Abstract
Wittgensteins Auffassung über Bedeutung, wie sie sich seit den frühen 30er Jahren entwickelte, besteht darin, daß die Bedeutung eines Ausdrucks oder allgemeiner eines Zeichens als seine Verwendung angesehen wird. Alternative Formulierungen dafür sind, daß die Bedeutung die Rolle ist, die ein Zeichen im Leben beziehungsweise im Sprachspiel spielt. Diese Auffassung Wittgensteins ist gegen verschiedene zu einfache oder zu theoretische Ideen vom Funktionieren der Sprache beziehungsweise von der Bedeutung von Zeichen gerichtet. Insofern Wittgenstein dadurch auf Sackgassen des sprachphilosophischen und allgemeiner des sprachtheoretischen Denkens aufmerksam macht, ist der Hinweis auf Sprachspiele und auf das Leben sicher verdienstvoll. Obwohl der genannte bedeutungsphilosophische Grundgedanke Wittgensteins dem Laien wie eine Binsenweisheit erscheinen mag, hat er viel philosophischen Staub aufgewirbelt und viele kluge Köpfe dazu veranlaßt, hunderte von Seiten zu füllen.
Table of contents
- 1. Sprachspiele und Wortbedeutung
- 2. Sprachspiele und die Bedeutung komplexer Sätze
- 3. Sprachspiele und Textbedeutung
Wittgensteins Auffassung über Bedeutung, wie sie sich seit den frühen 30er Jahren entwickelte, besteht darin, daß die Bedeutung eines Ausdrucks oder allgemeiner eines Zeichens als seine Verwendung angesehen wird. Alternative Formulierungen dafür sind, daß die Bedeutung die Rolle ist, die ein Zeichen im Leben beziehungsweise im Sprachspiel spielt. Diese Auffassung Wittgensteins ist gegen verschiedene zu einfache oder zu theoretische Ideen vom Funktionieren der Sprache beziehungsweise von der Bedeutung von Zeichen gerichtet. Insofern Wittgenstein dadurch auf Sackgassen des sprachphilosophischen und allgemeiner des sprachtheoretischen Denkens aufmerksam macht, ist der Hinweis auf Sprachspiele und auf das Leben sicher verdienstvoll. Obwohl der genannte bedeutungsphilosophische Grundgedanke Wittgensteins dem Laien wie eine Binsenweisheit erscheinen mag, hat er viel philosophischen Staub aufgewirbelt und viele kluge Köpfe dazu veranlaßt, hunderte von Seiten zu füllen.
Leider hat man sich bisher kaum damit auseinandergesetzt, ob sich Wittgensteins Sprachspielidee nicht nur in einem kritischen, sondern auch in einem positiven Sinne fruchtbar machen läßt. Damit ist ganz einfach folgendes gemeint: Gegeben sei ein beliebiges (einfaches oder komplexes) Zeichen, das mit ’a’ bezeichnet werden soll. Es kann sich dabei um ein Wort, zum Beispiel ’Topf’, ’Ministerpräsident’, ’drehen’, ’schließlich’ oder ’alle’ handeln, aber auch um einen ganzen Satz oder Text, um ein Bild, einen Film, ein Musikstück oder die Kleidung einer Person. Alles, was im menschlichen Leben eine bedeutungsvolle Rolle spielen kann, soll an dieser Stelle für ’a’ eingesetzt werden dürfen. Die an Wittgensteins Bedeutungsphilosophie zu richtende Frage lautet dann: Was trägt diese Philosophie zur Beantwortung der Frage "Was ist die Bedeutung von ’a’?" bei? Daß diese Frage überhaupt berechtigt ist, ergibt sich daraus, daß der Ausdruck ’Sprachspiel’ bei Wittgenstein mindestens zwei Funktionen besitzt. Zum einen verweist er allgemein auf Tätigkeitszusammenhänge im menschlichen Leben, die für die Bedeutung von Zeichen konstitutiv sind. Zum anderen verwendet Wittgenstein die Beschreibung von realen oder fiktiven Tätigkeitszusammenhängen aber auch als methodisches Hilfsmittel, um darzustellen, welche Rolle oder Rollen ein bestimmtes Zeichen im menschlichen Leben spielen kann. Neben den Ausdrücken ’Würfel’, ’Platte’ und ’Säule’ aus dem berühmten Bauarbeitersprachspiel hat Wittgenstein in dieser Form unter anderem auch mögliche Verwendungsweisen der Wörter ’Sessel’, ’rot’, ’Zahnschmerzen’, ’meinen’, ’Apfel’, ’drei’, ’lesen’, ’Hilfe!’, ’Ursache’, ’ich’, ’Bedeutung’, ’nicht’, ’kein’, ’beschreiben’, ’alle’ und ’dies’ dargestellt. Um Wittgensteins Sprachspielverfahren in dem beschriebenen konstruktiven Sinne nutzbar zu machen, lohnt es sich, zunächst einen Teil dieses Materials zu sichten. Dieser erste, bescheidene Schritt soll in diesem Aufsatz unternommen werden.
