Setzungen: Wittgensteins Stil im Tractatus

Dieter Mersch

Abstract



Die Ungewöhnlichkeit des Stils, die Eigenwilligkeit der Anordnung der einzelnen
Sätze, der fast völlige Verzicht auf eine Argumentation in Wittgensteins Tractatus
sind oft bemerkt worden. Kaum jemals ist jedoch die innere Beziehung zwischen Stil
und der Sprachphilosophie Wittgensteins zum Thema gemacht worden. Die Analysen
beschränken sich vornehmlich auf die formale Organisation der Sätze, ihre
Strukturierung nach ihrem "logischen Gewicht"; gleichwohl stehen die einzelnen
Aussagen da wie Monolithen, geschöpft aus der Einsamkeit der Reflexion. Der Text
scheint, abgesehen von einigen Hinweisen und Andeutungen, ohne Bezug zur Tradition.
Er geriert sich - darin typisches Produkt der ästhetischen Moderne - mit der
kompromißlosen Geste eines radikalen Neubeginns. Das Verlangen nach einem "anderen
Anfang" der Philosophie spiegelt sich so vor allem in der Form. Doch erklärt dies
noch nicht die spezifische "Form" dieser Form, ihre einzigartige Gestalt, der fast
verfügende Tonfall und die gleichsam "ursprungslose" Schreibweise, die die Linearität
des Textes, seine fortlaufende Lesbarkeit sprengen und dem Leser nurmehr einzelne
Sentenzen oder Aphorismen darbieten. Der Tractatus unterbricht die gewöhnliche
Lektürepraxis, indem er deren Sukzession und damit auch ein kontinuierliches
Verstehen vereitelt - vergleichbar dem Verfahren der Montage. Der Text bedient sich
somit, wie man sagen könnte, einer besonderen performativen Technik. Keineswegs folgt
sein Aufbau, wie Wittgenstein nahelegte, einer logischen Konsequenz - die Textarbeit
innerhalb der Kriegsjahre belegt vielmehr, daß Wittgenstein immer wieder Passagen
umstellte oder neu ansetzte, daß er die Gewichte verlagerte und alternative
Numerierungen vornahm.

Keywords


philosophy; 20th century philosophy; Wittgenstein Ludwig; style; linearity; decimal numbering; saying vs showing; difference; silence

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