Das Problem der Anwendung bei Gadamer und Wittgenstein
Das Problem der Anwendung bei Gadamer und Wittgenstein

Abstract

In der Anwendung hermeneutischen Verstehens wird die Frage des Verhältnisses von Allgemeinem zum Besonderen virulent, die schon von Aristoteles in Hinsicht auf die Konkretisierung ethischen Verhaltens in Anschlag gebracht wurde. Die These ist, dass dieses Verhältnis auch im Verständnis des späten Wittgenstein in Hinblick auf die Anwendung von Sprache thematisch wird. Konstituiert sich sprachliches Verstehen durch das Applizieren eines all-gemeinen Regelwissens? Haben wir es in diesem Zusammenhang mit einem vorgängigen Wissen zu tun und wie lässt sich die Konkretisierung dieses Wissens verstehen? In diesen Fragen zeigen sich Konvergenzen zum hermeneutischen Verständnisses Gadamers, die entlang der Aspekte Form, Zweck und Gemeinschaftlichkeit des Wissens skizziert werden.

Table of contents

    1.

    In seinem Aufsatz Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen Verstehens versucht Karl Otto Apel eine Beziehung zwischen der Problematik des hermeneutischen Verstehens und der in der sprachanalytischen Philosophie zentralen Problematik des Verstehens von Sinn herzustellen (Apel 1966). Vor diesem Hintergrund untersucht Apel die philosophische Verwendung der Termini »Verstehen« und »Sinn«, die sowohl in der hermeneutischen Tradition wie auch in der Philosophie des frühen und späten Wittgensteins im Brennpunkt des Interesses stehen.

    Apel stellt in Hinblick auf den Tractatus fest, dass die Problematik des hermeneutischen Verstehens in der frühen Phase gar nicht auftaucht, weil die weltkonstitutiven Sachverhalte durch die logische Form der Sprache abgebildet werden können und die konkreten menschlichen Subjekte auf diese Weise immer schon über die Strukturen der Welt miteinander verständigt sind. Mit der Einführung der Sprachspielkonzeption in den Philosophischen Untersuchungen ändert sich hingegen auch das philosophische Verhältnis zum hermeneutischen Problem. Nach Apel stelle sich nun die Frage nach dem Wesen hermeneutischer Sprachspiele. Interessanterweise notiert Apel an dieser Stelle in einer Fußnote, dass sich seiner Auffassung nach hinsichtlich der Anwendung hermeneutischen Verstehens die Möglichkeit einer Verbindung der »Sprachspiel-›Theorie‹« mit der philosophischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer ergäbe (Apel 1966, S. 80, Fn 41).

    Ich möchte im Folgenden den Gedanken einer Konvergenz Gadamers und Wittgensteins in Hinblick auf das Problem der Anwendung aufgreifen. Das Problem scheint mir ebenso in der Frage der Applikation hermeneutischen Verstehens verortet zu sein, wie auch in der Frage der Sprachanwendung, wie sie sich von der Sprachspielkonzeption des späten Wittgensteins her stellt. Darüber hinaus zeigt Gadamer mit seinem Rückgriff auf die aristotelische Ethik einen weiteren Topos auf, der die Konkretisierung ethischen Handelns betrifft. Um die Verbindungslinien zu analysieren, werde ich zunächst skizzieren, wie das Problem der Anwendung von Gadamer/Aristoteles her zu verstehen ist. In einem zweiten Schritt werde ich dieses Verständnis mit Wittgenstein einzuholen versuchen.

    2.