Er kann mit dem schon angesprochenen Bauarbeitersprachspiel beginnen, das Wittgenstein in § 2 der Philosophischen Untersuchungen folgendermaßen beschreibt:
Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit dem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: "Würfel", "Säule", "Platte", "Balken". A ruft sie aus; ─ B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen.
Es leuchtet ein, daß diese Beschreibung eine gute Darstellung der Rolle ist, die die Zeichen ’Würfel’, ’Säule’, ’Platte’ und ’Balken’ im Leben von A und B spielen. Dies eigens zu betonen mag trivial erscheinen, erhält aber dann besonderes Gewicht, wenn man sich vor Augen hält, daß die Beschreibung Wittgensteins eine klare Instanz des Sprachspielverfahrens ist. Versucht man jedoch, ausgehend von dieser Instanz ähnlich klare Sprachspielbeschreibungen für beliebige andere Zeichen und Verwendungszusammenhänge zu geben, fühlt man sich wahrscheinlich überfordert. Gleichzeitig könnte es verwundern, daß man trotz der klaren Vorlage keine eigenen Beschreibungen geben kann. Ein Grund dafür mag darin bestehen, daß die meisten verbalsprachlichen Äußerungen syntaktisch komplex sind und daß sich bestimmte Wortarten (z. B. synkategorematische Ausdrücke) in ihrer Verwendung nicht so leicht charakterisieren lassen. Durch Erweiterungen des Bauarbeitersprachspiels gibt Wittgenstein selbst viele Hinweise, wie diese Probleme zu lösen sind. Im ersten Abschnitt soll jedoch zunächst einmal die Rolle beleuchtet werden, die einzelne Wörter (bzw. Einwortsätze) in unserem Leben spielen.
1. Sprachspiele und Wortbedeutung
Dazu werden die bei Wittgenstein vorkommenden Wörter ’beschreiben’ und ’rot’ in Augenschein genommen, und es wird mit dem Ausdruck ’beschreiben’ begonnen. Welche Rolle spielt dieses Wort in unserem Leben? In welchen Sprachspielen wird es verwendet?
Ausgehend von PU §§ 23, 24 und 290 kann die Darstellung der Rolle des Wortes ’beschreiben’ in verschiedenen Sprachspielen damit beginnen, daß einfach unterschiedliche Aufforderungen, in denen es vorkommen kann, aufgelistet werden, zum Beispiel:
- (a) ’Beschreibe diesen Tisch!’
- (b) ’Beschreibe den Gesichtsausdruck von B, als Du ihm die Neuigkeit erzählt hast!’
- (c) ’Beschreibe Deine Tastempfindung beim Berühren des nassen Schwamms!’
- (d) ’Beschreibe Deine Stimmung!’
- (e) ’Beschreibe Dein Zimmer aus dem Gedächtnis!’
Man könnte an dieser Stelle mindestens zwei Einwände anbringen: Erstens, daß hier keine Sprachspiele beschrieben werden. Zweitens, daß die Bedeutungsvariationen keine Verwendungsunterschiede von ’beschreiben’ sind, sondern, daß sich die Bedeutungen der verschiedenen Sätze durch die anderen Ausdrücke voneinander unterscheiden, die Bedeutung von ’beschreiben’ in allen Sätzen jedoch identisch ist.
