, dem Innern befreundet“ (278E) sei, kommt es zu einem Ausgleich der Gegensätze zwischen Innen und Außen, zwischen Seele und Körper, zwischen Mythos und Dialektik. Dialektik ist der notwendige Weg der Forschung, mythisch ist der Weg der Mania, des Erlebens, des Eros (vgl. Hildebrandt, 13).

    Auch die Rede ist ein Spiel, ein Spiel mit Sprache, wie der Mythos ein Spiel mit Bildern ist.
    Im Vergleich zwischen dem Landmann und dem Redner sagt Sokrates zu Phaidros, dass der Redner „um des Spieles willen” die Gärten der Schrift besäe und beschreibe und sich damit selbst einen Schatz von Erinnerungen sammle für die Zeit, da er ins Alter des Vergessens gelange. (276C). Wesentlich für die dialektische Kunst sei es, die geeignete Seele zu wählen und zu bepflanzen und mit Reden der Erkenntnis zu besäen, die Samen tragen (ibid.).

    Rede und Mythos erfordern Einfallsreichtum, Phantasie und Überzeugungskraft – wie es auch in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen zutage tritt. In seinen Untersuchungen über die unterschiedliche Bedeutung von Wörtern in verschiedenen Sätzen stellt er einmal die Frage: „ist alles was ich hier treibe nicht Mythologie? Dichte ich nicht zu dem Offenbaren dazu? [ …]” (TS 211, 195). An anderer Stelle schrieb er:„Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben indem ich sagte: Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.“ (MS 146, 50). Und in seiner Auseinandersetzung mit Moore über Gewißheit meint er, dass man die Sätze, die sein Weltbild7 beschreiben, mythologisch nennen könnte, und ihre Rolle ähnlich der von Spielregeln sei.

    Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und gefrorene flüssig würden.

    Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen dem Strömen des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt. (MS 174, 21v, 22r)

    Doch ließe sich daraus nicht folgern, dass auch die Logik eine Erfahrungswissenschaft sei, sondern nur, dass der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden könne.

    Ja das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner, oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird (MS 174, 22r).

    Durch ständig neue Beispiele im philosophischen Diskurs und die häufige Verwendung von Bildern, durch unentwegtes Fragen und Antworten hoffte Wittgenstein, die Menschen zu eigenen Gedanken anzuregen, „Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen“. Seine philosophische Methode gleicht einem sokratischen Dialog und einer Therapie, die, so scheint mir, ihren Ausgangspunkt in einer staunenden Auseinandersetzung und dabei einem Hinführen zu aufmerksamer Betrachtung des unmittelbar Gegebenen sowie zu einer Achtung vor dem Nicht-Erklärbaren nahm.

    Mit der Bemerkung „Zum Staunen muß der Mensch – und vielleicht Völker – aufwachen. Die Wissenschaft ist ein Mittel um ihn wieder einzuschläfern“ (MS 109, 200) hat er wohl des Menschen der Antike gedacht, dessen Staunen vor damals Unerklärtem noch nicht zerstört und für eine mythologische Deutung offen war.

    Literature

    1. Colli, Giorgio, Montinari, Mazzino (eds.), 1999, Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe. München: de Gruyter
    2. Drury, M.O’C., 1992, „Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein“. In: Rhees, R. (ed.) Ludwig Wittgenstein. Porträts und Gespräche. Frankfurt: Suhrkamp, S. 117-141.
    3. Hegel, G.W.F., 1970, Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Frankfurt: Suhrkamp
    4. Hesiod, Theogonie, 1999. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger.
    5. Kroner, Richard, 1957, Speculation in Pre-Christian Philosophy. London, New York: Longmans, Green and Co.
    6. Kerényi, Karl, 2007, Die Mythologie der Griechen. München: Dtv
    7. Platon, 2006, Phaidros oder Vom Schönen, übertragen und eingeleitet von Kurt Hildebrandt. Stuttgart: Reclam
    8. ––– 1958, Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck. Hamburg: Rowohlt
    9. Schadewaldt, Wolfgang, 1978, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Frankfurt: Suhrkamp
    10. Snell, Bruno, 1993, Die Entdeckung des Geistes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
    11. Somavilla, I. (ed.), 1997, Ludwig Wittgenstein. Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932/1936-1937. Innsbruck: Haymon
    12. ––– (ed.), 2004, Ludwig Wittgenstein. Licht und Schatten. Ein nächtliches (Traum)Erlebnis und ein Brief-Fragment. Innsbruck: Haymon
    13. Wittgenstein, Ludwig, 1990, Werkausgabe in 8 Bänden. Frankfurt: Suhrkamp.
    14. ––– 2000, Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition: Bergen, Oxford: Oxford University Press
    Notes
    1.
    Hesiod: Theogonie, 21.
    2.
    G.W.F. Hegel: „Begriff des Geistes“, § 384, in: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, v10p31. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, im Kapitel „Das objektive Kunstwerk“ betont Hegel, dass die Griechen Gott als Geistiges verehrten, bei den zwei Elementen Natur und Geist im Begriff des griechischen Geistes die Natur nur den Ausgangspunkt bildete (v12p299).
    3.
    Vgl. Politeia, 377, 378, wo es um die Erziehung der Wächter geht und Sokrates von „zweierlei Reden“ spricht, nämlich wahren und falschen. Zu den falschen gehören die Märchen und Sagen, die man den Kindern erzählt, und obgleich diese einen verborgenen wahren Sinn enthalten, müsse man vorsichtig abwägen, ob man solche Geschichten Heranwachsenden erzählen könne. Dabei spricht Sokrates vor allem die Göttergeschichten Homers und Hesiods an.
    4.
    Vgl. PU, § 107: „[...] Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb nicht gehen können. Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!“
    5.
    Vgl. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, Aphorismus 444. Verwunderung über Widerstand: „Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten – und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth“.
    6.
    „Wenn mein Name fortleben wird dann nur als der Terminus ad quem der großen abendländischen Philosophie. Gleichsam wie der Name dessen der die Alexandrinische Bibliothek verbrannt/angezündet hat”
    7.
    Sein Weltbild definiert er dabei als den „überkommenen Hintergrund“, auf welchem er zwischen wahr und falsch unterscheide.
    Ilse Somavilla. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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