    Mit Blick auf die traditionelle Hermeneutik in der Romantik, die das Verstehen als eine Symbiose von Verstehen und Auslegung begreift, stellt Gadamer in Wahrheit und Methode kritisch fest, dass durch die Symbiose ein drittes Moment des Verstehens verdeckt wurde. Die traditionelle Hermeneutik ließ unberücksichtigt, dass »im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten stattfindet« (Gadamer 1990, S. 313). In den einschlägigen Anwendungsgebieten der Hermeneutik, wie der Geschichtswissenschaft, der Rechtswissenschaft oder der Theologie geht es im hermeneutischen Sinne darum, dass sich im Zuge des verstehenden Auslegens etwas konkretisiert, etwa die Rechtsgeltung in der Gesetzesauslegung oder die Heilswirkung in der Predigt. Für den auszulegenden Text bedeutet das, dass er »in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden muss. Verstehen«, so Gadamer, »ist hier immer schon Anwenden« (Gadamer 1990, S. 314). Damit etwa ein Gesetz im Urteil Gültigkeit erlangt, muss unter das allgemeine Gesetz der besondere Tatbestand subsumiert und anhand von Tatbestandsmerkmalen festgestellt werden, ob ein gesetzlicher Verstoß vorliegt oder nicht. Diese Vorgehensweise gehört zum juristischen Handwerkszeug und zeigt, dass sich in der Applikation eine eigentümliche logische Struktur verbirgt, die sich im Verhältnis von Allgemeinem zum Besonderen zum Ausdruck bringt. Diese Struktur meint Gadamer auch in der aristotelischen Ethik entdecken zu können und sieht in ihr »eine Art Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Probleme« (Gadamer 1990, S. 329).

    Aristoteles grenzt das ethische Handeln zu der platonischen Idee des Guten auf der einen Seite hin und zur Natur (φύσις) auf der anderen Seite hin ab. Die ethische Tugend wird dem Handelnden durch Gewohnheit (ἔθος) zuteil (Aristoteles 1995, II, 1). Mit der Gegenüberstellung von Gewohnheit und Natur tritt, wie Gadamer bemerkt, ein Bereich zutage, der nicht von einer natürlichen Gesetzmäßigkeit geprägt ist, sondern von einer »Wandelbarkeit und begrenzten Regelhaftigkeit menschlicher Satzungen und menschlicher Verhaltungsweisen« (Gadamer 1990, S. 318). Tugendhaftigkeit zeigt sich in eben dieser Vielzahl von Verhaltungsweisen, die durch eine sittliche Erziehung gefördert und zu einer Haltung (ἕξις) ausgeformt werden können.

    Obwohl Aristoteles betont, dass das Sittliche nichts an sich hat, was gesetzlich feststeht, muss doch der ethisch Handelnde wissen, welche Handlung in der gegebenen Situation unter ethischen Vorzeichen geboten ist. Es ist daher von philosophischem Interesse, wie es ein ethisches Wissen geben kann und auf welche Weise dieses Wissen in ethischen Handlungen zum tragen kommt. Damit ist gleichermaßen der Fokus auf das Problem der Anwendung ethischen Wissens eingestellt.

    Im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles die Klugheit (φρόνησις) als eine Haltung vernünftigen Handelns. Klug zu sein bedeutet, über ein Wissen darüber zu verfügen, welche Handlung für die eigene Situation gut und nützlich ist (Aristoteles, VI, 5). Diese Form des Wissens grenzt Aristoteles gegenüber zwei weiteren Wissensformen ab: einerseits von dem theoretischen Wissen (ἐπιστήμη) und andererseits von der Kunstfertigkeit (τέχνη). Man wird sich dessen schnell Ansichtig, dass sittliches Wissen nicht Teil der theoretischen Wissenschaft sein kann, denn das theoretische Wissen beschäftigt sich mit Wissensgegenständen, deren Wesen auf Notwendigkeit gründet. Hierzu gehören etwa Gegenstände der Mathematik. Demgegenüber sind sittliche Handlungskontexte nicht notwendig und unveränderlich. Sie stellen keine objektiven Sachverhalte dar, sondern finden im Menschen ihren Mittelpunkt, der um sich selbst als Handelnder weiß und Entscheidungen treffen muss, die je nach Kontext anders ausfallen können und sich daher nicht objektivieren lassen.