Beiden Einwänden läßt sich durch einen Trick begegnen, der in PU § 19 suggeriert wird. Wittgenstein argumentiert dort gegen die Bemerkung, daß es sich bei dem Ausruf ’Platte!’ im Bauarbeitersprachspiel um eine verkürzte Form des Satzes ’Bring mir eine Platte!’ handele. Umgekehrt läßt sich auch vorstellen, daß statt der aufgelisteten Sätze in verschiedenen Situationen nur die Aufforderung ’Beschreibe!’ geäußert wird und daß diese Aufforderungen zu unterschiedlichen Sprachspielen gehören. Ein Sprachspiel zu (a) kann beispielsweise darin bestehen: Eine Person sitzt auf einem Platz an einem Tisch, und ihr gegenüber wird ein Gegenstand aufgestellt. Die Person soll aufschreiben, welche Eigenschaften sie an dem Gegenstand mit den Augen wahrnimmt. Alle fünfzehn Minuten wird der Gegenstand durch einen anderen ausgetauscht. Nach jedem Austauschen der Gegenstände ruft eine andere Person: ’Beschreibe!’ Eine Variation: Es werden rechteckige Möbelstücke zur Beschreibung aufgestellt. Die Beschreibung wird nun folgendermaßen angefertigt: Zunächst mißt derjenige, der die Beschreibung anfertigt, Höhe, Breite und Tiefe des Möbelstücks mit dem Zollstock. Dann schreibt er die entsprechenden Zahlenwerte in Zentimetern und in der angegebenen Reihenfolge als Beschreibung auf den Zettel. Eine weitere Variation: Es werden der Person die Augen verbunden und ihr Gegenstände vorgelegt, die sie anfassen soll und die sie dann nach der Tastempfindung beschreiben soll. Oder: Eine Person schaut aus einem Fenster und spricht über Telefon mit einer anderen Person. Wenn der andere sagt ’Beschreibe!’, zählt der erste auf, was er beim aus-dem-Fenster-Schauen sieht. Eine weitere Variation des ersten Sprachspiels: Die Gegenstände werden aufgestellt und nach fünfzehn Minuten entfernt. Dann hat der Beschreibende so lange Zeit, aus dem Gedächtnis Eigenschaften auf den Zettel zu schreiben, bis ein neuer Gegenstand aufgestellt wird.
In den bisherigen Sprachspieldarstellungen lag das Hauptaugenmerk auf den ausgeführten Tätigkeiten und ihren Unterschieden. Der lebenspraktische ’Witz’ der beschriebenen Tätigkeiten spielte dabei keine besondere Rolle. Dies läßt sich zum Beispiel dadurch ergänzen, daß man sich zusätzlich vorstellt, bestimmte Beschreibungen nach dem Augenschein werden für Blinde angefertigt (z. B. zu deren Information oder Unterhaltung), oder mehrere Personen fertigen Beschreibungen desselben Gegenstandes an, und die Beschreibungen werden dann miteinander verglichen, oder die nach Messungen angefertigten Beschreibungen dienen anderen Menschen bei der Einrichtung von Zimmern.
Wie unterschiedlich in realen Lebenszusammenhängen zum Beispiel das sein kann, was man ’die Beschreibung eines Tisches’ nennt, verdeutlicht Wittgenstein an einer Gegenüberstellung. Auf der einen Seite solle man sich eine Beschreibung vorstellen, die in der genauen Angabe der Form, der Maße, des Materials und der Farbe besteht, etwa ’rund; Durchmesser 1,20 m, Höhe 0,8 m; Kiefer weiß lackiert’. Als Kontrast dazu entwirft er die folgende Beschreibung:
There is on the other hand a different kind of description of a table, such as you might find in a novel, e.g., "It was a small rickety table decorated in Moorish style, the sort that is used for smoker's requisites". Such a description might be called an indirect one; but if the purpose of it is to bring a vivid image of the table before your mind in a flash, it might serve this purpose incomparably better than a detailed ’direct’ description. (The Brown Book2 II § 24)
Diese Fingerzeige Wittgensteins in bezug auf reale Verwendungen des Wortes ’beschreiben’ lassen sich zum Beispiel dadurch ergänzen, daß man verschiedene Lebenssituationen skizziert, in denen dieser Ausdruck verwendet wird, und daß man verschiedene literarische Beschreibungen von Personen, Möbelstücken oder Zimmern nebeneinanderstellt3, um deren Variationsbreite zu veranschaulichen. Die Skizzierung von Lebenssituationen kann etwa folgendermaßen aussehen:
(a) Ein Schüler schreibt eine Klassenarbeit im Fach Chemie. Eine der gestellten Aufgaben lautet: ’Beschreibe Aufbau und Durchführung des Knallgasexperiments’. Der Schüler schreibt als Antwort: ’Für das Knallgasexperiment werden benötigt: ein Gefäß mit Wasser, Kochsalz, 2 Elektroden, eine Gleichspannungsquelle ...’.
(b) In einem Reiseführer lesen wir: "Bereits im 18. Jahrhundert beschrieb der Schriftsteller Thomas Meiser voller Begeisterung den Ausblick vom Eselsberg: ’Wenn man Glück hat und das Wetter klar ist, kann man über die zart geschwungenen Hügel des Maiengebirges bis zur unendlichen stahlblauen Ausdehnung des Westmeeres schauen, auf dem tausende silbrig glänzender Sonnenreflexe tanzen. Weit im Norden ragt stolz das riesige Teufelsmassiv auf, und aus der Tiefe des Tales grüßen freundlich die Wipfel der Blautannen.’"
(c) In einer fremden Stadt bittet eine Frau einen Passanten: "Könnten Sie mir bitte den Weg zum Platz der Befreiung beschreiben?" Der Passant antwortet: "Gehen Sie auf dieser Straßenseite immer geradeaus, bis Sie an eine Ecke mit einem großen Buchgeschäft kommen. Dort biegen Sie links ein. Sie kommen dann am Wochenmarkt vorbei und passieren die Engelsbrücke ...".
Mit dieser Aufzählung ist die Sprachspielcharakterisierung des Wortes ’beschreiben’ zunächst abgeschlossen, und der Ausdruck ’rot’ kann näher in Augenschein genommen werden.
Auch hier soll wieder mit einigen Satzzusammenhängen, in denen dieser Ausdruck vorkommt, begonnen werden:
- (a) ’Nach der Premiere trug die Hauptdarstellerin ein rotes Kleid.’
- (b) ’Die Unterlagen sind nicht im blauen Ordner, sondern im roten.’
- (c) ’Möchtest Du Rotwein oder Weißwein?’
- (d) ’Früher dachte man, Frauen mit rotem Haar seien Hexen.’
- (e) ’Die Ärztin fand heraus, daß er zuwenig rote Blutkörperchen hat.’
- (f) ’Als ihm nachgewiesen wurde, daß er damals gelogen hatte, wurde er rot.’
- (g) "Ein bekannter Roman Stendhals trägt den Titel ’Rot und Schwarz’."
- (h) ’Ob Friedrich auch bei den diesjährigen Parlamentswahlen wieder rot wählen wird?’
- (i) ’Dieser Mann ist ein rotes Tuch für mich.’
Auf dem Hintergrund des vorangegangenen Beispiels sollte man sich auch hier klarmachen, daß diese Liste nicht an sich schon eine Anwendung des Sprachspielverfahrens darstellt, sondern eher eine Aufforderung und Hilfestellung ist, sich selbst Sprachspiele auszumalen, die sich mit diesen Sätzen spielen lassen.
Ein Sprachspiel mit dem Wort ’rot’ könnte etwa so aussehen: Eine Person A soll eine Person B über Überhitzungszustände einer Maschine informieren. Das Sprachspiel wird folgendermaßen gespielt. A sitzt vor einem Lämpchen, das er immer im Auge behalten muß. Wenn das Lämpchen rot aufleuchtet, bedeutet dies, daß die Maschine überhitzt ist und abgeschaltet werden muß. In diesem Fall läuft A zu B und sagt ’rot!’. In Analogie zu einer der frühesten Sprachspielbeschreibungen Wittgensteins4 kann man sich aber auch das folgende Sprachspiel vorstellen: In einem Zimmer sind drei Glühlampen als Beleuchtungsquellen installiert, die nur getrennt voneinander eingeschaltet werden können: ─ eine rote, eine grüne und eine blaue. Eine Person wird dazu abgerichtet, das Umschalten von einer Lampe zur anderen durch das Ausrufen des entsprechenden Wortes anzuzeigen. Wird die rote Lampe eingeschaltet, ruft sie ’rot!’ usw. Eine Variante dieses Sprachspiels kann darin bestehen, daß die Person keine Meldungen macht, sondern Befehle entgegennimmt. Wird ihr gesagt: ’rot!’, so muß sie zu den Schaltern gehen und die rote Lampe einschalten etc. Es bedeutet eine Variation des ersten Sprachspiels, sich vorzustellen, daß A zuerst gelernt hat, das Sprachspiel mit den drei Lampen zu spielen und dann erst Überhitzungszustände der Maschine mit dem Ausruf ’rot!’ meldet. Dies kann eine Variation genannt werden, obwohl A in beiden Fällen in diesem Situationstyp identisch handeln wird. Bei kreativenÜbertragungen könnten nämlich unterschiedliche Erweiterungen favorisiert werden. Im ersten Fall wird A vielleicht auch beim Aufleuchten des Warnlämpchens einer anderen Gerätesorte ’rot!’ ausrufen (selbst wenn dieses grün sein sollte), wohingegen er das im zweiten Fall möglicherweise nicht tun würde. Ein anderes Sprachspiel mit ’rot’ ist: Bei einer Feierlichkeit soll die Person A Wein an Gäste ausschenken. Es gibt Rotwein und Weißwein. Wenn jemand kommt, um sich ein Glas Wein geben zu lassen, schenkt A auf die Bitte ’rot!’ Rotwein und auf die Bitte ’weiß!’ Weißwein aus.