    Zunächst weniger eindeutig scheint dagegen die Differenzierung von sittlichem und technischem Handlungsbegriff und den damit verbundenen Wissensformen zu sein. Steht nicht auch der Kunstfertige etwa bei der Herstellung eines Tisches in der Situation, sich für die richtigen Handlungsschritte entscheiden zu müssen, die zur Herstellung des Gegenstandes führen? Ist nicht auch das Wissen des Kunstfertigen über Material und Mittel der Herstellung von der Art, dass es ihm ebenso wie dem Klugen selbst zu gute kommt, wenn der Gegenstand gebrauchsfähig hergestellt worden ist? So muss doch auch der Kunstfertige in der gegebenen Situation das allgemein Gelernte in der konkrete Situation des Herstellungsprozesses anzuwenden wissen. Gleicht diese Situation nicht dem sittlichen Bewusstsein, das sich ebenfalls in der konkreten Situation für ein sittliches Verhalten zu entscheiden wissen muss? Es stellt sich von daher die Frage, in welchen Hinsichten sich das sittliche Wissen von einem technischen Wissen differenzieren lässt, wenn die Applikation der Phronesis nicht als nachträgliche Veranstaltung zu einem vorgängigen Wissen verstanden werden soll. Gadamer markiert die Unterschiede in den folgenden drei Punkten.

    I. Die Form des Wissens. Gegenstand der Kunstfertigkeit ist, wie Aristoteles sagt, das Entstehen und Herstellen nach Plan. Hier sei etwa an das Wissen des Handwerkers gedacht, der sich darauf versteht, bestimmte Dinge wie Tische oder Stühle herzustellen. Dieses Wissen ist über einen gewissen Zeitraum potentiell vorhanden und kann offensichtlich auch wieder verlernt werden. Demgegenüber scheint es sich mit dem sittlichen Wissen so zu verhalten, dass es weder erlernt noch verlernt wird. Als menschliches Wesen befindet man sich immer schon in Handlungszusammenhängen und scheint daher schon immer im Besitz des sittlichen Wissens sein zu müssen, um es anwenden zu können. Da man das sittliche Wissen aber offenbar nicht erlernt, kann man es auch nicht besitzen. Wie aber soll man etwas anwenden können, in dessen Besitz man nicht gelangt ist?

    Offenbar ist die sittliche Handlung im Gegensatz zum planmäßig angefertigten Gegenstand nicht voll bestimmbar. So mag etwa das Gesetz in der Rechtsprechung vor seiner Anwendung bereits in allgemeiner Form vorliegen, aber die Rechtsprechung erfolgt erst in der Anwendung auf eine konkrete Situation. Das bedeutet gleichzeitig, dass das allgemeine Gesetz stets Abstriche zugunsten der konkreten Manifestation hinnehmen muss. Gegenüber der Herstellung, für die eine Abweichung vom ursprünglichen Plan immer auch Abstriche in der Ausführung und der Vollkommenheit des Hergestellten bedeuten, kommt allerdings in der Anwendung des allgemeinen Gesetztes auf die konkrete Situation das Recht erst zu seiner vollen Entfaltung. Das allgemeine Gesetz ist notwendigerweise mangelhaft, weil es die Mannigfaltigkeit menschlicher Wirklichkeit nicht in sich zu fassen vermag. Das bedeutet aber schlechterdings keinen Mangel in der Anwendung, vielmehr entsteht durch sie erst positives Recht.

    II. Der Zweck des Wissens. Es ist leicht ersichtlich, dass das technische Wissen partikulare Zwecke verfolgt. So dient etwa das Wissen wie man einen Tisch schreinert dazu, den Tisch als fertigen Gegenstand herzustellen. Dem gegenüber verfolgt das sittliche Wissen keinen partikularen Zweck, sondern betrifft das rechte Leben als ganzes. Das rechte Leben findet seine letzte Begründung nicht in einem Zweck, der das Leben vorgängig bestimmt.

    Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Auswahl der zum Zweck dienenden Mittel. Der Mensch verfügt nicht in der Weise über sich, wie der Handwerker über das Material, das er bearbeitet. Richtet sich das theoretische Wissen in der Kunst auf das zu bearbeitende Material, so steht der Mensch hinsichtlich des sittlichen Wissens in einer Selbstbeziehung, die es in concreto auszufüllen gilt. Während die Mittel zum Bau eines Tisches durch die erlernte Methode bestimmt sind und jede weitere Reflexion über das rechte Tun überflüssig zu sein scheint, verlangt das sittliche Bewusstsein geradewegs ein »Mitsichzurategehen« (εὐβουλία; Übersetzung Gadamer), also ein überlegendes Suchen nach der rechten Wahl der Mittel (Aristoteles, VI, 10). Gegenüber den Künsten, in denen das Wissen schon vor seiner faktischen Anwendung zur Verfügung steht, kann das sittliche Wissen »grundsätzlich nicht die Vorgängigkeit eines lehrbaren Wissens besitzen. Das Verhältnis von Mittel und Zweck ist hier nicht von der Art, dass die Kenntnis der rechten Mittel im voraus verfügbar gemacht werden könnte, und das deshalb, weil die Kenntnis des rechten Zwecks ebenso wenig bloßer Gegenstand eines Wissens ist« (Gadamer 1990, S. 326).