Möchte man sich, ausgehend von diesen primitiven Sprachspielen, verdeutlichen, welche verschiedenen Rollen das Wort ’rot’ im tatsächlichen Leben spielen kann, läßt sich dazu zunächst mit den folgenden fiktiven Verwendungsweisen beginnen, die Wittgenstein selbst entworfen hat:
Denke Dir eine Sprache, in welcher das Wort ’rot’, in verschiedenen Tonlagen ausgesprochen, auf verschiedene Helligkeitsgrade der Farbe angewendet wird. Hier, würden wir sagen, bedeutet es verschiedenes, je nach dem Ton, in dem es ausgesprochen wird. Aber wir könnten auch sagen: "Es bedeutet immer das gleiche, und der Ton zeigt den Helligkeitsgrad an". (Eine Philosophische Betrachtung5 S. 206)
und
Imagine a use of language (a culture) in which there was a common name for green and red on the one hand and yellow and blue on the other. Suppose, e.g., that there were two castes, one the patrician caste, wearing red and green garments the other, the plebeian, wearing blue and yellow garments. Both yellow and blue would always be referred to as plebeian colours, green and red as patrician colours. Asked what a red patch and a green patch have in common, a man of our tribe would not hesitate to say they were both patrician. (BrB II § 3)
Darüber hinaus lassen sich zur Charakterisierung der tatsächlichen Verwendung des Wortes ’rot’ auch die folgenden Beschreibungen möglicher Verwendungssituationen einsetzen:
(a) Beim Anzeigen eines Verkehrsunfalls auf dem Polizeirevier fragt der Polizeibeamte: "Welche Farbe hatte der Wagen, der Sie angefahren und dann Fahrerflucht begangen hat?" Das Opfer antwortet: "Er war rot." Die Farbe wird in das Protokoll der Zeugenaussage aufgenommen. Sie wird später bei der Fahndung eine Rolle spielen.
(b) Auf dem Kinderspielplatz fragt ein Kind das andere: "Möchtest du rotes oder grünes Brausepulver? Rot ist Erdbeergeschmack, grün Waldmeister." Das andere Kind antwortet: "Ich mag Waldmeister lieber." Das erste Kind reicht dem zweiten die Tüte mit der grünen Aufschrift.
Auf der Grundlage der mit den Beispielwörtern ’beschreiben’ und ’rot’ erzielten Ergebnisse lassen sich für diesen Abschnitt zusammenfassend vier Möglichkeiten der Anwendung des Sprachspielverfahrens auf einzelne Wörter anführen:
1. die Auflistung von verschiedenen Sätzen, in denen das Wort vorkommt; auf dieser Grundlage müssen dann mögliche Sprachspiele, die mit diesen Sätzen gespielt werden können, hinzugedacht werden
2. die Beschreibung von unterschiedlichen primitiven Handlungszusammenhängen, in denen das Wort in der Funktion eines Einwortsatzes gebraucht wird und durch die die jeweilige Sprachspielrolle des Wortes klar umrissen ist
3. die Angabe des ’Witzes’ bereits gefundener Handlungszusammenhänge, in denen das Wort eine Rolle spielt
4. die Beschreibung unterschiedlicher Realkontexte, in denen das Wort verwendet wird; die Form dieser Beschreibungen erscheint problematisch und unklar; hier ist der Sprachspielsemantiker in besonderem Maße auf Intuition, Phantasie und Formulierungsgeschick angewiesen.
2. Sprachspiele und die Bedeutung komplexer Sätze
Im folgenden Abschnitt sollen zwei Dinge untersucht werden: Erstens, wie man mit Hilfe des Sprachspielverfahrens zur Bedeutungscharakterisierung komplexer Sätze gelangt, und zweitens, wie sich die Bedeutung spezieller Wortarten (z. B. synkategorematischer Ausdrücke) mit diesem Verfahren beschreiben läßt. Der Ausdruck ’komplexer Satz’ wird hier nicht ─ wie meist üblich ─ als Pendant zu ’Elementarsatz’, sondern als Pendant zu ’Einwortsatz’ gebraucht. Wittgensteins Gedanken zu diesem Problem sind besonders deutlich im hinteren Teil von Ms. 115 formuliert, der unter dem Titel Eine Philosophische Betrachtung veröffentlicht wurde. Der Anfang dieses Textes enthält eine Reihe von Erweiterungen des schon vorgestellten Bauarbeitersprachspiels. Die erste Erweiterung besteht darin, daß zusätzlich zu den Wörtern ’Würfel’, ’Platte’, ’Säule’ und ’Balken’ die Wörter ’eins’, ’zwei’, ’drei’, ’vier’, ’fünf’, ’sechs’, ’sieben’, ’acht’, ’neun’ und ’zehn’ eingeführt werden. Es kann nun beispielsweise die folgende Sprachspielpartie vorkommen:
Auf den Ruf ’Fünf Platten!’ geht [der Gehilfe] dorthin, wo die Platten aufgestapelt sind, sagt die Zahlwörter von ’eins’ bis ’fünf’, nimmt bei jedem Wort eine Platte auf und bringt sie dem A. (EPB S. 119)
Hier haben wir schon eine erste Instanz dessen, was wir suchen: einen aus mehreren Wörtern zusammengesetzten Satz, dessen mögliche Rolle im menschlichen Leben durch die Beschreibung eines primitiven Sprachspiels dargestellt wird. Dabei verdeutlicht die Beschreibung ─ im Sinne unserer Frage "Was ist die Bedeutung von ’a’?" ─ sowohl eine mögliche Bedeutung von ’Fünf Platten!’ als auch mögliche Bedeutungen von ’fünf’ und ’Platte’. Die Rollen, die die Sätze ’Platte!’ und ’Eine Platte!’ im Leben von A und B spielen, sind in diesem Sprachspiel identisch, was ihren ’Witz’ angeht. Sie unterscheiden sich lediglich insofern, als B im ersten Fall zum Plattenstapel geht, einfach eine Platte nimmt und diese dem A bringt. Im zweiten Fall sagt B ’eins’, bevor er die Platte aufnimmt.
Die nächste Erweiterung beschreibt Wittgenstein folgendermaßen:
Führen wir ein weiteres Werkzeug in unsere Sprache ein: Bestimmten Gegenständen, etwa einzelnen bestimmten Steinen, die beim Bau verwendet werden sollen, werden Namen (Eigennamen) gegeben, man zeigt auf den Stein und sagt seinen Namen. Ruft A den Namen aus, so bringt B den Stein, dem er beigelegt wurde. (EPB S. 120)
Diese Erweiterung leistet zwar keinen Beitrag zur Semantik syntaktisch strukturierter Sätze, überträgt das Sprachspielverfahren aber auf eine neue Wortsorte: Eigennamen. Zwei weitere Nominatorenarten ─ deiktische Kennzeichnung und Indikator ─ werden im nächsten Schritt als Erweiterungen eingeführt:
Auf den Ruf "Diese Platte!" bringt B die Platte, auf die A zeigt. Auf den Ruf "Platte dorthin!" trägt er eine Platte an die Stelle, auf die A weist. (EPB S. 120)
Diese Passage bedarf einer genaueren Analyse. In bezug auf die erste Erweiterung stellt sich die Frage, warum nicht mit genau demselben Witz nur der Satz ’Dies!’ gebraucht wird. Man hätte dann ─ analog zum Eigennamen ─ eine Sprachspielcharakterisierung des Demonstrators, und es wäre zu überlegen, in welchen daran anschließenden Sprachspielen der aus dem Demonstrator und dem Prädikator ’Platte’ zusammengesetzte Satz ’Diese Platte!’ eine Rolle spielen könnte. In der von Wittgenstein vorgelegten Sprachspielbeschreibung ist jedenfalls kein Unterschied zwischen den beiden Sätzen zu erkennen. In bezug auf die zweite Erweiterung fällt auf, daß dasselbe gilt wie für ’Fünf Platten!’: Auch hier werden sowohl eine mögliche Bedeutung von ’Platte dorthin!’ als auch mögliche Bedeutungen von ’Platte’ und ’dorthin’ durch die Sprachspielbeschreibung dargestellt.