    III. Das gemeinschaftliche Wissen. Neben der Klugheit, die in einen normativen Bezug zum sittlichen Wissen steht, begreift Aristoteles die Verständigkeit (σύνεσις) als beurteilend-deskriptive Fähigkeit. Auch sie hat es mit dem Gegenstand des Zweifelns und Überlegens zu tun, der sich in der konkreten Handlungssituation zeigt und daher nicht mit theoretischer Wissenschaft oder Kunstfertigkeit zu verwechseln ist. Klugheit und Verständigkeit treffen sich im ›Augenblick der Konkretion‹ (Gadamer), in der der Verständige den Handlungsvollzug des Anderen für sich selbst nachvollziehen kann. Das sich zeigende, gemeinsame Wissen ist nicht das Resultat eines vorgängigen und planmäßigen Wissens. Die Verständigkeit zeigt sich darin, dass der Verständige zu dem Handlungsvollziehenden in einem gemeinsamen Verhältnis steht, dessen Mittelpunkt der gemeinsame Wille zur Rechten Handlung ist. Das gemeinsame Wissens gründet auf der Tatsache einer Handlungsgemeinschaft, in der sittliches Handeln nach gewissen Mustern vollzogen wird, so »dass der, der Verständnis hat, nicht in einem unbetroffenen Gegenüber stehend weiß und urteilt, sondern aus einer spezifischen Zugehörigkeit mitdenkt, die ihn mit dem anderen verbindet, als wäre man mitbetroffen« (Gadamer 1990, S. 328). Menschen stehen demzufolge immer schon gemeinsam in sittlichen Zusammenhängen und machen sich von daher ihr Bild von der Sache des Sittlichen. Aus den gelebten Handlungskontexten bilden sich Leitbilder heraus, die aus den konkreten Situationen der Handelnden erkennbar werden und vermittelbar sind. Das ethische Verständnis wird nicht von unveränderlich feststehenden Normen her bestimmt, sondern über die Wahrnehmung sich konkretisierender Handlungsmuster, die als sittlich anerkannt werden.

    3.

    Mit dem Differenzierungsangebot, das Gadamer und Aristoteles hinsichtlich der Anwendung sittlichen und technischen Wissens gemacht haben, soll nun das Problem der Anwendung von Sprachspielen in den Blick genommen werden, um zu sehen, ob Gadamers Interpretation für das Verständnis des späten Wittgenstein fruchtbar gemacht werden kann. Der Sprachspielbegriff impliziert, dass eine gewisse Regelmäßigkeit in der Sprachanwendung vorhanden ist, denn für eine sinnvolle Verständigung ist es notwendig, dass es in der Sprache nicht ungeregelt zugeht. Zu wissen, wie man ein Sprachspiel sinnvoll anwendet, bedeutet demzufolge zu wissen, nach welchen Regeln es gespielt wird. Analog zu einem sittlichen oder technischen Wissen können wir im Folgenden von einem Regelwissen sprechen1 und nach Form, Zweck und Gemeinschaftlichkeit dieses Wissens fragen.

    Gegenüber der Feststellung, dass wir immer schon in Handlungszusammenhängen stehen, scheinen wir uns nicht immer schon in Sprachzusammenhängen zu befinden. Sprachkompetenz muss erworben werden. Man könnte daher analog zur griechischen Techne davon ausgehen, dass das Regelwissen vor dem konkreten Sprachgebrauch existiert und die Anwendung über ein Regelwissen erlernt wird, indem die Regel die Anwendung erklärt. Allerdings setzt eine Erklärung bereits voraus, dass sie als solche verstanden werden kann, was beispielsweise impliziert, dass man nach ihr fragen kann (vgl. PU §6). Ein Kind, das noch keinerlei Sprachkompetenz besitzt, könnte eine Regel demzufolge gar nicht verstehen.