Weitere Möglichkeiten, die Bedeutung komplexer Sätze mit Hilfe des Sprachspielverfahrens darzustellen, zeigen WittgensteinsÜberlegungen zur Charakterisierung temporaler Ausdrücke. Eine Form der temporalen Erweiterung von Sprachspielen knüpft unmittelbar an Spiele wie das einfache Bauarbeitersprachspiel an:
Stellen wir uns vor, wie ein Kind zum Gebrauch der Sprachform der ’Erzählung vergangener Ereignisse’ abgerichtet werden könnte. Es hat gelernt, verschiedene Dinge mit Worten zu verlangen (also gleichsam Befehle zu geben wie in (1)). Ein Teil der Abrichtung war die Übung, Dinge zu benennen. Es hat so gelernt, ein Dutzend seiner Spielsachen zu benennen (und zu verlangen). Es hat nun etwa gerade mit dreien von ihnen gespielt (einem Ball, einem Würfel und einer Rodel); nun nimmt man sie ihm fort, und der Erwachsene sagt etwas wie "Er hat einen Ball, einen Würfel und eine Rodel gehabt". Dabei macht er etwa eine charakteristische Bewegung: er zählt die Dinge, wie wir sagen würden, an den Fingern her. Das Kind lernt, ihm den Satz nachsprechen und dabei auch die Bewegung des Herzählens an den Fingern zu machen. Bei einer ähnlichen Gelegenheit bricht der Erwachsene die Aufzählung ab und bewegt das Kind dazu, sie fortzusetzen. Bei einer weitern Gelegenheit fängt er den Satz nur an und macht die Handbewegung, mit der die Aufzählung immer beginnt, und läßt das Kind alle Dinge selbst nennen. Die Handbewegung des Herzählens soll hier eine Brücke bilden beim Übergang zu des Kindes selbständigem Aufzählen. Die Finger sollen das Kind weiterführen. Und der Lehrende wird dies versuchen durch Gebärden und den Gesichtsausdruck der Erwartung, ein Heben der Stimme, etc. Ob es zu der Einübung des Spiels kommt, hängt davon ab, ob das Kind auf diese Anregungen eingeht. (EPB S. 151f)
Eine andere Form des Sprachspiels ’die Erzählung vergangener Ereignisse’ beschreibt Wittgenstein folgendermaßen:
Wir leben in einem Talkessel mit einprägsamen Bergformen am Horizont. Es ist leicht, sich zu erinnern, an welchem Ort die Sonne in einer bestimmten Jahreszeit aufgeht, wo sie im Mittag steht und wo sie wieder hinter den Bergen verschwindet. Wir haben nun einige charakteristische Bilder unserer Landschaft mit der Sonne in verschiedenen Stellungen. Diese Bilder werde ich die ’Sonnenbilder’ nennen. Wir haben auch charakteristische Bilder verschiedener Tätigkeiten des Kindes: seines Aufstehens, seiner Spiele, das Kind beim Mittagmahl u.a.m. Diese werde ich die ’Bilder aus dem Leben’ nennen. Ich stelle mir vor, daß das Kind bei seinen verschiedenen Beschäftigungen oft die Sonne sehen kann; und wir lenken seine Aufmerksamkeit dabei oft auf die Stellungen der Sonne, ─ sie stehe über diesem Berg, diesem Baum, etc. Dann lassen wir das Kind ein Bild seiner Tätigkeiten anschauen und dazu Bilder der Sonne in den entsprechenden Stellungen. Wir können durch diese Bilder gleichsam erzählen, was das Kind den Tag über von morgens bis abends gemacht hat, indem wir eine Reihe der ’Bilder aus seinem Leben’ legen und darüber, in der richtigen Zuordnung, die Reihe der Sonnenbilder. Wir werden dann das Kind eine solche Bildergeschichte, die wir angefangen haben, ergänzen lassen. Oder wir werden absichtlich grobe Unrichtigkeiten legen und das Kind sie ausbessern lassen, etc. Dieses Sprachspiel kann man sich am besten von Worten begleitet vorstellen. (EPB S. 152f)
Für beide Sprachspiele ist charakteristisch, daß ihre Beherrschung die Teilnahmefähigkeit an anderen, einfacheren Sprachspielen voraussetzt. Im ersten Fall wird beispielsweise das Sprachspiel des Benennens der Spielzeuge vorausgesetzt. Die Erweiterung zu der sprachlichen Form ’Er hat einen Ball, einen Würfel und eine Rodel gehabt’ ist in diesem Fall allerdings etwas undifferenziert. Eine kleinschrittigere Vorgehensweise könnte darin bestehen, das neue Sprachspiel nur durch die Verwendung des Wortes ’gespielt’ anzuzeigen. Komplexe Sätze in diesem Sprachspiel wären dann etwa ’gespielt: Ball, Würfel, Rodel’ und ’gespielt: Rodel, Ball’. Es ist besonders interessant, daß diese komplexen Sätze nicht einfach ’Zusammensetzungen’ beziehungsweise ’Erweiterungen’ einfacher Sprachspiele sind. Die Funktion der Ausdrücke ’Ball’, ’Würfel’ und ’Rodel’ ist hier nämlich vom ursprünglichen Sprachspiel ’Verlangen der Spielzeuge’ verschieden. In ähnlicher Weise sind auch die ’Bilder aus dem Leben’ des darauffolgenden Sprachspiels in ihrer weiteren Verwendung und in ihrer Integrationsfähigkeit in neue Sprachspielzusammenhänge offen und unbestimmt.
Anhand der betrachteten Beispiele lassen sich für die beiden Fragestellungen dieses Abschnitts die folgenden Zwischenergebnisse formulieren:
1. Entgegen dem ersten Anschein können offensichtlich (fast) alle Wortsorten ─ also auch sogenannte synkategorematische Ausdrücke ─ als Einwortsätze eigene Rollen in einfachen Sprachspielen einnehmen.
2. Die Bedeutung von Sätzen, die aus mehreren Wörtern bestehen, läßt sich durch die Kombination mehrerer einfacher Sprachspiele beschreiben. Es muß dabei allerdings eigens untersucht werden, welche Transformationen in der Verwendung der Teilausdrücke sich durch derartige Kombinationen ergeben (können).
3. Sprachspiele und Textbedeutung
Nachdem die Ebenen der Wort- und der Satzbedeutung betrachtet worden sind, soll zum Schluß noch kurz auf das Problem der Textbedeutung beziehungsweise der Beschreibung möglicher Textbedeutungen mit Hilfe des Sprachspielverfahrens eingegangen werden. Zu diesem Punkt gibt Wittgenstein viel weniger Auskünfte als zu den anderen beiden. Außerdem gehören diese wenigen Auskünfte systematisch gesehen in andere Problemkontexte. Zwei Beispiele dafür sollen hier angeführt werden. Das erste stammt aus einer Diskussion der Frage, welche Rolle das psychische Erleben von Zeichenverwendern für die Bedeutung der verwendeten Zeichen spielt, und lautet:
Die Zusammenhänge, in denen ein Wort steht, sind am besten in einem Drama dargestellt zu finden, daher das beste Beispiel für einen Satz in einer bestimmten Bedeutung ein Zitat aus einem Drama ist. (Ms. 169 S. 10)
Beim zweiten Beispiel geht es eigentlich um die Bedeutung beziehungsweise Mehrdeutigkeit des Wortes ’verstehen’. Der Wortlaut der Passage ist:
Wenn ich lese: "nachdem er das gesagt hatte, verließ er sie wie am vorigen Tage" ─ fragt man mich, ob ich diesen Satz verstehe, so ist es nicht leicht, darauf zu antworten. Es ist ein deutscher Satz und insofern verstehe ich ihn: Ich wüßte, wie man diesen Satz etwa gebrauchen könnte. Ich könnte selbst einen Zusammenhang für ihn erfinden. Und doch verstehe ich ihn nicht in dem Sinne, wie ich ihn verstünde, wenn ich eine Erzählung gelesen hätte, in welcher er steht. (Ms. 114 S. 9 )
Beide Beispiele legen nahe, daß Textzusammenhänge den Bedeutungsspielraum ihrer Teilausdrücke, der wiederum durch Sprachspielbeschreibungen angedeutet werden kann, einschränken. Könnte es jedoch nicht auch genau umgekehrt aussehen? Lassen sich nicht auch für Texte unzählige Verwendungszusammenhänge, also Sprachspiele ersinnen, und sind nicht durch die vielen Teilsprachspiele, in die wiederum die Teilausdrücke von Texten eingelassen sein können, viel mehr Bedeutungen bei einem Text als bei einem Wort zu erwarten? Und ist dann nicht dadurch wiederum ein Text im allgemeinen in seiner Bedeutung unbestimmter als ein Wort oder ein Satz?
An dieser Stelle scheinen zwei Probleme zusammenzukommen, deren Lösungen nicht ohne weiteres voneinander zu trennen sind, für deren gemeinsame Lösung bisher jedoch die Heuristik fehlt: die Synthese von einfachen Sprachspielen zu komplizierteren und die Beschreibung von alltäglichen Sprachspielen in ihrer vielschichtigen Verwobenheit mit dem tatsächlichen Leben.
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