    Es zeigt sich, dass das die Kompetenz zur Anwendung eines Sprachspiels nicht durch die erklärende Regel erworben wird, sondern durch das Hineinwachsen in eine soziale Handlungsweise (vgl. Schneider 2002, S. 142ff). Kinder werden durch das Nachahmen von Tätigkeiten, die mit sprachlichen Äußerungen verwoben sind, in Form von Abrichtung (vgl. PU §§5, 198) in die Sprache eingeführt. Die Anwendung eines Sprachspiels wird demzufolge nicht durch Regeln bestimmt, sondern durch regelmäßige soziale Handlungsweisen. Die Bedeutung von ›regelmäßig‹ beruht daher gewissermaßen selbst auf konkreten Handlungen und muss an konkreten Beispielen erlernt werden (vgl. PU §208). Was eine allgemeine Regel ist, kann ohne ›Konkretion‹ nicht verstanden werden.

    Ebenso wie das sittliche Wissen, so verfolgt auch das Regelwissen keinen partikularen Zweck, sondern betrifft die Sprache als ganzes. Wittgenstein behauptet, dass man die Regeln »willkürlich« nennen kann, denn ihr Zweck ist nur der der Sprache (vgl. PU §497). Demzufolge wird nicht der Sprachgebrauch durch Regeln bestimmt, sondern praktische Zwecke bestimmen den Sprachgebrauch, aus dem heraus dann Regelmäßigkeiten erkennbar werden, die je nach Sprachgemeinschaft so oder auch anders ausfallen könnten. Die gewünschten Zwecke werden nicht mittels Regelwissen erreicht, sondern über einen bestimmten Gebrauch der Sprache. Die Wahl der richtigen Mittel erfolgt daher nicht über die Befolgung von Regeln, sondern über die gesellschaftlich anerzogenen Handlungsweisen. Vor diesem Hintergrund kann Wittgenstein sagen: »Ich folge der Regel blind« (PU §219).

    Es zeigt sich, dass das Wissen zur Anwendung eines Sprachspiels kein partikulares Regelwissen ist, das die Funktionsweise von Sprache erklärt, sondern dass die Funktions- und Gebrauchsweise durch eine öffentliche und soziale Handlungspraxis bestimmt wird. Insofern ist das Wissen zur Sprachbeherrschung notwendigerweise ein gemeinschaftliches Wissen. Darüber hinaus zeigen Wittgensteins Argumente gegen die Möglichkeit einer Privatsprache, dass die das Verstehen konstituierende regelgeleitete Sprachanwendung überhaupt nur dann möglich ist, wenn die Möglichkeit einer öffentlichen normativen Beurteilung des Sprachspiels besteht.

    Insofern lässt sich abschließend feststellen, dass die Anwendung sittlichen Wissens in der aristotelischen Ethik, die Anwendung des hermeneutischen Bewusstseins und die Anwendung des Sprache in der Spätphilosophie Wittgensteins eine Reihe von gemeinsamen Strukturmomenten auszeichnen, die hier unter den Aspekten der Form, des Zweckes und der Gemeinschaftlichkeit des Wissens skizziert wurden.

    Literatur

    1. Apel, Karl Otto 1966 „Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen Verstehens“, Zeitschrift für Theologie und Kirche 63, Tübingen: Mohr, 49-87.
    2. Aristoteles 1995 Nikomachische Ethik, übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg: Meiner.
    3. Gadamer, Hans-Georg 1990 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr.
    4. Schneider, Hans Julius 2002 „Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen?“ in: Sybille Krämer und Ekkehard König (Hgg.), Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 129-150.
    5. Wittgenstein, Ludwig 1984 Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1), Frankfurt/Main: Suhrkamp.
    Notes
    1.
    Wittgenstein selbst nennt die Sprachbeherrschung das Beherrschen einer ›Technik‹ (vgl. Wittgenstein 1984 [nachfolgend PU genannt], §§150, 199). Das ist allerdings nicht im Sinne der griechischen τέχνη zu verstehen.
    Florian Franken. Date: XML TEI markup by WAB (Rune J. Falch, Heinz W. Krüger, Alois Pichler, Deirdre C.P. Smith) 2011-13. Last change 18.12.2013.
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